Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil V) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 10

7. Kapitel.
Der Dammbruch.

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Inhaltsverzeichnis

Es war doch etwas stiller im Hause geworden seit Hans Rambergs Scheiden.

Rose-Marie vergaß eine Weile ganz ihren Übermut. Aber der Vater beschäftigte sich noch mehr als sonst mit ihr, und sie sprachen oft über Hans Ramberg, so daß Rose-Marie dem Vater vertrauend ihr eigenes Empfinden verriet, ohne es selbst zu merken, was ihr Hans eigentlich war.

Ganz unmerklich benutzte Gerhard dieses unverstandene Empfinden seines Kindes, um es etwas mehr auf den Ernst des Lebens hinzuweisen.

So fielen fast von selbst die jungenhaften Manieren von ihr ab.

Sie wurde maßvoller in ihren Bewegungen und lernte achtsamer mit ihren Kleidern umgehen.

Was alle Ermahnungen und Vorwürfe der Mutter nicht zustande gebracht hatten, änderte sich jetzt ganz von selbst.

Dabei wurde Rose-Marie aber nicht still und kopfhängerisch.

Ihr frisches, ursprüngliches Wesen überwand bald das Herzeleid über Hans Rambergs Scheiden.

Sie wurde bald wieder froh und vergnügt, und wenn ein Brief von Hans kam, dann sang und jubelte sie den ganzen Tag.

Stets antwortete sie am gleichen Tage, und ihre Schriftzüge wurden etwas regelmäßiger.

Sie kaute auch nicht mehr nachdenklich am Federhalter. Diese Briefe flossen ihr leicht aus der Feder.

Sie berichtete ihm von allem, von Vati und von ihrem Sorgenkind Musch, von dem neuen holländischen Zuchtstier und dem jüngsten Mastkalb, von Böllermann und von Fräulein Ulrike.

So blieb Hans immer auf dem Laufenden, zumal er auch mit Onkel Fritz zuweilen Briefe wechselte.

Er berichtete Erfreuliches von seiner neuen Tätigkeit und hatte sich auch sehr bald in seiner neuen Stellung eingearbeitet.

Schnell vergingen so Sommer und Herbst. Und zum Weihnachtsfest kam Hans zu Besuch auf zwei Tage.

Das war ein frohes Wiedersehen und ein wunderschönes Fest.

Rose-Marie war glücklich und zufrieden, daß sie ihn wiedersah, und er ließ kaum den Blick von ihr.

Sie war größer geworden in dieser Zeit, und aus der lieblichen Mädchenknospe begann sich ein holdes Jungfräulein zu entwickeln.

Fritz Gerhard beobachtete die beiden jungen Leute unmerklich mit seinen stillen, klaren Blicken.

Ehe Hans wieder abreiste, nahm er ihn mit sich auf sein Zimmer.

Und da sprach er viel goldene, liebe Worte zu ihm, so daß Hans das Herz weit wurde und er dem Onkel freimütig gestand, daß er Rose-Marie liebte und daß er hoffe, sie sich eines Tages als seine Frau erringen zu dürfen.

Da legte Fritz Gerhard seinen Arm um den jungen Mann und sagte:

»Ich wußte es längst, mein lieber Junge, wie es um Dich steht. Mit sorgenden Augen habe ich Euch beobachtet. Ich kenne auch meine Rose-Marie genug, um zu wissen, daß sich Dir ihre junge Seele in unbewußter Liebe zuneigt. Aber störe ihren kindlichen Frieden jetzt noch nicht. Sie ist noch zu jung, um sich selbst zu verstehen.

Du darfst ihr noch nicht von dem sprechen, was in Deinem Herzen für sie lebt. Laß ihr Zeit, sich erst selbst, zu verstehen. Sie ist noch nicht sechzehn Jahre alt, wenn man das auch bei ihrer großen, kräftigen Gestalt vergessen kann.

Versprich mir, daß Du noch warten willst, ehe Du ihr ein Wort von Deinen Wünschen sagst, bis sie erwachsen ist!«

Hans legte seine Hand in die des Onkels.

