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„Vati, warum schreit der Mann denn so?“

„Weil er böse ist.“

„Auf wen ist er böse, Vati?“

„Er ist böse auf Polen.“

„Vati, wer ist Polen?“

„Das ist ein Land, mein Kleiner. Es ist weit weg.“

„Ist er auch böse auf uns?“

„Das kann sein. Er ist überhaupt böse.“

„Was schreit er denn?“

„Das kann ich nicht verstehen, wenn du sprichst, Niels. Spiel jetzt mit deiner Kuh“, sagte Martin Olsen.

„Das ist keine Kuh, das ist ein Auto!“ stellte Niels fest. Er fuhr mit einer schwarzscheckigen Holzkuh über den Fußboden, ließ sie tuten, rückwärts fahren und schaltete die Gänge.

„Stell doch das ekelhafte Radio ab“, rief Margrete. „Die Kinder kriegen ja Angst. Du verstehst ja sowieso nicht, was der redet.“ Sie trug einen Säugling auf dem Arm. Niels spielte auf dem Fußboden Auto, zwei größere Mädchen schnitten Anziehpuppen aus alten Illustrierten. Sie hießen Rosa und Gerda.

„Es wird nachher übersetzt“, antwortete Martin. „Und ein bißchen verstehe ich ja auch.“

„Aber es ist widerlich anzuhören“, sagte Margrete.

Das Radio spielte in Martin Olsens Wohnzimmer. Es spielte in den Wohnzimmern der Menschen im ganzen Land. Ein Unbehagen war in allen Häusern. Und noch unbehaglicher als die Stimme des Führers war der brüllende Beifall seines Volkes. „Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!“ brüllten Tausende im Chor.

Der Abend war warm und hell. Die Jugend vergnügte sich auf der Straße. An der Ecke beim Kaufmann standen sie, über ihre Fahrräder gelehnt, die jungen Mädchen kreischten ab und zu, man klingelte mit den Fahrradglokken, man zog etwas aus dem Automaten. Ein Flugzeug brummte oben am Himmel, glänzte silbern im Sonnenlicht. Keine einzige Wolke war zu sehen. Von Niels Madsens Hof drang Eimerrasseln herüber und das Quietschen einer Pumpe. Irgendwo heulte ein Hund, hartnäckig und anhaltend. Und aus den Häusern hörte man die Lautsprecher.

Adolf Hitler schrie in die Häuser hinein. So hatte man ihn in den letzten Jahren in kurzen Abständen schreien hören. Und jedesmal, wenn er im Radio geschrien hatte, bedeutete es Unglück. Diesmal galt es Polen, dessen Provokationen unerträglich geworden wären und zum Himmel schrien! Zuvor hatte es anderen Ländern gegolten.

An dem milden Sommerabend hörte man den schreienden Mann. Aus jedem Haus am Wege hörte man ihn, wenn man durch das Dorf ging. Höschen-Marius hatte die Fenster weit geöffnet und das Radio ganz laut gestellt, damit seine Landsleute draußen seinen Führer hören konnten. Er selbst verstand zwar die Sprache des Führers nicht, doch er saß gehorsam mit offenem Mund vor dem Gerät, und wenn Beifall gebrüllt wurde, murmelte er anerkennend. Auch bei Niels Madsen lauschte man andächtig. Die Fürsorgejungen, die bei ihm ihr Brot verdienten, waren ins Zimmer gekommen und durften die stärkenden Worte hören. Sie saßen da und verstanden kein Wort, sie waren müde von der Arbeit des Tages und konnten sich nur mit Mühe wach halten. Der eine von ihnen, er hieß Harry, hatte eine gebrochene Nase; es hatte da einen Unfall gegeben im vorigen Jahr, als er während einer Züchtigung törichterweise den Kopf zur Seite gedreht hatte. Er war nicht schöner geworden dadurch, unheimlich sah er aus und abstoßend mit seiner schiefen Nase. Aber vielleicht würde man auch ihn einmal gebrauchen, wenn die Zeit der großen Taten kam.

