Читать книгу Sind wir noch ganz sauber? - Hanne Tügel - Страница 6

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Liebe Leserinnen und Leser,

wir sollten über Schmutz reden. In den Schlagzeilen meldet er sich zur Zeit ziemlich häufig und sendet SOS-Signale aus ganz verschiedenen Richtungen. Er zeigt sich als Müllstrudel aus großen und winzigen Plastikteilen im Meer. Er hängt als drohende Feinstaub- und Dieselabgaswolke über den Städten; eine Wolke, die sich von Automobilmanagern auch mit Voodoomethoden illegaler Software nicht weghexen lässt. Er meldet sich als Trinkwassergefahr, weil zu viel Düngemittel und Gülle aus der Landwirtschaft ins Grundwasser sickern. Er präsentiert sich in Badeseen in Form gefährlicher Bakterien, gegen die Antibiotika kaum noch etwas ausrichten können.

Etwas läuft schrecklich schief bei unserem Umgang mit Schmutz. Die Alarmrufe kommen nicht nur aus armen Ländern, die sich Sauberkeit nicht leisten können oder wollen. Sie stammen auch aus Deutschland und anderen Industrieländern, die stolz auf ihre Umweltbemühungen sind. Aus Staaten, deren Bürger viel Geld ausgeben für eine geordnete Müll- und Abwasserbehandlung. Aus Regionen, deren Bewohner sorgfältig und geradezu leidenschaftlich ihren Abfall trennen, die Kehrwoche beachten und ohne Murren Pfand auf Einwegflaschen zahlen.

Sind wir noch ganz sauber? Wenn ja, wie kann es sein, dass wir uns im privaten Bereich ausgiebig mit Körperpflege, Waschen und Putzen beschäftigen und zugleich Luft, Wasser und Böden zum gigantischen Müllabladeplatz verkommen lassen? Wie können Politiker und Manager den Begriff Nachhaltigkeit seit Jahrzehnten wie ein Mantra im Munde führen und dabei ungerührt mitansehen, dass die Erde zum Plastikplaneten wird? Wie können wir als Verbraucher glauben, dass sich die 2,8 Milliarden (!) Coffee-to-go-Einwegbecher, die im Jahr allein in unserem Land eingeschenkt werden, irgendwie problemlos in Luft auflösen? Wie sind durch sorglosen Umgang mit Antibiotika mörderische Bakterien entstanden, die unvorhersehbare Gesundheitsrisiken ausgelöst haben? Und vor allem: Wie können wir uns aus der Sackgasse herausmanövrieren, in der wir gelandet sind?

Ich habe mich als Autorin und Redakteurin bei GEO sehr lange mit Themen an den Schnittpunkten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Philosophie beschäftigt, mit Artenvielfalt, Gentechnik, Umweltproblemen und Klimaschutz, mit Kreativität, Trauer und Weisheit, mit den Grenzen des Wachstums und Modellen für ein gutes Leben. So vielfältig die Themen sind, sie umkreisen alle einen faszinierenden Kern: das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Welche Haltung nehmen wir zur Welt ein, in die wir hineingeboren werden? Sehen wir sie eher als Garten oder als Baustelle? Empfinden wir uns als Teil der Natur und akzeptieren die Grenzen, die sie uns setzt, oder wollen wir diese Grenzen so schnell wie möglich hinter uns lassen?

Das Thema Schmutz bietet da unbequeme Lehren. Wenn wir die Welt als Baustelle sehen, in der wir mit Hochgeschwindigkeit Fortschritt organisieren, dann gleicht sie zur Zeit der von Stuttgart 21 und dem Berliner Flughafen. Die Abfälle von bald 7,7 Milliarden Menschen überfordern die Belastungspuffer von Luft, Gewässern und Böden. Um gegenzusteuern, wird es nicht reichen, Wattestäbchen und Plastikstrohhalme zu verbieten. Eine Wirtschaftsweise, die von Jahr zu Jahr mehr Waren ausstößt, ohne ein Konzept zu haben, was nach Gebrauch passiert, begeht Harakiri.

In einer Sackgasse zu landen, hat einen Vorteil. Man merkt, dass man umkehren und noch einmal neu nachdenken muss. Dieses Buch will Denkanstöße geben. Es beschreibt die Kunst klugen Putzens, die schon Tiere und Pflanzen beherrschen müssen, um zu überleben. Es stellt die erstaunlichen Erfindungen der Evolution vor, die in der Natur ganz ohne Seife und Müllverbrennungsanlagen für Sauberkeit sorgen – und deren Kreislauf- und Recyclingwirtschaft ein Vorbild für die Zukunft sein könnte. Es fragt, wie es zu unserer menschengemachten Ex-und-Hopp-Kultur gekommen ist, deren Waren sich bei und nach Gebrauch an uns rächen. Es schildert die Suche nach Auswegen und Alternativen. Davon gibt es jede Menge, aber sie erfordern eine grundsätzliche Neuorientierung. Denn sehr viele Chemikalien der modernen Wirtschaftswelt sind nicht auf natürlichem Weg abbaubar. Mit ihren SOS-Signalen zeigt die Umwelt uns heute Grenzen.