»Aber Du weigerst mir Rose-Maries Hand nicht, wenn ich meine Zeit abgemartet habe, Onkel Fritz?«

»Nein, ich weigere sie Dir nicht, wenn Ihr Euch von Herzen liebt!«

»Dann verspreche ich Dir gern, daß ich geduldig warten will. Nun ich weiß, daß Dein Segen bei meiner Liebe ist, bin ich ruhiger als zuvor!«

»Warst Du meiner Zustimmung nicht sicher?«

Hans sah ihn ehrlich an.

»Ich bin ein armer Schlucker, Onkel Fritz!«

Dieser rüttelte ihn ein wenig an den Schultern.

»Und könntest doch der künftige Besitzer von Schönrode sein. Nein, nein — nicht gleich wieder trotzen. Du sollst ja nichts tun, um Dich mit der alten Frau zu versöhnen, sollst nur mir gestatten, den Vermittler zu spielen. Wenn ich selbst mit Deiner Großmutter sprechen würde, vielleicht fände ich das richtige Wort.«

»Spare Dir die Mühe, Onkel Fritz — sie ist vergebens!«

»Nun - wenn aber nicht? Wenn ich sie so weit brächte, daß sie zu Dir sagte: »Komm zu mir, alles soll vergessen sein?« Willst Du mir dann versprechen, daß Du Deinen Groll besiegen willst, daß Du dann nicht unversöhnlich bleiben wirst?«

»Das kann ich Dir versprechen, es wird ja doch nicht geschehen!«

Gerhard lächelte.

»Jedenfalls habe ich Dein Wort, mein Sohn. Das vergiß nicht!«

»Mein Wort werde ich halten!«

»Das weiß ich.« — —

Dieses Gespräch klang noch lange nach in Hans Rambergs Herzen.

Rose-Marie gegenüber bezwang er sich. Kein Wort verriet, was er für sie empfand.

Aber die beiden jungen Augenpaare verstanden nicht, sich zu verstellen und verrieten, was in beider Herzen vorging.

Hans reiste wieder ab mit der Gewißheit im Herzen, daß sein innigster Wunsch eines Tages in Erfüllung gehen würde.

* *

*

Der Winter dauerte lange in diesem Jahre. Immer neue Schneelasten kamen vom Himmel hernieder, und langsam kroch die alte Sorge vor kommendem Großwasser an Fritz Gerhard heran.

Wenn im Frühjahr schnelles Tauwetter einsetzte und dann noch Regen dazu kam, dann mußten ungeheure Wassermengen den Fluß herabkommen, schlimmer, als all die Jahre vorher.

In der nächsten Sitzung sagte Gerhard mit finsterer Miene:

»Wenn dies Jahr schnelles Tauwetter kommt, sind wir alle verloren!«

Die Bauern lachten.

»Ach was, Gerhard, das wird zur fixen Idee bei Ihnen. Sie sitzen doch oben auf Ihrem Hügel in Sicherheit,« antwortete ein behäbiger Großbauer.

Gerhard nickte ingrimmig.

»Ja, Leib und Leben kann ich mir und den Meinen wohl retten, wenn ich mich oben in meinem Hause verschanze und mit den Händen in der Tasche ruhig zusehe, wie Ihr mit Euren Häusern davonschwimmt.

Wie Ihr mich aber kennt, bleibe ich schwerlich in Sicherheit, solange ich andere Menschen in Gefahr sehe. Aber abgesehen von der Lebensgefahr — denkt doch an unsere Wiesen und Felder! Wenn der Damm bricht, ist unser aller Wohlstand dahin.

Wir würden uns nie von einem solchen Schlag erholen. Jetzt ist es natürlich schon zu spät für dieses Jahr, im Sommer müßte man den Dammbau vornehmen. Also — denkt an mich — ich bin diesmal mehr in Sorge, als alle früheren Jahre!«

Die Bauern schüttelten behäbig lächelnd die Köpfe.

Gerhard war eben ihrer Meinung nach zu ängstlich in dieser Beziehung.

Seelenruhig gingen sie nach Hause und freuten sich, daß sie den Damm nicht bezahlen mußten.

* *

*

Bis Ende März hatte es fast unaufhörlich geschneit. Aber dann schlug mit einem Male das Wetter um. Es wurde plötzlich viel wärmer und strömender Regen setzte ein.

