Читать книгу Schloss Frydenholm - Hans Scherfig - Страница 17
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ОглавлениеFlemming Praahs brauchte auf dem Polizeirevier Store Kongensgade keine Leiden zu erdulden. Er wurde weder geschlagen noch getreten. Niemand hatte Zeit, sich mit ihm zu beschäftigen.
Das Polizeirevier hatte erfahren, daß Dänemark erobert worden war, als ein an der Langelinie patrouillierender Polizeibeamter Alarm schlug. Vom Kastellwall aus hatte jemand geschossen. Ein Auto war getroffen worden. Der Polizist bat um Verstärkung.
Eine Gruppe Polizisten, ausgerüstet mit Gummiknüppel und Revolver, wurde in Marsch gesetzt. Sie bildeten eine Kette und rückten vorsichtig gegen das Kastell vor. An der Esplanade trafen sie auf deutsche Soldaten. Die riefen: „Halt!“ und nahmen ihnen die Revolver ab.
Nein, keiner hatte Zeit, sich mit Praahs zu beschäftigen. Er durfte nach Haus zu seinen Eltern und ihnen erzählen, was geschehen war.
Die Sonne ging auf. Es wurde ein klarer und schöner Tag. In den frühen Morgenstunden kreisten schwarze, deutsche Bombenflugzeuge niedrig über der Stadt. Hellgrüne Zettel flatterten auf Dächer, Straßen und Parks hinab. Sie lagen auf den Bürgersteigen und hingen in den kahlen Bäumen. Auch auf dem Eis des Sortedamsees lagen Zettel.
Praahs hob einen grünen Zettel auf und las: „Aufruf! An Dänemarks Soldaten und Volk!“ Die Unterschrift lautete: „Der deutsche Befehlshaber, Kaupisch.“ Auf dem Zettel stand in schlechtem Dänisch, daß Deutschland mit seinen Machtmitteln den Schutz der Neutralität der Königreiche Dänemark und Norwegen übernommen habe. Nøjtralitæt 2 stand dort. Das alles sei nur geschehen, um die Freiheit und Unabhängigkeit des Volkes zu sichern. Für die Sicherung des Landes gegen englische Übergriffe würden von nun an das deutsche Heer und die deutsche Flotte sorgen. Jeder Widerstand sei nutzlos und würde mit allen Machtmitteln gebrochen werden. Die militärischen und kommunalen Dienststellen wurden aufgefordert, mit den deutschen Kommandanten Verbindung aufzunehmen.
So wurde das Volk über die eingetretenen Veränderungen unterrichtet.
Der junge Flemming Praahs weckte seine Eltern und unterrichtete sie über die Lage im Lande. Auch die Polizei war nun unterrichtet, die Behörden, die Regierung, der König. Alle wurden nach und nach geweckt.
Die deutschen Soldaten, die an diesem Frühlingsmorgen durch Kopenhagen patrouillierten, waren über das Meer gekommen. Morgens gegen vier Uhr hatten zwei fremde Schiffe an der Langelinie angelegt. Man hatte sie von Norden her einlaufen sehen, als sie mit hoher Fahrt die Kroneløbs-Feuerlinie ansteuerten. Das vordere Schiff führte eine einzelne Topplaterne und Seitenlaternen, das hintere zwei Topplaternen und Seitenlaternen.
Beide Schiffe waren zuerst vom Fort Middelgrund gesichtet worden. Als sie nicht stoppten, um Lotsen an Bord zu nehmen, richtete man vom Fort einen Scheinwerfer auf das erste Fahrzeug, das als Schleppdampfer ausgemacht wurde, hißte das Stoppsignal und beleuchtete es.
Danach richtete man den Scheinwerfer auf das zweite Fahrzeug; es schien ein unbewaffnetes Kriegsschiff unbekannter Nationalität zu sein. An Deck war niemand zu sehen. Als der Scheinwerfer das Schiff traf, gab man von dort eine Reihe Blinksignale. Daraufhin wurde der Scheinwerfer ausgeschaltet und der Befehl erteilt, einen Warnschuß abzufeuern.
„Wir geben ihnen eins aufs Dach!“ sagte der Geschützführer und schob eigenhändig die Granate ins Rohr. Aber es gab nichts aufs Dach. Die beiden Schiffe fuhren weiter.
„Bei der Untersuchung der Kanone zeigte es sich, daß der Warnschuß nicht gefallen war, da die Kartusche auf Grund von Fett in der Kammer nicht eingeführt werden konnte, so daß der Keilverschluß nicht zu betätigen war. Auf Grund der Unerfahrenheit des Geschützführers und seiner mangelnden Kenntnis des Dienstablaufs im Fort, was seiner kurzen Dienstzeit auf dem Fort (vier Tage) zugeschrieben werden muß, blieben seine wiederholten Versuche, die Kanone zu schließen, ohne Erfolg. Da der Schuß nicht fiel, untersuchte der Wachhabende die Kanone, nachdem er mit dem Signalisieren und dem Dienst am Scheinwerfer fertig war. Zu diesem Zeitpunkt hielt man es für zu spät, die zweite Kanone anzuwenden.“
Um 4.03 Uhr meldete das Fort Middelgrund der Kommandostation Lynetten, was geschehen war. Die Station gab um 4.17 Uhr die Meldung an den Nachrichtendienst der Marine weiter.
