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Le grand docteur

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Schweitzers Bücher und Appelle sind in viele, viele Sprachen übersetzt worden. Seinen Ruf vernahm man überall, nur die intellektuellen Afrikaner hörten ihn nicht. überraschend wenige Afrikaner außerhalb von Gabon kennen sein Werk. Die wenigen, mit denen man darüber sprechen kann, bemängeln, daß Albert Schweitzer den Schwarzen „nur“ hilft, anstatt sie zu erziehen, zu belehren oder zu schulen.

Aber der einsamen Pioniertat dieses großen Mannes kann Afrika nur gerecht werden, wenn es nicht vergißt, daß Schweitzer als Arzt zu ihm kam, nicht als Missionar. Im Gegensatz zu den Missionen hatte er sich nicht die Erziehung und Ausbildung der Afrikaner zur Aufgabe gesetzt, sondern lediglich die Heilung ihrer Kranken.

Lediglich? Man darf heute nicht verkennen, wie groß und schwer allein diese Aufgabe in den Anfängen war, in einer Zeit, da Afrika noch der unerforschte, von Krankheiten verseuchte Kontinent war, der dringend medizinischer Hilfe bedurfte und opferbereiter, selbstloser Menschen.

Am nächsten Morgen machte ich eine staunenswerte Beobachtung. Albert Schweitzer beaufsichtigte eine Arbeit, die kaum in den medizinischen Bereich gehört: er ließ einen seiner Einbäume aus dem Wasser ziehen und an Land schleppen. Auf Holzrollen und unter viel Lärm und Geschrei der Schwarzen zogen und schoben Afrikaner wie Europäer das Boot umständlich und unter großem Zeitaufwand aufs Trockene. Schweitzer gab nicht nur Anweisungen – er faßte auch tüchtig selbst mit an.

Als eine Entenmutter mit ihren drei Tage alten Jungen vorbeiwatschelte, schrie er warnend auf französisch: „Achtung, stop, alle Mann aufpassen!“ und breitete schützend seine Hände über den Tieren aus.

Den Schwarzen machte das Ganze einen Heidenspaß, sie kicherten in allen Tönen, alberten und schrien herum, so daß Schweitzer schließlich eine Arbeitsschürze nehmen und sie mit leichtem Klaps wieder anspornen mußte.

Ich war enttäuscht! In ganz Afrika würde kaum ein Weißer für eine solche Arbeit auch nur eine Minute verschwenden, geschweige denn eine Stunde. Albert Schweitzer aber, eine der berühmtesten Persönlichkeiten unserer Zeit, überwacht mit Argusaugen eine Arbeit, die weder schwierig noch wichtig ist. Drei Weiße helfen ihm eine Piroge aus dem Wasser ziehen. Und eine ganze Schar Schwarzer spielt mit – eines jener Dinge (es gibt deren mehrere in Lambarene), bei denen man sich entscheiden muß, ob man verstehen kann oder ablehnt.

Später erklärte mir Schweitzer, er vertrete auf Grund seiner jahrelangen Erfahrung die Ansicht, es sei am ökonomischsten, wenn er sämtliche Arbeiten selbst kontrolliere und überwache. Und das tut er auch heute noch, trotz seiner bald 90 Jahre. Tatsächlich werden nahezu sämtliche Arbeiten im Spitaldorf von Schweitzer selbst angeordnet, beaufsichtigt und zum Teil selbst ausgeführt. Er ist Tropenarzt, Tierarzt, Zahnarzt, Apotheker, ja, Architekt – entwarf er doch selbst die Pläne für sein Haus in Günsbach, das er vom Goethepreis, den er 1928 erhielt, finanzierte. Er ist Bootsbauer, Maurer, Tischler, Dachdecker, Farmer und Gärtner. Alle handwerklichen Fertigkeiten hat er autodidaktisch erlernt, durch übung und Erfahrung. Arbeit ist Schweitzers Lebenselement. Man spürt, daß bei ihm weder Geist noch Körper jemals Zeit hatten, einzurosten. Nur seinem stets wachen, alles ordnenden und überschauenden Intellekt hat er es zu verdanken, daß sein Arbeitspensum nicht zur Last wird, die ihn erdrückt.