Das Tauwetter löste so energisch die aufgehäuften Schneelasten, daß der Fluß in wenigen Tagen zu einem reißenden Strom angewachsen war. Und das Wasser stieg noch immer sehr schnell, ein Ende war nicht abzusehen.

So arg war es noch nie gewesen, und die Bauern bekamen nun doch ein wenig Angst.

Aber während Gerhard mit düsterer, sorgenvoller Miene umherging, heuchelten sie Gleichmut und suchten die nahe Gefahr zu ignorieren.

Am 29. März ging Fritz Gerhard schweren Herzens zu Bett.

Noch immer goß der Regen in Strömen herab, und der Fluß war am Abend, als er noch einmal unten gewesen war, wieder beträchtlich gestiegen.

Rose-Marie tröstete den Vater, so gut sie konnte, ehe sie zu Bett gegangen war.

Frau Henriette hatte wieder ihre Migräne und hatte sich schon am Mittag niedergelegt.

Fritz Gerhard sank in einen unruhigen Halbschlaf. Und so ging die Nacht langsam und bleiern vorüber.

Aber plötzlich schrak er jäh empor. Durch die Nacht klang vom Kirchturm herüber das Läuten der Glocke.

Mit einem Satz war Gerhard aus dem Bette. Ein dumpfes, brausendes Geräusch schlug an sein Ohr.

Er riß das Fenster auf und beugte sich hinaus.

Verworrenes Geräusch von jammernden Menschenstimmen mischte sich mit jenem unheimlichen Rauschen und Brausen.

»Hilf Gott — der Damm!« stöhnte Gerhard auf.

Und schnell in seine Kleider fahrend, stürmte er hinaus und riß das Hoftor auf.

Er taumelte entsetzt zurück.

Im fahlen Morgengrauen kamen die Dorfbewohner, mit allerlei Gerät und Packen beladen, den Hügel herauf und schrieen und jammerten:

»Der Damm ist gebrochen! Der Damm ist gebrochen!«

Über ihre Köpfe hinweg starrte Gerhard auf ein furchtbares Bild.

Das ganze Dorf war überschwemmt.

Das Wasser riß in jäher Wut alles mit sich, was nicht niet- und nagelfest war.

Ein unglaubliches Durcheinander entstand.

Alles flüchtete instinktiv in Gerhards Nähe. Von allen Seiten bestürmte man ihn um Rat und Hilfe.

Man drängte sich in Gerhards Gehöft und unglaubliche Szenen voll Jammer und Not spielten sich in jäher Hast hier oben ab.

Fritz Gerhard schaute mit brennenden Augen um sich her.

Sein Gesicht war bleich, aber nur wenige Minuten hatte er die Fassung verloren.

Drunten wälzte sich eine trübe, vernichtende Flut über sein fruchtbares Gelände und machte ihn zum Bettler, aber hier oben schrie man ihm in die Ohren, daß drunten Menschenleben in Gefahr waren.

Da war es für Fritz Gerhard nicht Zeit, an sich selbst zu denken.

Wohl ein Dutzend Häuser, die dicht am Fluß lagen, standen bereits bis an den Giebel im Wasser.

Die Bewohner hatten nicht Zeit gehabt, sich zu retten, und waren auf die Dächer geklettert. Ihre Notschreie übertönten zuweilen das tosende Geräusch der Wassermassen, die Steine, Geröll, Baumstämme und allerlei Gerät mit sich fortschwemmten.

Fritz Gerhard hatte diese Stunde in sorgender Angst seit Jahren kommen sehen und hatte seine Stimme erhoben, um das Unheil abzuwenden.

Man hatte ihn nicht gehört, aber jetzt flüchtete man zu ihm. Und er war nicht der Mann, jetzt egoistisch an sich zu denken, oder sich hinter ein »Ich habe es Euch vorher gesagt!« zu verschanzen.

Ein Ruck ging durch seinen mächtigen Körper. Er richtete sich straff empor und mit lauter Stimme gebot er Ruhe.