Das Land lauschte. Der Arzt, der Lehrer, der Pfarrer, der Graf, die Alten im Altersheim, die Bauern, die Ziegeleiarbeiter. Und Rasmus Larsen, Vorsitzender der Gewerkschaft und der Wählervereinigung, der politische Einsicht besaß und sich durch den in diesem Jahr unterzeichneten Vertrag gesichert fühlte, in dem sich das Königreich Dänemark und das Deutsche Reich verpflichtet hatten, auf keinen Fall gegeneinander Krieg zu führen oder irgendeine andere Art von Gewalt anzuwenden. Sie lauschten mit Wohlbehagen oder Ekel, je nach Neigung, die meisten mit Ekel. Einige fanden es lächerlich und gleichgültig, auf einigen lastete das Unbehagen wie ein Alp; vielleicht wäre es eine Erleichterung, wenn der Krieg wirklich käme.

Nur die alte Emma weigerte sich zu lauschen. Sie hatte ihr Radio ausgeschaltet. „Ich will den widerlichen Hitler nicht in meinem Hause haben!“

In der Villa des Doktors war das Radio auf eine erträgliche Lautstärke gedämpft. Dr. Damsø hatte den schreienden Führer schon längst als einen Kranken mit ausgeprägt paranoiden und manio-depressiven Zügen eingeschätzt. Die Karriere eines solchen Menschen konnte nicht von Dauer sein. Am besten wäre es, den Verrückten auf Rußland zu hetzen. „Sollen sich die beiden Länder doch im Krieg gegeneinander verbluten!“ sagte Dr. Damsø. „Wenn die beiden ausgestritten haben, wird sich England schon um den Nachlaß kümmern.“ Der Doktor hatte seine Pläne, und er nahm an, daß sie Englands und Frankreichs Beifall finden würden. Er unterbreitete seine Gedanken den wenigen Freunden, mit denen er zusammenkam. Es bekümmerte den liberalen Arzt, daß er in der dörflichen Abgeschiedenheit ebenbürtigen Umgang entbehren mußte. Er liebte geistreiche Gespräche. Er liebte es, auffallende und überraschende Ansichten zu äußern; aber die waren wohl kaum merkwürdiger und ungewöhnlicher als die Ansichten anderer Zeitungsleser.

Er war geschieden und vorurteilsfrei. Er lebte, umsorgt von wechselnden Haushälterinnen, in seiner großen Villa, doch ihm fehlten Gespräche und Menschen mit Sinn für witzige Sätze. Mit dem Missionspfarrer und dem alten Lehrer verband ihn nichts. Es gab einen jüngeren Lehrer, mit dem er Schach spielte, und einige vernünftige Leute unter den Hofbesitzern, mit denen er verkehren konnte. Es gab auch ein paar radikale Kleinbauern, mit denen es sich lohnte, freimütig zu sprechen. Und es machte ihm Spaß, mit dem Kommunisten Martin Olsen zu diskutieren, wenn sie sich zufällig trafen, obwohl der ihn oft geärgert hatte, wenn er sich zur Unzeit in die Angelegenheiten anderer eingemischt hatte, wie damals bei der Sache mit dem Fürsorgejungen, dem die Nase gebrochen wurde. Der Doktor war sehr radikal und offenherzig – aber er würde sich doch nicht wegen einer Nase mit einem Nachbarn entzweien.

„In Wirklichkeit sind Sie ja religiös“, sagte er zu Martin Olsen. „Sie sind gläubig! Sie sind gläubiger als die Missionsleute!“ Und wenn er sich zum Spaß mit Martin Olsen stritt, bekam er zuweilen Antworten, die er dann später benutzte, um seine Bekannten in Erstaunen zu versetzen.

Wenn Johanne sonntagvormittags die „Arbeiterzeitung“ austrug, konnte sie immer damit rechnen, eine davon an Dr. Damsø zu verkaufen. „Du mußt nicht glauben, daß ich sie lese, Mädchen“, sagte er zu Johanne, die kein Mädchen mehr war, sondern eine Frau und mit Oscar Poulsen von der Molkerei verheiratet. „Ich kaufe sie nur deinetwegen. Das ist ja nicht lesbar, zum Teufel. Das ist so furchtbar talentlos!“

„Aber was drin steht, ist wahr!“ antwortete Johanne dreist.

„Das mag sein, meine Kleine. Doch es soll lieber erlogen, dafür aber ein wenig amüsant sein. Es ist ein Verbrechen, langweilig zu sein! Die Kommunisten in Deutschland haben ihr Schicksal verdient, denn sie waren langweilig!“

Vielleicht las der Doktor trotzdem die Zeitung, die er nun mal gekauft hatte. Vielleicht fand er darin etwas, womit er seine Freunde aufziehen konnte. Und einige waren ganz bestimmt verärgert, daß er die kommunistische Zeitung im Hause hatte und sie offen mit allen anderen Blättern im Wartezimmer auslegte.

