Читать книгу Sind wir noch ganz sauber? - Hanne Tügel - Страница 7
1 STAUB, SCHMUTZ, BAKTERIEN – WIE GEFÄHRLICH SIND UNSERE LEBENSLANGEN BEGLEITER?
ОглавлениеSichtbarer und unsichtbarer Schmutz gehört von Beginn an zum Leben. Stäube, Abgase und Bakterien sind allgegenwärtig. Brauchbares verwandelt sich in Abfall. Aber statt Alarmismus ist Respekt geboten. Wichtig ist zu verstehen, wo und wann welcher Schmutz warum gefährlich ist. Und wie wir die Gefahren vermindern und verhindern können. Inspiration gibt eine antike Göttin: Hygieia, zuständig für Sauberkeit und Gesunderhaltung.
Alles fängt mit Staub an.
Es gibt diese Momente kurz nach dem Aufwachen. Ein Sonnenstrahl fällt durch den Vorhangschlitz. Vor den schläfrigen Augen tanzen Staubpartikel. Von der Laune einer Lichtreflexion beleuchtet, schweben sie durch den Raum, ohne sich von Schwerkraft stören zu lassen. Zu sehen sind Luftbewohner von unterschiedlicher Gestalt, winzige Individuen. Viele. Sehr viele. Zu viele, meldet sich das Hausfrauengewissen. Aber vom Bett aus beobachtet und bewundert man das Schauspiel wie ein Kunstwerk. Stilles Staunen. Noch kein Gedanke daran, was der neue Staubsauger mit Triple-Particle-Cleaning-System und Pet-Power-Bürste in dieser Situation anstellen möchte. Staub kann schön sein.
Dafür, wie er in die Welt kam, gibt es zwei Theorien, eine religiöse und eine weltliche. Beide voller Dramatik und mit weitreichenden Folgen.
Am Anfang, sagt die Bibel, schuf Gott Himmel und Erde. Und als eine Art Ur-Schmutz den Staub. Auch er ist gleich in der Schöpfungsgeschichte präsent, direkt nach dem Sündenfall. Die Schlange, die den Plot mit Eva und dem Apfel ausgeheckt hat, lernt ihn als drastische Strafe kennen: „Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Staub fressen dein Leben lang.“ Klar wird, dass Gott Staub nicht mag. Vielleicht war er ein unbeabsichtigter Nebeneffekt der Erderschaffung. Nun, da er existiert, setzt Gott ihn als Schikane ein. Adam bekommt Gottes Zorn als Nächster zu spüren, wird zu Mühsal beim Lebenserwerb verdammt und erfährt: „Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.“ Und Eva? Ihre Nachfahrinnen sind über die nächsten abertausend Generationen für die Beseitigung des immerwährenden Staubanfalls zwischendurch zuständig. Das scheint so selbstverständlich, dass die Heilige Schrift es gar nicht erwähnt.
Adieu, die Aussicht auf ewiges Leben und staubfreie Zustände. Wie hätte es ausgesehen im Garten Eden, wenn die Schlange den entscheidenden Moment verschlafen oder Gott mehr Nachsicht gehabt hätte? Hätten Engel als himmlische Putzkolonnen Erfindungen wie Mikrofasertücher und Staubsauger überflüssig gemacht? Oder wären Staub- und Schmutzpartikel für immer im Boden geblieben, statt munter zwischen Himmel und Erde umherzuwirbeln und Grenzwerte für Feinstaub mit Partikelgrößen über und unter 2,5 Mikrometer nötig zu machen? Dazu schweigt die Bibel.
Die wissenschaftliche Lesart ist konkreter. In ihr spielt Staub für das irdische Leben eine genauso entscheidende, aber viel positivere Rolle. Schuld ist der Urknall, der vor geschätzten 13,8 Milliarden Jahren dafür gesorgt hat, dass sich Energie von unendlicher Dichte in Raum, Zeit und Materie verwandelte. Das Universum wird geboren. Der Prozess bringt einige Milliarden Jahre später auch Sonne und Erde hervor. Unser Sonnensystem und seine Planeten entstehen infolge gewaltiger Gas- und Staubexplosionen als Produkt von Sternenstaub und unvorstellbarer Hitze. Astronomen finden dafür fast biblische Formulierungen: „Nachdem die Sonne … gezündet war, verklebte der übrig gebliebene Staub um sie herum, sodass immer größere Gesteinsbrocken und schließlich die Vorläufer der Gesteinsplaneten entstanden.“ Irgendwann auch die Erde.
Laut Evolutionslehre liegen zwischen dieser Staubgeburt, dem ersten Leben auf dem Planeten und der Ankunft des Menschen etliche Zwischenstationen. Die haben der Erde nicht nur 118 chemische Elemente von Actinium und Aluminium bis Zinn und Zirconium beschert. Durch erstaunliche, bis heute nicht völlig geklärte chemische Reaktionen entstanden organische Verbindungen und schließlich lebende Zellen, die sich vermehren konnten. Erst im Wasser, dann an Land. Zunächst und vor allem Kleinzeug. Einzeller. Bakterien. Algen. Irgendwann komplexe Kreaturen wie Dinosaurier, Mammuts, Affen und Menschen.
Alles fängt mit Staub an. Mit zermalmter Materie, die sich mal auflöst, mal wieder zusammenklumpt, lebendig wird, wieder abstirbt und zerbröselt.
Mehr Achtung und Beachtung scheinen angebracht. Der Staub hat unsere Welt geformt. Und er wird bis in alle Ewigkeit in Myriaden kleinster Partikel weiter wirbeln. In den Weiten des Alls schwebt er in interstellaren Wolken. In den Schlafzimmern der Menschen tanzt er durch Vorhangschlitze ins Licht. Allgegenwärtig auf jedem Kontinent. Klumpt zusammen, sammelt sich in tückisch schwer erreichbaren Ecken, erinnert daran, dass nach dem Aufstehen der Hausputz fällig ist.
So betrachtet ist Staub der Ur-Schmutz, aber er ist auch unser Ur-Ahn, unser entfernter Verwandter. Ohne ihn gäbe es uns nicht. Er begleitet uns von Anfang bis Ende. Wir haben gelernt, ihn zu bändigen mit unseren Erfindungen vom Staubwedel bis zur Pet-Power-Bürste, aber wir werden ihn nie ganz los. Es ist klug, sich mit ihm zu arrangieren. Und zwischen Scheuern und Wischen und Saugen darf man staunen über die Schöpfung, den Urknall, das Leben, die Sauberkeit und den Schmutz. Die modernsten Schmutzvarianten hat der Mensch selbst in die Welt gebracht. Nun sammeln sie sich an zwischen Himmel und Erde, als Weltraumschrott im All und als Mikroplastik im Meer.