Читать книгу Schloss Frydenholm - Hans Scherfig - Страница 10
7
ОглавлениеEs gab sehr viel Obst in diesem Jahr. Die Äpfel waren groß und blank und dufteten. Die Gärten strotzten geradezu. Die Porrees der alten Emma waren trotz des Zerstörungswerkes des gräflichen Traktors dicker geworden als je zuvor. Die Kürbisse des Gärtners schwollen zu unwahrscheinlicher Größe an. Es gab von allem mehr, als man gebrauchen konnte.
Höschen-Marius’ Frau hatte so viel eingeweckt, daß sie einer Belagerung ohne Furcht entgegensehen konnte. „Mein Mann liebt Eingewecktes so sehr“, erklärte sie. „Für ihn gibt es nichts Schöneres als Zwetschgen. Aber auch Vogelbeergelee und Hagebuttenmarmelade sind etwas Herrliches. Und eingeweckte Birnen sind doch der beste Nachtisch, wenn einmal unerwartet Gäste kommen.“
Es kamen selten Gäste zu Höschen-Marius.
Der Sommer dauerte an. Weit in den September hinein hielt das Sommerwetter an. Auch die Abende und Nächte blieben mild. Es war herrlich, auf der Welt zu sein. Und da waren so viele, die in diesen Jahr sterben sollten. Viele junge Menschen, die noch nicht gelebt hatten. Und das Leben war so gut, und die Welt war so schön.
Nichts war überraschend gekommen. Was nun in der Welt geschah, hatten alle erwartet. Der Krieg war lange unterwegs gewesen. Doch nichts hatte sich geändert. Die Tage vergingen wie zuvor. Der Sommer dauerte an.
Schon Skjern-Svendsen hatte Pferde aufgekauft, der vorausschauende Skjern-Svendsen. Und während diese Pferde in den großen Koppeln weideten, stieg ihr Preis. Nun konnte der Graf den letzten Verdienst daran einstreichen. Schon seit langem hatte man die für diesen Zeitpunkt notwendigen Änderungen in der Bewirtschaftung des Herrenhofes vorbereitet. Stolz wie ein Feldherr ritt der Graf seine Runde, inspizierte er seinen Besitz. Er ritt durch seine Wälder, die einen völlig neuen Wert bekommen hatten. Er blickte hinaus auf die Moore, wo Torf gestochen werden konnte. Und seine Gefolgsleute grüßten ihn mit erhobenem rechtem Arm und Hackenzusammenschlagen.
Auch Nils Madsen besaß ein Stück Moor, das bisher völlig wertlos gewesen war. Dort wachsen nur gelbe Schwertlilien und Rohrkolben, und im Frühjahr quakten dort grüne Frösche mit weißen Bäuchen. Nun stellte das Torfmoor ein Vermögen dar. Und Niels hatte die Arbeitskraft gratis. Das war auch ein Vermögen. Es gab nichts, worüber er hätte betrübt sein können. Jetzt hatten auch die landwirtschaftlichen Produkte ihren Preis. Der Engländer bestimmte nicht mehr allein, wieviel der Bacon kosten sollte. Es gab andere, die bieten konnten und die sich nicht fürchteten, fetten Speck zu essen.
In seiner Sonntagspredigt schob Pastor Nørregaard-Olsen die Schuld am Kriege auf den Herrgott.
Der Krieg ist eine Maßregel Gottes, weil die Gemeinde seine Kirche im Stich gelassen hat. Steht nicht die Hälfte der Stühle leer? Spielt nicht die Jugend in diesem Augenblick am Dorfteich Fußball? Was der Mensch sät, soll er auch ernten. Und diese Ernte ist ein Wehgeschrei in der ganzen Welt. Es ist schwer, die Ernte der Gottlosigkeit nach Hause zu tragen. Die Not wird die Völker mit Skorpionen geißeln, doch im Tal der Demütigung wird sich der Blick zu Ihm wenden, dessen Namen die Gemeinde auf den Lippen hatte, während die Herzen weit von Ihm entfernt waren. Und der Pastor Nørregaard-Olsen erinnert an Johannes, den Mann Gottes, der auf der Insel Patmos saß und große und schreckliche Gesichte hatte. Nun sehet! Geht nicht all das jetzt in Erfüllung?
An diesem Sonntagvormittag wollte Dr. Damsø von Johanne keine „Arbeiterzeitung“ kaufen. „Bleiben Sie mir vom Halse mit Ihrer stinkigen Zeitung!“ rief er aus. „Ich mag sie nicht anrühren!“ Und er siezte sie, obwohl er sie seit ihrer Geburt kannte, ja, ihr in die Welt geholfen, sie später geimpft und ihr die Polypen herausgenommen hatte und was sonst noch so dazugehörte. „Gehen Sie, sage ich! Glauben Sie, daß ich Nazizeitungen kaufe? Glauben Sie, daß ich Fritz Clausen unterstützen will?“
„Ich – verstehe – nicht . . .“, stammelte Johanne.
