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„Wir zweifeln nicht daran, daß die Zeit kommen wird, wo man sie dafür zur Verantwortung zieht“, schrieb die Zeitung.

Auch Kommissar Horsens las den Artikel und reichte dann die Zeitung seinem Stellvertreter. „Ich bin kein Politiker“, sagte er, „und ich interessiere mich, offen gesagt, sehr wenig für Politik. Aber ich finde, daß sie in dieser Zeitung die Dinge klar und deutlich ausdrücken.“

In der Abteilung D des zweiten Inspektorats herrschte Geschäftigkeit. Kommissar Horsens und sein Stellvertreter Odense rackerten sich ab; sie schwitzten bei der sommerlichen Wärme. Die Fenster des geheimen Büros standen zur Welt hinaus offen, man hörte die Geräusche der Stadt, die Straßenbahnen, die Kräne im Hafen, die Lange Brücke, wenn sie geöffnet oder geschlossen wurde, den Gesang einer Kolonne marschierender Soldaten. „Denn wir fahren, denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engelland!“

Die gewaltige Kartei der Abteilung war durchgesehen worden. Jede einzelne Karte hatte man herausgezogen und gelesen, und aus den fünfundsiebzigtausend Namen hatte man die Namen der Kommunisten herausgesucht und in eine besondere Kartei – getrennt von der großen Hauptkartei – eingestellt.

Jetzt waren die beiden Herren dabei, die Sonderkartei zu sortieren; sie ordneten die Namen in Gruppen, die dem Grad ihrer Gefährlichkeit entsprachen.

Ein großer Tisch war mit weißen Karteikarten bedeckt, man konnte den Eindruck gewinnen, die beiden Kommissare seien damit beschäftigt, eine Patience zu legen oder irgendein anderes Spiel zu spielen. Sie waren beide in Hemdsärmeln, Horsens trug eine Weste und Ärmelhalter. Vor ihm auf dem Tisch stand inmitten der Karten das Foto von Frau Horsens und den Kindern, den Lieben zu Haus. Es stand auch Bier auf dem Tisch, und die schwitzenden Kommissare labten sich häufig.

Die Namenskarten wurden folgendermaßen sortiert: Die erste Gruppe umfaßte die Kommunisten, die Mitglied der zentralen Leitung der Partei waren, die zweite Gruppe die Mitglieder des Parlaments oder kommunaler Verwaltungen, die dritte die Mitglieder von Gewerkschaftsleitungen, die vierte schließlich Redakteure, Journalisten und so weiter.

Es war ein mühseliges Puzzlespiel, und wenn die Abteilung D auch in Zukunft als Informationsabteilung fungieren sollte, wo die Behörden Auskünfte über einzelne Bürger einholen konnten, war die Umgruppierung der Namenskarten widersinnig und störend. Die Neuordnung hatte nur einen Sinn, wenn man damit eine Verhaftungsaktion vorbereitete, wenn man damit rechnete, daß eines Tages der Befehl zur Verhaftung der aktiven dänischen Kommunisten gegeben würde.

Sollten zum Beispiel die deutschen Besatzungsbehörden einmal die dänische Polizei auffordern, gegen ihre kommunistischen Landsleute vorzugehen, mußte das Material in Ordnung sein. Und dafür schwitzten die beiden dänischen Kommissare schon jetzt.

Der lange, erbitterte Krieg zwischen der Abteilung D der Kopenhagener Polizei und der Sipo der Reichspolizei war nach der Besetzung des Landes eingestellt worden. Unter den für Dänemark so ernsten Verhältnissen mußten Einigkeit und Zusammenhalt auch im Polizeipräsidium herrschen. Gleich nach dem neunten April waren die beiden geheimen Abteilungen einer neugegründeten Institution, die sich „Der Staatsanwalt für besondere Angelegenheiten“ nannte, unterstellt worden. Sie sollte als Bindeglied zwischen der deutschen Besatzungsmacht und der dänischen Polizei fungieren; ihre Aufgabe war es, mögliche Vergehen dänischer Staatsbürger gegen die Besatzungsbehörden oder die deutschen Truppeneinheiten, die „auf Grund von Vereinbarungen mit der dänischen Regierung“ das Land besetzt hielten, aufzuklären und die Täter zu verfolgen.

