Читать книгу Schloss Frydenholm - Hans Scherfig - Страница 7

4

Оглавление

Für Egon Charles Olsen hatte sich die anfängliche Gefahr auf wunderbare Weise in einen dauerhaften Vorteil verwandelt.

Aus seiner Zelle im Vestre Fængsel wurde er, wie schon so oft, zum Polizeipräsidium gebracht. Das geschah Ende November 1938 – fast drei Wochen nachdem man Gutsbesitzer Skjern-Svendsen erwürgt in seinem Himmelbett aufgefunden hatte –, und die Frist für die Untersuchungshaft war nahezu abgelaufen. Olsen kannte die Route, und obwohl die Grüne Minna keine Fenster hatte und Luft nur durch eine kleine Luke hereindrang, konnte er nach den Straßengeräuschen genau bestimmen, auf welchem Abschnitt der Strecke sie sich gerade befanden.

Er trug Zivilkleidung; wattierte Schultern, scharfe Bügelfalten, großgestreifter Schlips, ein farbiges Seidentuch, dekorativ in der Brusttasche arrangiert. Sein Haar war pomadisiert, es duftete angenehm und glänzte. Die Untersuchungshaft hatte ihn ein wenig blaß gemacht, ein beleidigtes Lächeln lag auf seinen Zügen. Er ging wie einer, der sich auskennt, neben seinem Begleiter über die gewundenen Sandsteintreppen und durch die langen, mit Fliesen belegten Korridore, die von antiken Bronzeampeln erhellt wurden. Der Begleiter schien ein wenig im Zweifel zu sein über den Weg, sie schritten langsam durch die öden Flure, die an die Katakomben unter dem alten Rom erinnerten und wie Stollen wirkten, die in die Steinmasse des Gebäudes gehauen waren. Als sie in einen kleinen Seitengang einbogen, war sich Olsen im klaren, daß sie nicht den üblichen Weg zu Kommissar Odenses Vorzimmer wanderten, in dem die Verhöre sonst immer stattfanden.

Das Innere des Polizeipräsidiums ist ja bekanntlich kompliziert und geheimnisvoll, und nicht einmal der Reichspolizeichef kennt die Geheimnisse dieses Bauwerkes bis ins letzte. Olsen wußte zwar dort drinnen auf Grund seiner dunklen Vergangenheit recht gut Bescheid, ja, er fühlte sich in dem klassischen Labyrinth beinahe heimisch, auf dieser Wanderung jedoch bemerkte er mit einem gewissen Unbehagen, daß er sich auf fremdem Grund befand.

Sie waren in einem Teil des Polizeipräsidiums angelangt, zu dem gewöhnliche Häftlinge keinen Zutritt hatten. Die Wanderung endete schließlich vor einer hohen, kretischen Tempeltür, auf der mit schmalen patinierten Buchstaben stand:

ABTEILUNG D

2. Inspektorat der Kopenhagener Polizei

Kriminalpolizei

Olsen hatte im Laufe der Jahre ziemlich viel mit der Kriminalpolizei zu tun gehabt, doch diese Abteilung kannte er nicht. Nun ja, Olsen war bei weitem nicht der einzige Bürger des Landes, der von dem stillen Dasein der Abteilung D nichts wußte. Das war keine nach außen glänzende und prahlende Abteilung. Sie führte ein zurückgezogenes Dasein und widmete sich besonderen Angelegenheiten, die nicht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen sollten.

Kurz zuvor hatte der Chef der Abteilung zurücktreten müssen, da ein Unglück bei der Entführung eines deutschen Emigranten das Schweigen um seine Tätigkeit gebrochen hatte; dieser sprachbegabte Detektiv beschäftigte sich zur Zeit mit einigen alten chinesischen Handschriften, die zu untersuchen eigentlich gar nicht Aufgabe der Polizei war. Seitdem verwaltete der beliebte Kommissar Horsens die Karteien der kleinen Abteilung.

Kommissar Horsens war ein warmherziger Jüte mit einem vertrauenerweckenden Dialekt und freundlichen blauen Augen. Ein solider, breiter, sonnengebräunter Mann von ländlich-ehrlichem Aussehen, derb und geradezu. Diesem treuherzigen Jüten gegenüber lechzte sogar der verstockteste Verbrecher danach, sein Gewissen zu erleichtern und seine Sünden zu gestehen. Aber der Kommissar wünschte von Olsen gar keine Geständnisse.