„Verkaufen Sie Ihre Zeitungen doch an Ihre Freunde!“ schrie der Doktor. „Warum halten Sie sich nicht an Niels Madsen? Oder an Höschen-Marius, mit denen Sie ein Bündnis und einen Nichtangriffspakt geschlossen haben?“
Johanne war kein Dialektiker. Sie fand keine Antwort. Sie war es auch gar nicht gewohnt, jemandem zu widersprechen. Oscar hätte bestimmt darauf antworten können, dachte sie. Er kannte ja auch alle Fremdwörter. Da stand sie nun mit ihren Zeitungen und wußte nicht, was sie sagen sollte. „Wollen Sie nicht trotzdem eine Zeitung kaufen?“ fragte sie schließlich und fühlte selbst, wie dumm das war.
„Nein, zum Teufel!“ zischte der Doktor erbittert. „Nein!“ Und er knallte Johanne die Tür vor der Nase zu, weil die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt mit Deutschland geschlossen und damit die Pläne des Doktors und Englands in der Frage des Kriegsschauplatzes durchkreuzt hatte.
„Was hätte ich ihm auch antworten sollen?“ sagte Johanne später zu Oscar. „Er war völlig außer sich. Ich glaubte schon, er würde mich schlagen. So habe ich Dr. Damsø noch nie gesehen.“
„Da gab es nichts zu antworten. Wenn der Idiot die Zeitung nicht lesen will, die ihn ein bißchen klüger machen könnte, dann läßt er es eben bleiben!“ meinte Oscar. „Es hat keinen Zweck, einem Mann etwas zu erwidern, wenn er verrückt geworden ist.“
„Er war sonst immer sehr nett“, sagte Johanne. „Es ist ja auch schwer, wo in allen anderen Zeitungen das unheimliche Bild von Stalin und Ribbentrop ist, wie sie einander die Hand reichen!“
„Warum ist das schwer? Zum Teufel, wir sind doch keine Nazis geworden, weil sich die Russen nicht für die englischen Kapitalisten totschlagen lassen wollen! Und die Kapitalisten haben sich nicht plötzlich in Antifaschisten verwandelt, weil sie in den Krieg hineingezogen wurden. Aber sie hätten die Sowjetunion gern allein in den Krieg gehetzt. Das war ihr Plan. Nun geht es ihnen selbst an den Kragen!“
„Das hätte ich antworten sollen“, sagte Johanne.
„Ist nun auch egal. Wenn ein studierter Mann nicht selbst herausfinden kann, was in der Welt geschieht, ist ihm nicht zu helfen. Wir können ihm nicht die Zeitungen der letzten zwei Jahre vorlesen! Als England und Frankreich damals in München die Tschechen verkauften, hat er sich nicht aufgeregt. Und dort reichten sie sich wohl auch die Hand!“
„Wenn ich das nur gesagt hätte!“ seufzte Johanne. Sie hatte niemals viel von sich aus gesagt. Es war noch gar nicht so lange her, seit sie in der JA-Bluse herumgefahren war und Pastor Nørregaard-Olsens kleine Kirchenzeitung verkauft hatte, da ihre Eltern das von ihr wünschten. Aber ihr Christentum war wohl nicht so gefestigt gewesen; es war ja sehr schnell verschwunden, obwohl man sie im Elternhaus und in der Jugendabteilung im Missionshaus mit dem Wort Gottes erzogen hatte. Das Ganze schien bei ihr nicht sehr tief eingedrungen zu sein. Auch die Tragödie der Familie nicht. Mit der Mutter hatte sie keine Verbindung mehr; nur zu Weihnachten schickte sie ihr eine Karte, weil Oscar es gern wollte. Und den geisteskranken Vater hatte sie seit dem Prozeß nicht mehr gesehen.
Sie war jetzt Frau Poulsen und hatte einen kleinen, sommersprossigen Sohn, den sie im Kinderwagen umherfuhr. Aber wirklich erwachsen war sie wohl nicht. Nur ihr Äußeres hatte sich verändert. Früher hatte sie ihr helles Haar stets fest eingeflochten, jetzt trug sie es kurz geschnitten und mit Dauerwelle. Blaß war sie noch immer, aber sie puderte sich und schminkte die Lippen so stark, daß ihr Mund groß und rund aussah wie der eines Clowns. Sie hatte sich auch moderne Kleidung zugelegt und das Leibchen und die komischen schwarzen Wollstrümpfe abgeschafft.