»Frauen und Kinder finden Unterkunft in den Ställen und in der Scheune — die Männer her zu mir! Wir müssen die zu retten suchen, die da unten in Gefahr sind! Böllermann — alles herbeischleppen an Stangen, Stricken und Seiten, Brettern und Planken, was wir haben! Wir müssen unten ein Floß bauen!

Vorwärts, Männer, Eile tut Not. Rüstet Euch aus mit allem Nötigen und dann her zu mir!«

So kommandierte er mit weithin schallender Stimme. Alle gehorchten ihm sofort.

Fräulein Ulrike, die nun auch erschienen war und die Nachtmütze noch auf dem Kopfe trug, sorgte für die Unterkunst der Frauen und Kinder.

Am Fenster ihres Schlafzimmers erschien Frau Henriette mit bleichem, verstörten Gesicht.

»Fritz, was ist geschehen?«

Er trat ans Fenster heran.

»Der Damm ist gebrochen, Henriette, aber sei ruhig, rege Dich nicht auf, hier sind wir alle in Sicherheit!«

Da flog Rose-Marie aus dem Hause auf ihn zu.

»Vati, Böllermann sagt, es seien Menschenleben in Gefahr. Ist das wahr?«

»Ja, Rose-Marie. Wir Männer gehen jetzt hinunter, um ihnen, wenn möglich, Rettung zu bringen!«

Sie umschlang ihn aufgeregt.

»Nimm mich mit, Vati!«

»Bleib’ Du bei Musch, sie braucht einen Beistand. Und wenn Du kannst, hilf Fräulein Ulrike. Da unten kann ich Dich nicht gebrauchen!«

Rose-Marie umklammerte seinen Arm und sah ihn angstvoll an.

»Ach, Vati, Du gehst selbst in Gefahr, ich möchte bei Dir sein. Nimm mich mit!«

»Nein, Du bleibst hier!«

»Vati!« flehte sie angstvoll.

»Still, Rose-Marie, halte mich nicht auf. Ich bin ruhiger, wenn ich weiß, daß Du hier oben nach dem Rechten siehst. Stark sein, Rose-Marie, nicht gemuckst. Jetzt zeig’, daß Du Deines Vaters Tochter bist!«

Da lösten sich ihre Finger Von seinem Arm und ihr blasses Gesicht bekam einen tapferen, entschlossenen Ausdruck.

Inzwischen hatten sich die Männer mit allem versehen, was sie erreichen konnten, und scharten sich um Gerhard.

Rose-Marie umschlang ihn noch einmal.

»Vati — sei vorsichtig — und Gott behüte Dich!«

Er küßte sie schnell noch einmal.

»Wir stehen alle in Gottes Hand!«

Dann stellte er sich an die Spitze der Leute.

»Nun vorwärts!«

Da war es Rose-Marie, als müsse sie ihn um jeden Preis zurückhalten, ihre Tapferkeit verließ sie.

Wie im Krampf Umschlang sie den geliebten Vater und zitterte am ganzen Körper.

Er strich ihr das Haar aus der Stirn.

»Sei kein Feigling, Rose-Marie. Kopf hoch und ein mutig Herz — Du wirst es jetzt brauchen. Gott mit Dir, mein Kind. Stark sein, Rose-Marie!«

Er küßte sie noch einmal und riß sich los.

Eilig schritten die Männer, Gerhard und Böllermann an der Spitze, den Hügel hinab.

Rose-Marie lehnte blaß und zitternd am Hoftor und sah ihnen nach. Auf ihrer Seele lag ein drückender Bann. Eine namenlose Angst um den Vater erfüllte ihr Herz. Aber dann nahm sie sich zusammen. »Stark sein!« hatte der Vater gesagt, und: »Sei kein Feigling!«

Sie richtete sich empor.

Sie wollte des Vaters Gebot erfüllen, er sollte mit ihr zufrieden sein.

Mit großen Augen sah sie hinunter auf die Verwüstung. Sie wußte als des Vaters Vertraute, daß es nun vorbei war mit Wohlstand und Sorglosigkeit.

Vielleicht mußten sie bald als Bettler aus dem lieben Hause ziehen. Aber mochte es darum sein, wenn ihr Gott nur den Vater gesund und heil zurückführte.