Als Olsens Begleiter, nachdem er angeklopft hatte, die Tempeltür öffnete, verabschiedete sich gerade ein kleiner Mann von dem Kommissar. Er begegnete Olsen in der Tür, die beiden sahen einander einen Augenblick an, ließen sich aber nicht anmerken, daß sie sich kannten. Der Mann, der hinausging, war ein schmächtiges Kerlchen mit unsteten Augen und beinahe schwachsinnigem Gesichtsausdruck. Er ging frei und ohne Begleiter und schien den Weg durch das Labyrinth des Gebäudes allein finden zu können.

Kommissar Horsens betrachtete Olsen gütig und bat ihn mit einer väterlichen Handbewegung, auf einem pompejanischen Stuhl Platz zu nehmen.

„Na, den Mann kannten Sie wohl?“ fragte er.

„Ich glaube, ich habe ihn schon einmal gesehen“, mur melte Olsen.

„Kennen Sie ihn gut? Hatten Sie etwas mit ihm zu tun?“ fragte der Kommissar bekümmert.

„Nein“, sagte Olsen rasch. „Ich habe nie mit ihm zu tun gehabt. Ich habe ihn in einer Kneipe getroffen.“

„Im ,Fidusen‘ vielleicht?“

Olsen meinte, es könne im „Fidusen“ gewesen sein, und wunderte sich, daß die Polizei sein Stammlokal kannte.

„Aber Sie wissen, wer es ist?“

„Ich glaube, man nennt ihn ,die Banane‘. Oder ,die kleine Banane‘.“

„Das ist wohl ein recht übler Kerl, diese Banane“, sagte der Kommissar betrübt. „Aber Böses soll mit Bösem vertrieben werden, wie das alte Sprichwort sagt.“

Olsen verstand nicht ganz der dunklen Bede Sinn. Er sah sich im Zimmer um. Es war recht gemütlich. Auf dem Fensterbrett standen zwei leere Bierflaschen. Und auf dem Schreibtisch des Kommissars stand eine Vase mit kleinen gelben Blumen neben der eingerahmten Fotografie einer Frau und zweier süßer Knirpse, denn der Kommissar war ein guter Familienvater und ein Kinderfreund. Es war schön warm im Zimmer und duftete nach gutem Tabak. Der Kommissar hatte seine blaue Jacke auf einen Bügel gehängt und saß in Weste und Hemdsärmeln mit Ärmelhaltern da. Er trug einen maschinengebundenen schwarzen Schlips mit Gummizug.

„Ja, Sie können gehen“, sagte er zu Olsens Begleiter. „Herr Olsen und ich wollen ganz vertraulich ein bißchen über verschiedene Dinge sprechen. Haben Sie übrigens heute schon Kaffee getrunken, Olsen?“

Bei dem Wort Kaffee wurde Olsen wachsam. Er wußte aus Erfahrung, daß Kaffee und Zigaretten im Polizeipräsidium zu den primitiveren Lockmitteln gehörten. Der Kommissar sah sofort, daß sich das Gesicht des Häftlings verschloß, und er beruhigte ihn mit seinem herzlichen, jütischen Lächeln.

„Nein, nein, vor mir brauchen Sie keine Angst zu haben! Ich will Ihnen nichts tun. Auf mich können Sie sich verlassen, Olsen, und es tut doch gut, wenn ein Mensch dem anderen vertrauen kann! So etwas wärmt hier drinnen“, sagte der freundliche Jüte und legte die Hand auf die Westentasche.

Da Olsen ihn alles andere als vertrauensvoll anblickte, lehnte sich Kommissar Horsens zu ihm hinüber und sagte: „Schauen Sie, Olsen, ich glaube, ich habe Ihnen etwas sehr Angenehmes mitzuteilen.“

„Soso“, brummte Olsen.