Offenbar haben wir das Gefühl für das rechte Maß verloren. Und das fängt im eigenen Badezimmer und in der eigenen Küche an, im Reich der Anti-Fett-Formeln, Anti-Geruch-Formeln, Anti-Rost-Formeln, Anti-Staub-Formeln, Anti-Kalk- und Anti-Kalk-Plus-Formeln. Bei meinen Gesprächen mit Sachkundigen aus Wissenschaft und Praxis ging es immer wieder um die Frage, wie eine gute Balance von Schmutzen und Putzen aussehen kann. Eine simple Antwort war: Abrüsten bei Körperpflege-, Wasch- und Putzmitteln! Wir verwenden weit mehr und weit aggressivere Mittel als es uns selbst und unserer Umwelt guttut. Aber Hygiene bedeutet eben nicht keimfreie Ultrareinheit, sondern vor allem das Bewahren und das Fördern von Gesundheit.

Sauberkeit und Gesundheit als umfassendes und gemeinsames Ziel zu betrachten, erweitert den Horizont. Es führt zum Thema, wie erstaunlich gut der menschliche Körper von Natur aus gerüstet ist, um mit Schmutz fertig zu werden und gesund zu bleiben. Dafür sorgt das Immunsystem als eine Art Putztruppe im eigenen Leib. Es befreit uns in der Regel rund um die Uhr von Schadstoffen und Krankheitserregern, ohne dass unser Gehirn die ständigen Risiken überhaupt wahrnimmt, die den Organismus bedrohen. Erfolgreich klappt das aber nur, wenn das Immunsystem früh mit Schmutz konfrontiert war, um sich zu trainieren. Wo das in der heutigen Gesellschaft nicht mehr der Fall ist, nehmen neuartige Epidemien wie Allergien und Asthma zu. Zu den aktuell spannendsten Forschungsprojekten gehören solche, die mit Schmutzbakterien als Arznei Hoffnung auf Heilung suchen: Wie können Keime aus dem Kuhstall vor Allergien und Asthma schützen?

Bakterien gehören zu den unheimlichsten Akteuren der Schmutzdebatte. Sie sind unsichtbar, mitunter hochgefährlich, aber in den meisten Fällen harmlos oder sogar segensreich. Durch Fortschritte in der Mikroskopie und DNA-Analyse geraten sie ins Rampenlicht und werden zu Stars eines ganz neuen Forschungsfelds: Wie beeinflusst das menschliche Mikrobiom die Gesundheit, also die Gesamtheit der etwa 39 Billionen bakteriellen Mitbewohner, die in und auf unserem Körper siedeln? Gleichzeitig steht die Medizin vor neuen Problemen: Wie lassen sich jene neuartigen mörderischen Bakterien in Schach halten, die resistent gegen Antibiotika sind?

Bakterien, Feinstaub, Mikroplastik, Müll – Schmutz hat viele Facetten. Ich verspreche, sie sind faszinierend. Das Gute dabei: Die SOS-Signale der Umwelt haben Menschen weltweit in Bewegung gebracht. Sie reden über Schmutz und sie handeln: die Müllverweigerinnen im indischen Alappuzha und die Anti-Plastik-Streiter in Ruanda und Kenia, Ploggerinnen und Plastikfischer, Feinstaubkläger und EU-Juristen, Citizen-Science-Luftmessgruppen, Transition-Town-Initiativen, Mehrwegbecherheldinnen, Humusrevolutionäre, Verpackungsverweigerer, Pioniere der Kreislaufwirtschaft …

Trotzdem bleibt die Botschaft des Buches eine Kränkung: Die Natur schmutzt, der Mensch schmutzt und die Dinge schmutzen. Das Ringen um Hygiene ist nie zu Ende, der Kampf ist einseitig, am Ende gewinnt immer der Schmutz. Aber wenn wir uns als Individuen klug verhalten, können wir viel dafür tun, mit wenig Putzchemie gesund zu bleiben. Und wenn wir uns als Gesellschaft klug verhalten, können wir einiges dafür tun, den Planeten zu bewahren, der uns am Leben hält.

Ich habe für dieses Buch mit vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gesprochen, aber ich wollte auch Praktiker kennenlernen, die mit Schmutz hautnah und sehr oft zu tun haben. Die Schicht mit einem Team der Hamburger Straßenreinigung gehört zu den beeindruckendsten Erlebnissen der Recherche. Man sieht seine Stadt mit anderen Augen, wenn man um halb sechs im Straßenlampenlicht die Dreckreste des Vortags in schwarzgraue Säcke schaufelt.


Die Autorin als mithelfender Gast beim Straßenreinigungs-Team

Sind wir noch ganz sauber?

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