Immer mehr Leute kamen den Hügel herauf und weinten und jammerten um ihren gefährdeten Besitz.

Jetzt pochten die Bauern nicht mehr aus ihre harten Taler und lachten nicht mehr über Gerhard. Scheu sahen sie sich an und dachten an seine mahnenden Worte.

Die Gefahr war nun da und die lautesten Schreier wurden nun am stillsten.

Rose-Marie eilte nun, des Vaters Gebot erfüllend, zur Mutter. Diese war in einer schrecklichen Verfassung und fiel aus einer Ohnmacht in die andere.

Rose-Marie: hatte ihre liebe Not und in der Sorge um die Mutter vergaß sie eine Weile die um den Vater.

* *

*

Drunten waren die mit allerlei Rettungswerkzeugen beladenen Männer unter Fritz Gerhards Leitung bei der gefährdeten Stelle des Dorfes angelangt, soweit sie des Wassers wegen vorbringen konnten.

Man sah nun die hilferufenden Menschen auf den Dächern stehen.

Gerhard befahl, sofort ein Floß zu bauen aus dem mitgebrachten Material. Er gab genaue Weisung, wie das gemacht werden mußte.

Während die Leute in fieberhafter Eile daran arbeiteten, band sich Gerhard ein Seil um den Leib, das er an einem starken Baum befestigte.

Vorsichtig schritt er dann durch das strömende Wasser zu den ersten Häusern, auf denen sich Menschen befanden und zu denen er noch ohne Floß vorbringen konnte.

Er sprach den geängstigten Leuten beruhigend zu und forderte sie auf, herabzukommen und sich an dem Seil nach dem trockenen Lande zu tasten.

Immer nur einer auf einmal durfte den Weg gehen, während sich Gerhard an die Mauer klammerte und das Seil zwischen sich und den Baum anspannte.

Einige andere Männer begriffen nun, was Gerhard wollte, und stellten auf gleiche Weise wie er die Verbindung zwischen den anderen gefährdeten Häusern und dem Ufer her. So wurden schnell die Bewohner der zunächst liegenden Häuser gerettet.

Nun kam aber der schwerste Teil des Rettungswerkes.

Aus zwei Häusern, die am gefährdetsten waren, schrien und jammerten noch ein Häuflein Menschen.

Zu diesen Häusern konnte man nur mit einem Fahrzeug gelangen.

Das hatte Gerhard sofort übersehen und hatte deshalb das Floß bauen lassen. Es war inzwischen unter Böllermanns Leitung fertig geworden.

Herzzerreißend klangen die Hilferufe herüber, als man endlich das Floß in das Wasser schob.

Gerhard schwang sich, mit einer handfesten Stange zum Steuern versehen, hinauf.

»Wer fährt mit mir?« rief er den Männern zu.

Scheu traten diese zurück.

Jetzt ging es ums eigene Leben. Die Fahrt auf dem primitiven Fahrzeug, auf dem wild dahinschießenden Wasser, war ein gefährliches Wagestück.

Keiner meldete sich.

»Männer, einer allein schafft es nicht! Wer kommt mit mir?« rief Gerhard dringend und sah sie mit ernsten, zwingenden Augen an.

Aber sie wandten den Blick zur Seite.

Da aber schwang sich plötzlich Böllermann auf das Floß.

»Ein Hundsfott, wer seinen Herrn verläßt. Ich fahre mit!«

Gerhards Augen leuchteten auf.

»Brav, Böllermann, wir wollen zusammen das Rettungswerk mit Gottes Hilfe unternehmen!« sagte er.

Böllermann hatte sich auch mit einer langen Stange ausgerüstet.

»Um die Bauern da drüben setze ich mein Leben nicht aufs Spiel, Herr! Sie haben nicht auf Sie gehört, als es noch Zeit war. Ich gehe nur Ihretwegen mit!«

Gerhard lächelte den treuen Menschen an.

»Es ist ja gleich, warum Du mit mir gehst! Daß Du es tust, danke ich Dir vom Herzen!«

Er wars den Zurückbleibenden ein Seil zu, das man zusammengeknüpft hatte zu ansehnlicher Länge.