„Ja, hören Sie. Vor wenigen Stunden hat ein Mann in Præstø im Verhör gestanden, den Gutsbesitzer Skjern-Svendsen ermordet zu haben. Was sagen Sie dazu, Olsen?“

„Wer war es?“ fragte Olsen sofort. „War es Lukas?“

„Ich weiß nicht, ob Sie ihn kennen, Olsen. Sie können es ja selbst hier lesen, es steht schon in der Zeitung.“ Der Kommissar reichte ihm ein Nachmittagsblatt. „Bitte schön.“

Olsen las: Heute um elf Uhr wurde Gärtner Holm dem Untersuchungsrichter vorgeführt, wobei er sein Geständnis wiederholte . . .

„Gärtner Holm! Da soll doch der Teu . . . Das ist merkwürdig. Gärtner Holm . . .“

„Ja, es ist merkwürdig, wie die Menschen sein können“, sagte Kommissar Horsens traurig. „Der Mann scheint verrückt zu sein. Die Religion ist ihm wohl zu Kopf gestiegen. Man kann ja alles übertreiben. Kannten Sie ihn?“

Olsens Gefängnisblässe war plötzlich verschwunden. Seine Wangen bekamen Farbe. „Ich verlange, sofort freigelassen zu werden! Ich habe hier drei Wochen unschuldig gesessen! Ich habe ja von Anfang an gesagt, daß ich unschuldig bin! Kann man einen Menschen so behandeln? Gibt es Recht und Gesetz hier im Lande? Ich werde an meinem Arbeitsplatz vor den Augen meines Chefs verhaftet und als Mörder ins Gefängnis geschleppt! Ich verlange Schadenersatz! Ich will das hier bezahlt haben! Für unverschuldete Untersuchungshaft und verlorengegangenen Verdienst! Und Schmerzensgeld! Ich muß sofort mit meinem Verteidiger sprechen!“ Der Kommissar lächelte wohlwollend. „Selbstverständlich dürfen Sie mit Ihrem Verteidiger sprechen, Olsen. Das Recht dazu hatten Sie übrigens die ganze Zeit über. Und jetzt dürfen Sie ja sprechen, mit wem Sic wollen. Ja, ob Sie nun Schadenersatz bekommen? Kann sein. Davon verstehe ich nichts, das muß der Verteidiger wissen. Damit habe ich nichts zu tun. Aber – könnte die Polizei nicht der Meinung sein, daß Ihre Verhaftung gar nicht so ganz unberechtigt war? Es gibt da doch verschiedene Dinge, Olsen, die nicht ganz in Ordnung sind, nicht wahr? Das reicht doch für mehr als nur für diese drei Wochen?“

Olsen antwortete nicht. Er hatte wieder sein beleidigtes Lächeln aufgesetzt. Natürlich! Wenn man ihm etwas anhängen wollte, konnte man immer etwas finden. Er hatte viele Eisen im Feuer gehabt.

„Wir haben hier einen häßlichen Stapel Papiere.“ Kommissar Horsens klopfte auf einen dicken rosa Aktendeckel, der auf seinem Schreibtisch lag. „Hier ist sowohl Altes als auch Neues. Ich habe, ehrlich gesagt, Angst, daß eine Menge Sachen dabei sind, die sich Kommissar Odense gern ein bißchen näher angucken würde. Glauben Sie das nicht auch, Olsen?“

Olsen lächelte bitter.

„Aber ich gehöre nicht zu denen, die Ihnen Böses wollen, Olsen. Meiner ganz privaten Meinung nach können Sie gut und gern als freier Mann von hier weggehen, wenn wir uns ausgesprochen haben. Aber wollen wir nicht erst ein Täßchen Kaffee trinken, Olsen? Ich habe furchtbaren Kaffeedurst. Was meinen Sie?“

Unter diesen Umständen wagte Olsen, den Polizeikaffee zu trinken, und Kommissar Horsens bestellte in der Kantine telefonisch Kranzkuchen und Kaffee.

„Ich finde, so ein Tröpfchen Kaffee tut gut an so einem kalten Tag“, sagte er in seinem herzlichen, jütischen Dialekt. Olsen nickte, denn er wußte, daß der Kaffee der Polizei stark und gut war.

Der Kaffee kam, und Olsen konnte auch den Kuchen essen, ohne durch zudringliche Fragen gestört zu werden.

„Eine Zigarre, Olsen?“

„Danke.“

„Hier ist Feuer! Sie haben wohl keine Streichhölzer bei sich? Behalten Sie die Schachtel nur.“

„Danke“, sagte Olsen wieder und fühlte sich recht wohl als freier Bürger, der das Recht hat, eigene Streichhölzer zu besitzen.