Bei Tisch saß ich dem „Großen Doktor“ gegenüber. „Sagen’s ruhig Herr Schweitzer zu mir, das tut hier jeder!“ bot er mir an. Wir sprachen über Segler und Expeditionen, über Philosophie – Schweitzers Ansicht nach haben die Stoiker und Hegel sein Denken am meisten beeinflußt – und Psychologie: „Ich bin niemals ein guter Psychologe gewesen und habe mir auch niemals Mühe gegeben, einer zu werden. Das liegt mir nicht“, sagte er.

Das Essen war für meine Begriffe reichhaltig und gesund. Es gab Gemüse aus dem eigenen Garten, sowie Obst von der eigenen großen Plantage, darunter ein Mus aus dem Zytheraapfel, das sich in seinem Geschmack kaum von unserem Apfelmus unterschied.

Am zweiten Abend hielt ich einen Lichtbildervortrag über meine beiden ersten Fahrten. Zu diesem Zweck ließ Schweitzer extra die Lichtmaschine anstellen – sonst arbeitet alles bei Petroleumlampen. Schweitzer schien jedem Wort zu lauschen, mehrmals gab er Erläuterungen, die sein umfassendes Wissen verrieten. Zum Schluß drückte er mir die Hand: „Sie müssen unbedingt wiederkommen und dann mehr Zeit mitbringen!“

Diese Einladung des Mannes, den ich als eine der größten Persönlichkeiten unserer Zeit verehre, freute und ehrte mich vor allem deshalb besonders, weil ich weiß, daß Schweitzer jegliche Publizität verabscheut und darum auch den steten Strom von Besuchern, Gästen und Touristen in sein Reich nicht sonderlich liebt.

Einige Male nahm Schweitzer mich mit in sein Arbeitszimmer. Es ist überladen mit Büchern, Zeitschriften, Artikeln – alles deutet darauf hin, daß hier rastlos gearbeitet wird. Spartanische Einfachheit überall! Aus dem Nachbarraum kam Schwester Mathilde Kottmann, Schweitzers engste und vertrauteste Mitarbeiterin, und verband ihm ein Tropengeschwür am Bein, das er schon jahrelang mit sich herumschleppt, ohne sich dadurch jemals von der Arbeit abhalten zu lassen. Wenn es ihm so zu schaffen macht, daß er nicht mehr laufen kann, läßt er sich zu seinen Patienten tragen.

Inzwischen hatte Schweitzer in einer Zeitung die neuesten Nachrichten überflogen, und wir kamen ins Gespräch über die politische Weltlage. Freimütig und impulsiv sagte er seine Meinung. Distanz und ein überlegener, scharfer Blick lassen ihn große Zusammenhänge klar erkennen.

Die Zukunft Afrikas? „Afrikaner sind nur in persönlichen Dingen – einzelnen gegenüber – dankbar, Nationen gegenüber hingegen niemals. Frankreich wird keinen Dank ernten. Deutschland kann von Glück sagen, daß es keine Kolonien mehr hat. Es wird zu Spannungen zwischen den afrikanischen Ländern kommen, da nahezu alle Grenzen in Afrika künstlich angelegt und nicht natürlich gewachsen sind.“

Während Schwester Mathilde das Bein verband und Schweitzer in die neuesten Berichte schaute, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Zwei schlichte Kreuze stehen im hohen Gras vor Schweitzers Arbeitszimmer: sie sind dem Gedenken seiner Frau und seiner treuen Mitarbeiterin Emma Haußknecht gewidmet. Schweift der Blick weiter, so stößt er schließlich auf den Ogowefluß, der im Schatten hoher Mangobäume seine gelben Gewässer träge vor sich her schiebt.