Einmal hatte etwas über Pastor Nørregaard-Olsen in der Zeitung gestanden, und der Doktor hatte es ausgeschnitten, um die Missionsleute unter den Patienten in Verlegenheit zu bringen. Das war, als der Pfarrer einen seiner Vorträge im Rundfunk gehalten hatte. Denn was Pastor Nørregaard-Olsen in der Gemeinde an Boden verloren hatte, hatte er im Äther gewonnen. Mit Hilfe seines Freundes Harald Horn war er Rundfunkpfarrer geworden. Er formte seine Sonntagspredigt in einen volkstümlichen Vortrag um, machte sie ein wenig literarisch und politisch aktuell, ohne deshalb weltlich zu werden. Seine Verkündung erreichte nun Tausende Heime, während seine Kirchengemeinde kleiner und kleiner wurde. Es waren Freitagspredigten in unterhaltender Form, unbefangene Ermahnungen, das Leben im Jenseits jetzt schon vorzubereiten, statt Forderungen an das materielle Dasein zu stellen. Dr. Horn, der Mitglied des Rundfunkrates war, hatte ihm diese Tätigkeit vermittelt, und der Vorsitzende des Rundfunkrates, Kaspar Bobbel – selbst Theologe und ein kleiner Dichter –, war von Pastor Nørregaard-Olsens frischer, volkstümlicher Art begeistert.

Der Literat Dr. Horn war ein häufiger Gast im Pfarrhaus – ein alter Freund, Schulkamerad von der Metropolitanschule, wo die angeborenen Talente unter gesunder Zucht geformt wurden. Er war Junggeselle, unabhängig, ohne Amt und feste Arbeitszeit, er konnte im Inland und Ausland reisen, wie es ihm paßte. Auf dem Pfarrhof Frydenholm war er stets gern gesehen. Er durfte ohne vorherige Anmeldung kommen, das Gästezimmer im Giebel war stets für ihn bereit. Die Kinder nannten ihn „Onkel“.

Jetzt saßen die Herren im Gartenzimmer des Pfarrhauses und hörten Hitlers Geschrei aus dem Lautsprecher. „Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!“ brüllten die Deutschen.

„Das soll die Welt zur Kenntnis nehmen!“ schrie der deutsche Führer. „Sie mögen Pakte schließen, Erklärungen abgeben, soviel sie wollen. Ich vertraue nicht auf Papiere, sondern ich vertraue auf euch, meine Volksgenossen!“

„Ich verneige mich vor seinem Idealismus“, sagte Pastor Nørregaard-Olsen. „Und ich bewundere seine Fähigkeiten, die Menschen zu begeistern. Aber – entschuldige, daß ich es so rundheraus sage – mich stößt seine Brutalität ab. Es ist doch beinahe etwas Vulgäres an seiner Art.“

„Man muß ihn sehen, wenn er spricht“, entgegnete Harald Horn. „Ich habe ihn ja mehrere Male bei den großen Kundgebungen im Sportpalast gesehen, als ich in Berlin war. Man kann sich die Macht seiner Persönlichkeit überhaupt nicht vorstellen, wenn man ihn noch nicht erlebt hat. Das ist einfach hinreißend. Er wirkt keineswegs vulgär. Er ist ein Weltmann ganz großen Stils.“

„Du brauchst nicht zu glauben, daß ich ihn unterschätze“, sagte der Pfarrer. „Ich bin tief davon ergriffen, den Hauch der Weltgeschichte hier in meiner Stube zu fühlen. Stell dir vor, man hätte Napoleon im Radio hören können, wenn er zu seinen Grenadieren sprach! Aber da ging doch noch etwas anderes von Napoleon aus. Man nimmt es wenigstens an. Es geht auch etwas anderes von Mussolini aus, etwas Malerisches, etwas Prachtvolles. Ich kann nicht leugnen: An ihn habe ich mein Herz verloren! Selbstverständlich erkenne ich Hitlers Größe an. Er kam im richtigen Augenblick, wie der Prinz im Märchen. Er erstand sozusagen in der Stunde der Not. Ich verneige mich vor seinem Genie. Aber es ist gleichsam etwas Plebejisches an seiner Erscheinung, vielleicht liegt es an seinem Schnurrbart, vielleicht auch nur daran, daß er deutsch spricht.“

„Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!“ lärmte das Radio.