Der Leiter dieser neuen Institution war Staatsanwalt Niels Hernild. Er war einmal Polizeichef in Skjern gewesen. Dort hatte er den cholerischen Polizeichef Rold abgelöst, der nach einem Nervenzusammenbruch pensioniert werden mußte – Rold hatte versucht, seine Frau zu erwürgen, die dem „Bols Blau“ und der Mayonnaise verfallen war. Nachdem Hernild die Ordnung im Polizeikreis Skjern wiederhergestellt hatte, wurde er Polizeianwalt in Kopenhagen, wo er bald den Ruf eines pflichtbewußten und tüchtigen Beamten genoß. Auf Ferienreisen in den Harz und an den Rhein hatte er Deutsch gelernt. Das kam ihm nun zugute. Er war als gewissenhafter und einsichtiger Jurist und als friedlicher Mensch bekannt, der sich für Heraldik und Stammbäume interessierte. Nie wäre ihm eingefallen, daß er ausersehen war, eine Rolle in der Geschichte Dänemarks zu spielen. Und als es soweit kam, sorgte er bescheiden dafür, daß diese Rolle so klein wie möglich blieb.

Als Kommissar Horsens nach Monaten harter Arbeit seine Sonderkartei über die Kommunisten zusammengestellt hatte, beauftragte er zwei jüngere Detektive, die Oberwachtmeister William Hansen und Viggo Thygesen, diese Sonderkartei à jour zu führen und so schnell wie möglich alle bedeutenden Kommunisten Dänemarks in einer dem gegenwärtigen Stand entsprechenden Kartei zu erfassen.

„Ich verstehe nur sehr wenig von Politik“, sagte Kommissar Horsens. „Ich kümmere mich um mich selbst und mische mich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute. Ich habe nicht die richtigen Voraussetzungen, das Material hier politisch einschätzen zu können. Wir brauchen junge, frische Kräfte, die mitten im Leben stehen und den Pulsschlag der Zeit fühlen.“ Es bereitete dem herzenswarmen Jüten große Freude, der Jugend unter den für unser Vaterland so schwierigen Verhältnissen eine verantwortungsvolle Aufgabe übertragen zu können.

Hansen und Thygesen nahmen die Sache mit Energie und Geschick in Angriff. Kommissar Horsens hatte wirklich einen guten Griff getan. Zum erstenmal in der bewegten Geschichte der Abteilung D gehörten ihr Polizeibeamte an, die gewisse elementare Voraussetzungen mitbrachten, wie sie nun einmal zur politischen Beurteilung der gesammelten Auskünfte notwendig waren. Sie teilten nicht ganz die bisher in der Polizei vorherrschende Meinung, wonach die Kommunistische Partei nur von Personen mit Abitur geführt werden könne.

Zu der Zeit, als die Detektive Hansen und Thygesen mit der Sonderkartei der Abteilung D beschäftigt waren, stattete Professor Praahs Reichspolizeichef Rane, den er von Abendgesellschaften her kannte, im Polizeipräsidium einen Besuch ab.

Der Professor wollte den Reichspolizeichef um einen persönlichen Dienst bitten. „Es handelt sich um meinen Sohn, Flemming Praahs, Sekretär im Sozialministerium. Wie sich Herr Reichspolizeichef vielleicht erinnern können, ist der junge Mann in seiner Studentenzeit ein paar Jahre lang Kommunist gewesen.

„Wer ist in seiner Studentenzeit nicht Kommunist gewesen?“ sagte Rane liebenswürdig und hob entschuldigend die Hände. „Das gehört dazu. Die Jugend ist idealistisch. Später werden wir vernünftiger. Ich kann mich erinnern, daß da mal etwas mit Ihrem Sohn war. Hat er nicht irgendwann eine Bombe verloren?“

Flemming habe sich in der Studentenvereinigung zu einigen Dummenjungenstreichen verleiten lassen, erklärte der Professor. Damals wurden wohl Stinkbomben geworfen. Flemming habe keine Bomben geworfen, durch einen unglücklichen Zufall jedoch sei in seiner Hosentasche ein Kanonenschlag explodiert, wobei er an einer empfindlichen Stelle Verbrennungen erlitten habe. Die Polizei habe ihn verhört, und wenig später mußte er, der Vater, eine Geldstrafe für ihn bezahlen.

„Ach ja, die jungen Leute!“ Der Reichspolizeichef winkte ab. „Aber jetzt kommt Ihr Sohn wohl nicht mehr auf solche Gedanken? Er ist in einem Ministerium beschäftigt, sagten Sie?“

„Flemming ist ein guter Junge und sehr vernünftig“, beteuerte Professor Praahs. „Er hat längst alle Verbindungen zu den Kommunisten abgebrochen. Er hat überhaupt kein Interesse mehr für Politik, und er ist auch Mitglied der Sozialdemokratischen Partei geworden.“

Reichspolizeichef Rane fand das vortrefflich und fragte, womit er dem Professor dienen könne.