So wurde die Hauptstadt des Landes erobert. Es war ein Dienstag. Als die Einwohner der Stadt auf die Straße kamen, um zur Arbeit zu gehen, merkten sie, daß etwas geschehen sein mußte. Die Linie 6 fuhr durch die Farimagsgade, wo sie nichts zu suchen hatte. Was war geschehen? Ja, die Deutschen hatten das Land besetzt. Deshalb war es notwendig gewesen, die Straßenbahnen umzuleiten.
Die Vorortbahnen hielten nicht an der Station Østerport, und die Leute, die dort aussteigen wollten, mußten weiterfahren. „He! Warum halten wir nicht?“ – „Nein, heute können die Züge in Østerport nicht halten, weil die Station von ausländischen Soldaten besetzt ist.“ Langelinie war für alle, die auf der Mole ihren Morgenspaziergang zu machen pflegten, gesperrt. Das Kastell war erobert.
Quer über die Bredgade hatten die Deutschen aus Autos eine Barrikade errichtet. Die Leute betrachteten verwundert das Arrangement und wurden von den Wachposten weggejagt. Einige Zuschauer waren witzig: „Teufel noch mal! Habt ihr die Siegfriedlinie hierher verlegt?“ Am Schloß Amalienborg war es zu Schießereien gekommen. Einige Wachsoldaten seien erschossen worden, erzählte man. Die Regierung verhandele mit den Deutschen. Man sagte, der König weine.
Man sagte soviel. Die Leute blieben auf der Straße stehen und erzählten und hörten Neues. Man sagte, die Deutschen seien in Korsør und Nyborg und Middelfart an Land gegangen. Auch auf Falster seien deutsche Truppen gelandet. Größere deutsche Truppenverbände hätten an sechs verschiedenen Stellen die Grenze überschritten und rückten auf Jütland vor. Dänische Grenzgendarmen seien von Mördern in Zivil hinterrücks erschossen worden.
In einigen Orten Jütlands leisteten die Dänen Widerstand. Der Verteidigungsminister hatte noch beizeiten befohlen, auf keinen Fall zu mobilisieren. Um nicht herauszufordern.
Der Rundfunk sendete Morgengymnastik, zuerst für Männer, dann für Frauen.
Die Kinder gingen zur Schule. Der morgendliche Strom der Radfahrer füllte die Kopenhagener Straßen. Überall, wo deutsche Wachposten aufgestellt waren, sammelten sich Neugierige und starrten auf die Handgranaten und Stahlhelme der Fremden. Es war wie am Kinderhilfstag, wenn die Menschen verkleidet durch die Straßen zogen. Einige, die Deutsch gelernt hatten, nutzten die Gelegenheit, ihre Sprachkenntnisse anzuwenden; es gab auch welche, die den deutschen Soldaten Zigaretten anboten. Eine Menge Mädchen fanden sich ein, als handele es sich um einen friedlichen Flottenbesuch. Und die großen, schwarzen Flugzeuge flogen in Formation niedrig über die Stadt hinweg und übertönten die Straßenbahnen und die Fahrradklingeln.
Im Rundfunk war nach der Morgengymnastik eine Sendepause. Dann folgte die Morgenandacht. Nummer achtundfünfzig im Gesangbuch:
Unermeßlich wie der Sand
und ohne Grenzen
wie die tiefen Wasser des Meeres
ist die Gnade des Herrn.
Er hat in dieser Nacht
mein Haus und Heim
mit Engelsscharen umstellt,
daß mir und den Meinen
kein Leid geschah.
Aber die Leute telefonierten miteinander und hörten Neues. Das Radio schwieg, doch die Gerüchte gingen von Haus zu Haus, die Neuigkeiten liefen durch die Straßen, sie fuhren mit der Straßenbahn, sie kamen mit der Milch und den Brötchen, sie reisten mit den Autobussen weit hinaus ins Land.
Flemming Praahs bekam nicht den Schlaf, den er so dringend brauchte. Bleich vor Müdigkeit räumte er in Regalen und Schubkästen auf; er glaubte, Dinge zu besitzen, die gefährlich werden könnten, wenn es den Deutschen einfallen sollte, das Haus im Østerbro-Viertel zu stürmen. Die Wohnung hatte Zentralheizung. Er mußte die Bücher in das Wohnzimmer der Eltern hinübertragen, wo man der Gemütlichkeit wegen einen Kamin eingebaut hatte, einen fire-place, wie seine Mutter sagte, eine cosy corner mit Kissen und Fußbänken, Feuerzange und Blasebalg und einer Gabel zum Brotrösten. Jetzt wurde mit „Akademischen Intelligenzblättern“ Feuer gemacht.
