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Pieksauber mitten im Dreck – der Lotoseffekt
ОглавлениеDie vielleicht verblüffendsten Effekte von „Natur-Reinheit“ bringen Pflanzen zustande. Sie stehen in der Landschaft herum, umhüllt von all den Schadstoffen in der Luft, die dann beim nächsten Wolkenbruch auch noch mit den Regentropfen auf ihr Laub prasseln. Sie können nicht fliehen, wenn Bakterien, Schimmel und Läuse es auf sie abgesehen haben. Sie haben keine Arme, Schnäbel, Krallen, Zungen, um Parasiten loszuwerden. Wer oder was hält die Blüten und Blätter von Rosen und Gänseblümchen, Eichen und Apfelbäumen sauber?
Man kennt inzwischen vielfältige biochemische Kommunikationskanäle zwischen Pflanzen und ihrer Umgebung, die vor Parasiten und Krankheiten schützen. Und dann gibt es noch den Lotoseffekt, Schmutzabwehr durch Oberflächendesign. Die Lotospflanze wächst im Schlamm und wird in China als Symbol der Reinheit verehrt. Zu Recht. Die großen grünen, leicht gewellten Blätter lassen sich von Sumpf und Moder nicht beeindrucken. Sie scheinen nicht nass zu werden. Wasser samt Schmutz bildet ein paar Perlen auf der Oberfläche und rollt dann ab. Warum? Die Lösung des Rätsels fand ein deutscher Botaniker.
Je glatter eine Oberfläche, desto besser ist sie zu reinigen – so dachte man, bis Wilhelm Barthlott Lotosblätter in seinem Rasterelektronenmikroskop betrachtete. Dort zeigte sich die Blattoberfläche nicht glatt, sondern als Täler-Noppen-Gebilde. Die Noppen sind winzige Wachspapillen, deren Form und raffinierte Anordnung für die Fähigkeit des Blattes sorgt, Schmutz abzuweisen. Staubteilchen oder Pilzsporen finden zwischen Mikroberg und Mikrotal keinen Platz und liegen nur lose auf. Auch Wasser kann nicht in die Täler eindringen. Stattdessen formt es sich über dem Papillengebirge zur Kugel und nimmt die Schmutzpartikel auf. Fremdkörper wehrt der Lotos auf diese Weise automatisch und rein mechanisch ab; nicht einmal ein klebriger Honigtropfen kann sich halten. Den Effekt haben Biologen, nachdem sie ihn erkannt hatten, auch an vielen anderen Blättern nachgewiesen, zum Beispiel bei Kohl und Tulpen. Und im Tierreich findet man ihn an Libellen- und Schmetterlingsflügeln.
Mühe- und kostenlos reinigen wie der Lotos? Ein Traum der Hausfrau und ein Albtraum der Putzmittelhersteller. Tatsächlich hat Wilhelm Barthlotts Entdeckung Materialforscher inspiriert. In den 1990er-Jahren hat die Industrie angefangen, Oberflächen und Beschichtungen zu entwickeln, die Lotos & Co. nachahmen. Hersteller von Küchenschränken, Glasfassaden, Dachziegeln, Solarmodulen werben inzwischen regelmäßig mit der selbstreinigenden Kraft.