„Ja, Olsen, hier liegen also Ihre Papiere! Man hat viel über Sie niedergeschrieben, Olsen. Viel zuviel. Sie sind wirklich ein böser Bube gewesen!“ Kommissar Horsens blätterte betrübt in den Akten.

„Sie haben ordentliche Eltern gehabt, Olsen.“

„Wie man es nimmt.“

„Ein gutes Zuhause, bescheiden, aber sauber und geborgen. Fleißige, ehrenhafte Eltern“, fuhr der Kommissar nicht ohne Bewegung fort. Es sah wirklich so aus, als würden seine Augen feucht. „Sie haben Ihren lieben Eltern viel Kummer gemacht. Ihre Mutter hat häufig um Sie geweint.“ „Davon weiß ich nichts“, sagte Olsen. „Sie war sehr zänkisch. Sie verprügelte mich oft.“

Kommissar Horsens blätterte unbeirrt weiter.

„Viel zu viele Vorstrafen, Olsen!“ Er schob die Brille auf die Nasenspitze und hielt das Papier von sich weg. „Schon 1928, warten Sie . . . Bestraft vom Stadtgericht Kopenhagen am 21. 11. nach Paragraph 285, Absatz I des Strafgesetzbuches, vergleiche Paragraph 279 . . . Und dann schon wieder 1930: Paragraph 285, Absatz I, vergleiche Paragraph 278, Nummer 3, vergleiche zum Teil Paragraph 89 des Strafgesetzbuches . . . und wieder 1932 beim Amtsgericht Frederiksberg: Paragraph 285, Absatz I, vergleiche Paragraph 276 . . . Und 1935 wieder beim Amtsgericht Nord: Paragraph 285 Absatz I, vergleiche Paragraph 279 und zum Teil Paragraph . . . Ja, das ist viel. Mal sehen, Olsen, wann wurden Sie denn . . . Hier ist es ja. Das letzte Mal wurden Sie am 19. 12. 1937 entlassen – das war ja gerade zu Weihnachten. Dann waren Sie ja Weihnachten zu Hause, Olsen!“

Es war wirklich, als tröste es den Kommissar ein wenig, daß Egon Charles Olsen das Weihnachtsfest 1937 zu Hause verlebt hatte.

„Sehen Sie, vom Staatsgefängnis schreibt man ja wirklich gut über Sie, Olsen. Eigentlich habe ich gar nicht das Recht, Sie das wissen zu lassen. Jetzt tue ich etwas Ungesetzliches. Aber Sie erzählen es ja wohl niemandem, nicht wahr? Und ich möchte Ihnen doch gerne mein Vertrauen beweisen, Olsen. Hören Sie:

19. 12. . . . Erklärung des Staatsgefängnisses . . . Fraglichem Egon Charles Olsen wird bescheinigt, normal begabt zu sein. Er scheint aber etwas schwach und charakterlos . . . Keine Anpassungsschwierigkeiten, arbeitswillig . . . Mit vertraulicher Arbeit beschäftigt . . . Führte sie zufriedenstellend aus, keine disziplinarischen Schwierigkeiten . . . Im Hinblick auf seine Rückfälligkeit wurde Egon Charles Olsen nicht zur Begnadigung empfohlen . . . Unterschrieben: F. A. Henningsen, Unterinspektor.

Sehen Sie, Olsen, wenn man an einem Menschen interessiert ist, möchte man ja gern etwas mehr über ihn wissen. Und ich will auch gern zugeben, daß ich mit Unterinspektor Henningsen über Sie gesprochen habe. Sie verstanden sich doch recht gut mit dem Unterinspektor, nicht wahr?“

„Ich glaube schon.“

„Ja, er konnte Sie wirklich gut leiden. Das darf ich Ihnen eigentlich nicht erzählen, aber es stimmt. Und über diese vertrauliche Arbeit hat er mir auch ein bißchen was erzählt. Ich freue mich, wenn man einem Menschen etwas anvertrauen kann.“

Langsam begann Olsen zu begreifen, was der Kommissar wollte.

Schloss Frydenholm

Подняться наверх