Die Broschüren aus Flemming Praahs’ revolutionärer Jugendzeit gingen in Flammen auf. „Die Krise in der Landwirtschaft“ – in den Kamin. „Wer stahl das Geld der Schuharbeiter?“ – in den Kamin!
Flemming besaß auch „Das Kapital“ von Karl Marx. Vier Bände in grauem Leinen, die herausfordernd und trotzig in seinem Regal standen. Er hatte es nicht geschafft, darin zu lesen, aber er hatte sich vorgenommen, es einmal zu tun, wenn er mehr Zeit hatte. Nun wurde wohl nichts mehr daraus. Es waren schöne Bände, teure Bücher, 2 700 Seiten dünnes Papier. Hier und dort hätten sinnige Unterstreichungen sein müssen, Anmerkungen und Zeichen am Rand; doch nun war das ja egal.
„Das Kapital“ brannte schlecht. Die Bücher glimmten im Schnitt, sie wollten nicht richtig Feuer fangen. Praahs schlug wild mit der Feuerzange auf sie ein, seine Hände zitterten, vielleicht ging es um Leben oder Tod, wenn das verdammte Buch nicht endlich verbrannte. Seine Mutter – noch im Morgenrock – half mit dem Blasebalg nach, der mit Messingnägeln und dem norwegischen Staatswappen verziert war. Sie blies ruhig und zielbewußt auf Karl Marx, so daß die Flammen aufloderten.
Der norwegische Löwe mit der Axt in den Vorderpfoten erinnerte die gnädige Frau an friedliche Ferien im Gudbrandsdal. Nun hatten die Deutschen auch Norwegen besetzt, im Ferienland war Krieg, in den Bergen wurde gekämpft. Einfach unvorstellbar, der Urlaubsort als Kriegsschauplatz, das Hotel, in dem die Familie Praahs damals gewohnt hatte!
Freunde hatten telefonisch mitgeteilt, die Invasion in Norwegen erstrecke sich von Oslo bis Trondheim, und das norwegische Volk leiste Widerstand. Professor Praahs kannte viele, die Verbindungen hatten und Bescheid wissen mußten, und so war er in die Stadt gegangen, um etwas Neues zu erfahren. Er kannte Chefredakteur Angvis vom „Dagbladet“. Dort mußte man alles wissen.
Dann brannte „Das Kapital“ endlich. Der junge Praahs kam mit weiteren Schriften und Büchern. Frau Praahs stand vornehm und ruhig mit dem Blasebalg bereit. „Der Kulturkampf“ brannte und „Das Luftloch“. Auch eine kleine Ausgabe von Frederik Dreiers Schriften wanderte ungelesen in den Kamin. „Glaubst du wirklich, daß die Deutschen Frederik Dreier kennen?“ fragte Frau Praahs. „Die kennen mehr, als du ahnst!“ antwortete ihr Sohn. „Das Buch ist im Mondes-Verlag erschienen, schon das kann schlimm genug sein.“
„Es ist noch nicht einmal aufgeschnitten“, sagte Frau Praahs.
Robert Rieges sexualpolitische Broschüren kamen sicherheitshalber ebenfalls in den Kamin. Auch Nummern der „Sexualtidende“ und Poul Henningsens „Was mit der Kultur?“ wurden den Flammen überantwortet. Und die Frau Professor blies mit dem dekorierten norwegischen Blasebalg auf den brennenden Freigeist.
Dann gab das Radio plötzlich Laute von sich. Mutter und Sohn am Kamin ließen das Pusten sein und lauschten angespannt. Der dänische Sprecher verlas eine Botschaft des Generals Kaupisch. Die Stimme des Sprechers war bewegt, man konnte hören, daß er die Botschaft widerwillig verlas. Ihr Inhalt glich etwa dem, was auf den hellgrünen Zetteln gedruckt stand, die aus deutschen Flugzeugen auf Kopenhagen herabgeflattert waren. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, Ruhe zu bewahren und die Radios eingeschaltet zu lassen, da noch wichtige Mitteilungen zu erwarten seien. Danach brachte man Musik von Schallplatten. „Kalle, Kalle, Kalle aus Schonen.“ Alle halbe Stunde wurde der Aufruf des Generals wiederholt.
Frau Praahs schürte das Feuer, und die glimmenden Schriften flammten wieder auf. Der Sohn trug noch ein paar Bücher und Zeitungen herbei, die ihm gefährlich schienen.
Das letzte, was im Kamin der Familie Praahs verbrannt wurde, war eine lederne Schreibunterlage, eine Mappe und ein Löscher mit Monogramm und Hammer und Sichel.