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Relativitätstheorie der Hygiene

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Hygienebeauftragte, Mikrobiologen und Umweltschützer würden darauf im Chor die Antwort geben: „Es kommt darauf an.“ Die Frage ist eindeutig ein Fall für eine spezielle Relativitätstheorie. Die ultimative Formel ist noch nicht gefunden. Aber wie bei Einstein sind Raum, Zeit und Betrachter die Schlüssel, um ihrer Essenz näherzukommen. Bei monströsem Unrat wie Atommüll oder Fässern mit Asbest oder Dioxin ist das Urteil noch einfach. Sie gehören zur Kategorie Schmutz der übelsten Sorte. Bei anderen Stoffen wird die Sache schnell schwammig.

Ob etwas wertvoll ist oder Abfall, ist eine Frage der Zeit, manchmal nur von Minuten. Das Essen im Sternerestaurant, das auf dem Teller übrig bleibt. Das Öl, das bei einem Unfall aus dem Tanker ins Meer oder aus der Pipeline durch einen Riss in den Boden leckt. Manchmal signalisieren Objekte selbst, in welche Kategorie sie gehören. Der im Kühlschrank vergessene Salatkopf und die vor Wochen angebrochene Sahne verraten durch Geruch und Farbe, dass sie zu essen keine gute Idee mehr wäre.

In der umgekehrten Situation ist der Schmutz von gestern der Schatz von morgen. Lange genug in der Erde, mutiert modriges Laub zu Erdgas. Uralte, aber seltene Knochen sind als Fossilien begehrt. Kohlenstaub lässt sich zu Diamanten pressen.

Auch der Raum entscheidet mit: Mist im Garten ist guter Dünger. Trägt man ihn mit den Schuhen ins Haus, sind seine Bestandteile so gefährlich oder ungefährlich wie die eigenen Ausscheidungen: im Klo und im Abfalleimer gut aufgehoben – auf einem Teppich, auf dem Babys krabbeln, und in der Nähe von Essgeschirr eher nicht.

Der Betrachter bringt seine eigenen Gewohnheiten, Vorlieben und genetischen Eigenheiten mit ins Spiel. Die Unterwäsche von gestern – gilt sie als fast noch frisch oder als unmöglich, sie noch ein zweites Mal zu tragen? Ist einmal Duschen pro Tag unverzichtbar oder reichen ein Bad pro Woche plus Katzenwäsche zwischendurch? Ist dreimal täglich Deo Pflicht oder verzichtet man ganz darauf, weil der Achselgeruch nicht so stark ist, dass er stört? Ist Hausputz einmal pro Woche oder pro Monat erforderlich? Benutzt man den Kaffeebecher vom Morgen nachmittags noch einmal? Ist es unhygienisch, am Weinglas der Freundin zu nippen? Oder an dem von Fremden? Ist Graffiti Street-Art oder Zeichen von Verslummung? Kann man Frühlingsduft in der Luft als Wonne genießen oder agiert er als Asthma-Auslöser?

Je kleiner die potenziellen Schmutzpartikel werden, desto schwieriger wird die Einordnung. Der Teil des Drecks, den man erst in starker Vergrößerung überhaupt zu Gesicht bekommt, ist das Terrain für Kenner. Zu den Zeiten der großen Bakteriologen wie Robert Koch und Louis Pasteur waren nur Keime bekannt, die mit den damaligen Mikroskopen zu erkennen waren und sich in Nährlösungen kultivieren ließen. Die Pioniere hatten die schlimmsten Krankheitserreger im Visier: die pathogenen, eindeutig „bösen“ Keime, die Pest, Cholera, Tuberkulose und Typhus verursachen (siehe Kapitel 6).

Mehr als ein Jahrhundert später ist klar, dass die Bakterienflora in unserem Organismus vor allem lebenswichtige Funktionen erfüllt. Viele Details sind noch rätselhaft, doch Wissenschaftler haben neue technische Möglichkeiten, das große Ganze besser zu verstehen. Sie untersuchen unser „Mikrobiom“, die Gesamtheit der Mikroorganismen, die in und auf dem Körper des Menschen leben. Es sind verdammt viele. Die oft genannte Zahl, dass der menschliche Körper zehnmal so viele Mikroorganismen wie Körperzellen enthält, ist zwar kürzlich nach unten korrigiert worden. Inzwischen liegt die Schätzung bei 39 Billionen Bakterien, was in etwa der Menge der körpereigenen Zellen entspricht. Bleibt die Frage: Welche dieser Partikel kann man als „Schmutz“ bezeichnen? Auch hier mischt sich die Relativitätstheorie ein, das Urteil ist abhängig von Raum und Zeit. Die Gefühle des Betrachters für Bakterien, die segensreich für seine Verdauung sorgen, ändern sich, sobald sie auf dem WC ihre Exit-Strategie vollziehen. Es sei denn, der Betrachter ist Mikrobiologe.

Das Reich der Kleinstwesen ist trotz umfangreicher Forschung noch immer ein Mysterium: unsichtbar, unheimlich, angstbesetzt, verwirrend. Mikroben verhalten sich nicht wie Wesen in der für uns sichtbaren Welt. Sie vermehren sich rasend schnell, gehen ebenso schnell wieder ein, tauschen munter ihre Gene aus und sind in ständiger Interaktion miteinander. Auch diejenigen, die wir nicht im eigenen Körper tragen, sondern in der Umwelt treffen, beeinflussen uns. Und für deren Zahl reicht die Vorstellungskraft unserer 86 Milliarden Gehirnzellen nicht mehr aus. Jedes Gramm Erde enthält nach aktuellen Schätzungen mehr Mikroorganismen, als Menschen auf unserem Planeten leben. All das zu wissen, ist eine Kränkung für unseren Verstand und fordert Trotz heraus. Kein Wunder, dass das neue Wissen aus dem Biologielehrbuch weniger Fans hat als die einfache Lehre der Putzmittelwerbung: Keime sind Feinde, weg mit ihnen!

Stand der Forschung wäre, zu akzeptieren, dass Gut und Böse im Reich der Mikroorganismen eng beieinander liegen. Mikroben, die bei Gesunden ohne irgendwelche Probleme in der Nase siedeln, können dieselben Menschen das Leben kosten, wenn sie immungeschwächt sind und keine Arznei bekommen. Mikroorganismen aus derselben Familie können heilende und krank machende Wirkung haben. Von Darmbakterienaktivität rührender Gestank in der Kloschüssel gilt als ekelhaft – igitt! Aber viele „probiotische“ Keime sind ebenfalls Darmbakterien. Und wir bezahlen dafür, sie im Joghurt zu löffeln – wie gesund! Beim Schimmelpilzpelz über fauligem Obst heißt die korrekte Assoziation: Vorsicht, Giftgefahr! Bei den Pilzkulturen, die Roquefort schmackhaft machen, seufzen Gourmets wohlig: Lecker! Und zum Schluss lässt sich der Schimmel als medizinischer Glücksfall charakterisieren: Das Penicillin aus Schimmelpilzkulturen ist ein Gift, aber ein gutes, lebensrettendes Gift.

Sind wir noch ganz sauber?

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