Es war kaum zu glauben, daß das dieselbe Johanne sein sollte, die in Gärtner Holms kleinem Laden gestanden und Kränze und Grabkreuze geschmückt, Blumenkohl in Kästen gepackt und Mohrrüben abgewogen hatte. Sie verstand es sehr geschickt, Kränze zu binden und Georginen auf Stahldraht zu ziehen. Damals mußte sie auch ab und zu mit einem Spankorb in den Wald gehen und Moos für die Grabkränze sammeln; der fromme Holm und seine Frau konnten ja nicht wissen, daß sie sich dort mit Oscar traf. Es geschah an einem Sommerabend am Waldrand, wo weiches Gras, gelbes Geißblatt und niedriges Farnkraut wuchsen. Und nun lag ein kleiner dicker Junge im Kinderwagen, der zufrieden und lebenstüchtig aussah. Er hieß Willy.
Oscar Poulsen war kein Hiesiger. Er war aus einer fremden Gegend des Landes zur Frydenholmer Molkerei gekommen, sprach anders und schneller, als man es hier gewohnt war, und liebte schwierige Fremdwörter. Dazu war er rothaarig, nach Meinung vieler ein Zeichen von Wildheit und Unzuverlässigkeit. Trotz seiner jungen Jahre hatte er eine Vergangenheit: Er war vorbestraft. Man wußte, daß er im Gefängnis gesessen hatte, weil er als Freiwilliger in Spanien gegen General Franco gekämpft hatte, obwohl das verboten war; Justizminister Jeronimus ging mit großer Strenge gegen die überlebenden Gesetzesbrecher vor und ließ die Heimkehrenden an der Grenze verhaften. So einer war Oscar Poulsen, und er schämte sich nicht einmal seiner Strafe. Er war halsstarrig und extrem in der Politik wie Martin Olsen, dabei wohl noch nicht einmal wahlberechtigt. Er konnte kaum älter sein als Johanne. Kinder waren sie.
Sie bewohnten zwei Zimmer in dem kleinen gelben Haus, das zur Molkerei gehörte, in der Oscar arbeitete. In dem anderen Teil des Hauses hatte die Gemeinde eine obdachlose Familie mit vielen Kindern einquartiert; recht unordentliche Leute, der Mann war Invalide, und die Frau hatte schlechte Nerven. Es waren nicht die Nachbarn, dieman sich wünschte. Sie gehörten zu der Sorte, die nach Niels Madsens Ansicht nicht wert waren, am Leben erhalten zu werden.
Auf der Türschwelle saß eine kleine rotznasige Göre, aß Erde und spielte mit einem unglücklichen Regenwurm. Sie paßte auf ein noch kleineres Kind auf, das in einem Wrack von Kinderwagen lag und strampelte. Beide waren schwarzhaarig wie Zigeuner und hatten große, kluge Augen; sie brauchten wohl auch Klugheit, um überleben zu können. In diesem Teil des Hauses fehlten immer Scheiben, und was nützte es, daß Oscar das ganze Haus zu Pfingsten getüncht hatte: Die eine Hälfte sah jetzt schon wieder wie eine Ruine aus. Vielleicht knabberten die Kinder gelegentlich die Wände ab. Die Katze putzte sich in der Sonne. Sie war sauberer als die Menschenkinder, und sie war wohl auch gesättigt von den Mäusen und der Milch aus der Molkerei. Sie entbehrte nichts und hatte es nicht nötig, das Haus und Erde zu fressen. Aus dem Fenster dröhnte das Radio in voller Lautstärke. Es spielte den ganzen Tag und schien das einzige Vergnügen des invaliden Mannes zu sein.
Der väterliche Ministerpräsident des Landes hielt mit seiner tiefen, ruhigen Stimme eine Rundfunkansprache. Er wolle es keineswegs versäumen, darauf aufmerksam zu machen, daß draußen in der Welt ernste Dinge geschähen. Kriegshandlungen fänden statt, und Grenzen würden überschritten, und man könne jetzt noch nicht überschauen, wie sich alles entwickeln würde. Man müsse leider der Tatsache ins Auge sehen, daß die Ereignisse der letzten Jahre diesen Krieg herbeigeführt hätten, von dem man viele Jahre lang nur respektlos geredet habe. Es wäre viel besser gewesen, wenn man das, was nun zum Kriege geführt habe, rechtzeitig durch friedliche Verhandlungen geregelt hätte. Wahrscheinlich hätten internationale Verhandlungen – vielleicht auch der Spruch eines internationalen Schiedsgerichts – eine für beide kriegführenden Seiten zufriedenstellende Lösung der verschiedenen Probleme ergeben, wodurch der Krieg wahrscheinlich hätte vermieden und das damit verbundene Unheil verhindert werden können. Aber das sei die Politik der Großmächte, in die man sich nicht einmischen dürfe. Den Neutralen seien bereits große Verluste und harte Leiden zugefügt worden, vor allem in der Seefahrt, und es gebe keine Anzeichen dafür, daß eine Besserung bevorstehe. Doch zu den Verträgen, die mit Dänemark abgeschlossen worden seien, solle man Vertrauen haben . . .