»Haltet fest und laßt langsam nach, und wenn ich Euch das Zeichen gebe, zieht an, damit uns die Rückfahrt erleichtert wird!« rief er ihnen zu.

Nun stießen die beiden todesmutigen Männer das Floß ab.

Vorsichtig lenkten sie, die Stangen gebrauchend, durch die Fluten. Es war ein gefahrvolles Unternehmen. Jeden Augenblick drohte Tod und Verderben.

Nur langsam kamen sie ihrem Ziel näher, weil die Flut das Floß abwärts trieb.

In atemlosem Schweigen sahen die Zurückbleibenden auf das besonnene Tun der kühnen Retter.

Fest hielten sie das Seil und prüften nochmals die Knoten, ehe sie diese durch die Hände gleiten ließen.

Beschämt sagten sie sich, daß es das wenigste war, was sie tun konnten, wenn sie das Floß durch das Seil vor dem Abtreiben schützten.

Drüben blickten neun Menschen in atemloser Angst und Sorge den Rettern entgegen. Sie schrieen jetzt nicht mehr, sondern beteten inbrünstig und stumm um Rettung.

Und nach schwerer Mühe langte das Floß an dem ersten gefährdeten Hause an.

Vorsichtig mußten es die beiden Männer heranbringen, daß es nicht zerschellte.

Gerhard warf den Leuten auf dem Dach ein Stück Seil zu und gab ihnen Weisung, es mit aller Kraft festzuhalten.

So kamen sie dicht heran.

Während Böllermann das Floß festhielt an der am Schornstein befestigten Leine, half Gerhard den fünf Personen, zwei Frauen, einem Manne und zwei Kindern, schnell auf das Floß und gebot ihnen, sich ruhig niederzukauern.

Dann ging es rückwärts dem Ufer zu.

Die vier Menschen auf dem letzten Dache schrien auf, als sie sahen, daß das Floß nicht auch zu ihnen kam.

Gerhard rief ihnen zu:

»Ruhe! Wir kommen wieder!«

Das Floß war schon jetzt fast zu stark belastet.

Rückwärts ging die Fahrt besser vonstatten.

Von drüben zogen die Männer an dem Seil.

Gerhard und Böllermann brauchten nur mit den Stangen zu steuern.

Eine halbe Stunde später waren die fünf Personen in Sicherheit.

Man half ihnen jubelnd von dem Floß herunter und Gerhards und Böllermanns Namen waren in aller Mund.

Gerhard wehrte allen Dank ab.

»Nun geht es zu den anderen. Jubelt nicht zu früh, noch sind vier Menschen in Gefahr. — Böllermann, bleibst Du bei mir?«

»Freilich, Herr!« rief dieser aus, und lachte über das ganze ehrliche Gesicht.

»Halten Deine Kräfte noch aus?«

»Die halten aus!«

»Dann vorwärts!«

Nun wollte sich dieser und jener noch anbietet, aber Gerhard wies sie zurück.

So ging es zum zweiten Male auf die gefährliche Fahrt. Auch diesmal erreichten die Männer glücklich ihr Ziel.

Die vier Personen, Vater, Mutter und zwei Kinder, weinten laut auf, als Gerhard ihnen das Seil zuwarf, mit dem Bemerken, es um den Schornstein zu schlingen.

Nun zogen sie sich langsam heran.

Diesmal mußte Gerhard das Seil halten, weil Böllermanns Hände bluteten.

Böllermann hob die vier Menschen auf das Floß.

Aber gerade als der Vater als letzter das Dach verließ, schwankte das Häuschen in seinen Grundfesten.

Der Schornstein stürzte in sich zusammen Und durch den gewaltigen Ruck wurde Gerhard mit Voller Gewalt herabgerissen und schlug im Fallen mit dem Hinterkopf gegen die berstende Mauer.

Böllermann schrie auf und stürzte, alle Gefahr mißachtend, auf seinen Herrn zu. Aber schon lag Gerhard im Wasser, das von seinem Blute gefärbt wurde.

Das Seil hatte sich jedoch so um Gerhards Körper gewickelt, daß er am Floß hängen blieb.

Böllermann warf sich platt auf das Floß und zog mit unendlicher Mühe den schweren Körper auf das Floß zurück.