Ja, die Sache war die: Professor Praahs hatte daran gedacht, daß vielleicht in irgendeinem Archiv noch ein Bericht über seinen Sohn aufbewahrt würde. Möglicherweise sei der Name seines Sohnes in irgendeiner Kartei enthalten. Und in dieser unsicheren Zeit könne man ja nicht wissen, wie sich die Verhältnisse in Dänemark noch entwickeln würden. Wenn eine Karteikarte, die den Namen Flemming Praahs trug, zufällig in die Hände der Deutschen käme, könne das vielleicht sehr unangenehm für ihn werden. Was sei nicht schon alles in Österreich und in Norwegen und nun in Holland passiert.

Der Reichspolizeichef erhob sich lächelnd und machte eine Aufmerksamkeit heischende Handbewegung. Professor Praahs hatte plötzlich das Gefühl, er solle fotografiert werden. Genauso hatte der Fotograf in der kleinen Provinzstadt ausgesehen, wo Professor Praahs als Vierjähriger zum erstenmal fotografiert worden war, mit Kleidchen und Knöpfstiefeln und an einen Birkenstamm gelehnt. Dieser Fotograf aus der Kindheit hatte die gleichen pomadisierten Locken gehabt und den gleichen Flatterschlips getragen wie Rane. Praahs wartete förmlich darauf, daß sich der Reichspolizeichef im nächsten Augenblick ein schwarzes Tuch über den Kopf ziehen und sagen würde: „Paß auf, mein Kleiner! Gleich kommt ein lustiger Piepmatz aus dem Kasten!“

Rane trat dicht vor den Professor hin und tippte ihm mit seinen geschmeidigen Fingern auf die Brust. „Professor“, sagte er, „ich will Ihnen etwas anvertrauen, was unter uns bleiben muß. Wenn es herauskäme, würde es mich vielleicht den Kopf kosten.“

Professor Praahs sah erschrocken auf das gelockte Haupt des Reichspolizeichefs. „Wie soll ich das verstehen?“

„Wenn Sie, Herr Professor, einmal die Geschichte dieser Jahre schreiben, dürfen Sie es gern erwähnen. Vorläufig muß es ein Geheimnis zwischen uns zwei dänischen Männern bleiben.“

Er näherte sein Gesicht dem des Professors, und der Professor wich ein wenig vor dem starken Pomadenduft, der den Locken des Reichspolizeichefs entströmte, zurück. Mit gedämpfter Stimme erklärte Rane: „Herr Professor Praahs! Für Sie als Historiker ist es wichtig, zu erfahren, daß ich bereits am Morgen des neunten April der Sicherheitspolizei den Befehl gegeben habe, alle Dokumente aus dem Archiv der Reichspolizei zu verbrennen, die dänische Staatsangehörige oder Angehörige anderer mit Deutschland Krieg führender Nationen in Gefahr Bringen könnten. Ich habe nicht nur sofort den Befehl zur Verbrennung dieser Dokumente gegeben, ich habe mich auch persönlich davon überzeugt, daß der Befehl ausgeführt wurde.“

Bewegt ergriff der Professor die Hand des Reichspolizeichefs. Er konnte in diesem Augenblick keine Worte finden. Aber sein fester Händedruck sagte mehr als viele Worte.

Nachdem Professor Praahs den Tempelsaal der Reichspolizei verlassen hatte und in den Katakomben des Polizeipräsidiums verschwunden war, hob Rane den Hörer eines der Telefone auf seinem Schreibtisch ab und rief die Abteilung Dan.

„Hansen? Ach, Sie sind es, Thygesen. Hören Sie mal zu! Würden Sie bitte in der Sonderkartei nach einem Mann namens Praahs suchen? Praahs, Flemming, cand. polit. ist er damals gewesen. Ist er dabei?“ Der Reichspolizeichef wartete einige Minuten. „Ja, hallo! Sie haben ihn, Thygesen? Ausgezeichnet. Würden Sie bitte seine Karte aus der Kartei nehmen und sie mir mit der dazugehörenden Akte herüberschicken? Danke!“

Auf diese Weise verschwand Flemming Praahs aus dem politischen Leben mit seinen Gefahren und Unannehmlichkeiten.

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