„Dir geht es genauso wie deinem Kollegen, dem Dichterpfarrer drüben in Jütland“, sagte der Literat. „Auch er kann Mussolini nicht widerstehen.“

„Ich bin kein Dichter“, meinte der Pfarrer bescheiden. „Ich bin nur ein unbedeutender Schriftsteller. In unserer kleinen Kirchenzeitung.“

„Wenn die Vorsehung es so gewollt hat, daß dem deutschen Volk dieser Kampf nicht erspart werden kann, dann will ich dafür dankbar sein, daß sie mich mit der Führung eines historischen Ringens betraute, das für die nächsten fünfhundert oder tausend Jahre nicht nur unsere deutsche Geschichte, sondern die Geschichte Europas, ja der ganzen Welt entscheidend gestalten wird.“

Die Herren unterbrachen für eine Weile ihr Gespräch und hörten zu.

„Als ich mich vor dreiundzwanzig Jahren entschloß, in das politische Leben einzutreten, um die Nation aus ihrem Verfall wieder emporzuführen, war ich ein namenloser unbekannter Soldat. Der Weg der kleinen Bewegung von sieben Mann bis zur Übernahme der verantwortlichen Regierung am 30. Januar 1933 war ein so wundersamer, daß nur die Vorsehung selbst durch ihren Segen dies ermöglicht haben kann. Heute stehe ich an der Spitze des stärksten Heeres der Welt, der gewaltigsten Luftwaffe und einer stolzen Marine. Hinter mir und um mich als eine verschworene Gemeinschaft weiß ich die Partei, mit der ich groß geworden bin und die durch mich groß geworden ist.“

Hier unterbrach Harald Horn Adolf Hitler und sagte zum Pfarrer: „Ich bin kein Nationalsozialist, das weißt du. Aber ich frage dich: Wo wären wir heute, wenn wir nicht den Hitler in Europa hätten? Wir wären dem Kommunismus ausgeliefert! Wir wären Asien preisgegeben! Er hat nicht nur Deutschland gerettet, er hat uns alle gerettet!“

Der Pfarrer nickte. „Das stimmt schon. Wir sind ihm ohne Zweifel zu großem Dank verpflichtet.“

„Es ist so einfach, seine Methoden zu kritisieren“, sagte Harald Horn. „Unsere Kulturbolschewisten finden sicherlich eine ganze Menge, worüber sie jammern können. Aber ohne Hitler würde uns der Kommunismus zermalmen. Und dann könnte man Methoden erleben! Alter Schmutz erfordert nun mal einen harten Besen! Es geht um unsere Kultur! Es geht um unser Christentum!“

„Ja“, stimmte der Pfarrer zu. „Aber ist Hitler nicht Katholik?“

„Der Katholizismus ist doch auch Christentum.“ Dr. Horn lächelte.

„Wirklich?“ fragte Pastor Nørregaard-Olsen. „Ich weiß nicht, ob man das behaupten kann.“

Und aus dem Radio schrie es: „Der Herr der Welten hat so Großes in den letzten Jahren an uns getan, daß wir in Dankbarkeit uns vor einer Vorsehung verneigen, die uns gestattet hat, Angehörige eines so großen Volkes sein zu dürfen. Wir danken ihm, daß wir angesichts der früheren und kommenden Generationen des deutschen Volkes auch uns in Ehren eintragen können in das unvergängliche Buch der deutschen Geschichte!“

Das Gebrüll schwoll an: „Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!“ Trommeln wurden geschlagen, Stiefel trampelten. Dann folgte das Horst-Wessel-Lied und „Deutschland, Deutschland über alles!“.

„Aber ich habe Angst vor dem Krieg“, sagte Pastor Norregaard-Olsen. „Hör nur, wie sie brüllen! Hör die Trommeln! Muß das nicht unausweichlich zum Kriege führen?“

„Nicht hier. Nicht in Europa“, antwortete Dr. Harald Horn. „Es wird gegen den Osten gehen. Gegen den Bolschewismus!“

„Gott der Allmächtige möge es fügen, daß es diesen Weg geht!“ sagte der Pfarrer und faltete die Hände.

Schloss Frydenholm

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