Schweitzer schenkte mir Schriften, alte Karten und Fotografien, die er alle in sorgsamer, sauberer Schrift mit Widmungen versah. Dann schrieb er mir ein paar Zeilen ins Bordbuch; als er feststellte, daß für jeden Eintrag eine ganze Seite zur Verfügung stand, mahnte er: „Mein Lieber, das ist Verschwendung! Ich könnte mir das nicht leisten!“

Von Schweitzers vielen Mitarbeitern aller Nationalitäten und Rassen lernte ich zwei näher kennen: Professor Dr. Mai, den Leiter der Universitätskinderklinik in Münster und Dekan der medizinischen Fakultät, der nach Lambarene gekommen war, um während der Semesterferien seine Zeit und Kraft in den Dienst einer guten Sache zu stellen. Und dann Olga Deterding, die Tochter des Shellkönigs. Olga hat trotz ihrer Bildung, ihrer Erziehung und ihres Reichtums etwas von der Schlichtheit eines holländischen Landmädchens an sich. Als der alte Sir Henri Deterding starb, hinterließ er Olga zwar einige Millionen Dollar, aber kein Heim, in dem sie Ruhe und Glück fand. Sie reiste unstet von einem Ort zum andern, tauchte bald in Hongkong, bald in Honolulu auf; in New York kannte sie sich ebenso gut aus wie in Monte Carlo. Wohin sie kam, hefteten sich Verehrer an ihre Fersen.

Enttäuscht flog sie mit einer Freundin nach Ostafrika; in Nairobi erlitt sie einen Zusammenbruch. In der Klinik fiel ihr – so heißt es – ein Buch über Albert Schweitzer in die Hände, das sie in Begeisterung versetzte.

Eines Tages tauchte sie in Lambarene auf; sie hoffte, endlich eine Aufgabe zu finden. Da sie den Schwesternberuf nicht erlernt hatte, arbeitete sie als einfache Hausangestellte und fügte sich, allen stillen Bedenken ihrer Umgebung zum Trotz, ausgezeichnet in die große Gemeinschaft der Helfenden in Lambarene ein.

Obwohl Olga noch einmal für ein Jahr nach Paris zurückging – wohl um sich zu vergewissern, daß sie dem Großstadtleben keinen Geschmack mehr abgewinnen konnte –, kehrte sie später wieder in das Urwaldhospital zurück. Zeitweise hat sie dem englischen Quäkerarzt Francis Catchpool assistiert, der während meines Besuches in Lambarene gerade in Europa weilte und von dem man sagt, er sei der einzige, der einmal Schweitzers Nachfolge antreten könnte. Es ist aber nicht anzunehmen, daß Olga in Lambarene eine Lebensaufgabe finden wird, wie die Schwestern Mathilde Kottmann, Ali Silver, Maria Lagendijk oder Tony van der Leer – dafür ist sie zu selbständig.

Schweitzers weiße Mitarbeiter sind vorwiegend Frauen, Krankenschwestern aus Holland, Elsaß-Lothringen, der Schweiz und aus Deutschland. Lambarene wird dominiert von der Persönlichkeit Albert Schweitzers – dann aber kommen die Frauen. Man hat den Eindruck, daß sie dort regieren. Das ist ein Eindruck, der weder Positives noch Negatives aussagt. Auch bei Schweitzers großem Schriftverkehr sind ihm Schwestern behilflich. Mathilde Kottmanns Schrift ist Schweitzers Handschrift auffallend ähnlich. Hat sie sie unwillkürlich der seinen angepaßt, oder schrieb sie schon vorher so?

Die männlichen Mitarbeiter wechseln häufiger. Als ich Lambarene besuchte, traf ich dort einen österreichischen, einen israelischen, einen japanischen und einen koreanischen Arzt. Dann Hilfskräfte, die auf der Durchfahrt waren und einige Monate bleiben wollten: Holländer, Schweizer, Deutsche, Amerikaner.

Meine Stunden in Lambarene waren gezählt, in Port Gentil wartete ein Boot. So schwer es mir fiel, ich mußte weiter. Während der Lotse mein Gepäck in den Einbaum brachte, kreisten meine Gedanken um die Frage: was wird aus Lambarene, wenn …? Schweitzer hat noch keinen Nachfolger bestimmt. Wer auch immer einmal seinen Platz ausfüllen wird, er vermag es nur als Mediziner – den Menschen Smweitzer, den Philosophen, den Theologen, den Bachforscher und Organisten kann keiner jemals ersetzen.

Lambarene war nichts ohne Albert Smweitzer, und es wird vielleimt nichts als eine historische Gedenkstätte sein, wenn der große Alte einmal nicht mehr ist.

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