Der Vater half ihm dabei, während die Mutter und die beiden Kinder laut jammerten. Das Floß schwankte heftig hin und her, und eine Weile drohte es umzuschlagen.

Böllermann achtete jetzt nicht darauf.

Er lag neben seinem verunglückten Herrn auf den Knien und sah mit tränenden Augen in das schmerzentstellte Gesicht.

Eine Blutlache bildete sich unter Gerhards zerschmettertem Hinterkopf. Schwer hoben sich die Lider des Verwundeten. Noch einmal blickten Fritz Gerhards Augen in des treuen Knechtes Gesicht.

»Böllermann — ich sterbe — Rose-Marie, sie soll stark sein, Hans, Rose-Marie, meinen Segen, Rose-Marie —«

Das waren Fritz Gerhards letzte Worte. Er streckte sich und verschied.

Böllermann schrie auf wie wahnsinnig, als er seines Herrn brechende Augen sah.

Er hatte diesen guten Herrn geliebt und verehrt wie alle, die ihn kannten. Er konnte es nicht fassen, daß dieses kraftvolle Leben mit einem Schlage zerstört war.

Dicke Tränen rannen über Böllermanns Wangen, als er sich endlich, nachdem er seinem Herrn die Augen zugedrückt hatte, erhob.

Unablässig wiederholte er dessen letzte Worte. Die mußte er doch Rose-Marie als letzten Gruß des Vaters mitbringen.

Die vier Menschen, die außer dem Toten noch mit ihm auf dem Floß waren, sahen starr vor Grauen auf ihren toten Retter.

Aber der Selbsterhaltungstrieb war starker, als alles Grauen.

Sie baten Böllermann, die Stange wieder zu ergreifen und sie an das Land zu bringen.

Mit zusammengebissenen Zähnen kam Böllermann ihrem Willen nach. Noch einmal galt es ein Ringen mit dem entfesselten Element.

Drüben wußten sie noch nicht, welches Drama sich auf dem Floß abgespielt hatte.

Sie empfingen das zurückkehrende Floß mit aufgeregten Jubelrufen.

Aber der Jubel verstummte, als man erst Böllermanns verstörtes Gesicht und dann den lang ausgestreckten Körper Gerhards sah.

Erschüttert starrten sie auf den toten Mann, als das Floß auf dem Trockenen war.

Sie wollten Gerhard herunterheben, aber da stieß sie Böllermann mit wilder Kraft von ihm fort.

»Rührt ihn nicht an, ihr alle habt ihn gemordet. Hättet Ihr auf ihn gehört, als es noch Zeit war, dann geschah das Unglück nicht.

Eure harten Taler werden Euch nun auch aus der Tasche verschwinden, aber meinen guten Herrn habt Ihr gemordet mit Eurem Geiz. Sein Leben hat er für Euch in die Schanze geschlagen, obwohl Ihr alle zusammen nicht soviel wert seid, als er allein!«

Diese Worte stieß Böllermann in wilder Heftigkeit hervor. Und niemand wagte ein Wort zu erwidern.

Stumm stellten die Männer aus den übrigen Brettern eine Bahre her und Böllermann legte seinen Herrn sorgsam und liebevoll darauf nieder, wie eine sorgsame Mutter ihr müdes Kind.

Schweigend setzte sich dann der Zug in Bewegung.

Böllermann fühlte nun doch die Abspannung seiner Kräfte. Er mußte die anderen die Bahre tragen lassen.

Müde und bedrückt ging er neben seinem Herrn her und hielt dessen kalte Hand in der seinen.

Als der Zug in halber Höhe des Hügels angekommen war, hob Böllermann die Hand.

Die Träger hielten still.

»Bleibt hier zurück. Ich will vorausgehen und meine Herrschaft vorbereiten!« sagte der Großknecht.

So hielten die Träger mit Gerhards Leiche an der Gartenmauer und sahen Böllermann betreten nach.

Dieser stieg mit schweren Schritten vollends hinan.

Er fürchtete sich vor Rose-Maries Jammer, denn er wußte, wie diese an ihrem Vater hing.

Oben auf dem Hofe herrschte ein unglaubliches Durcheinander.

Die ersten Geretteten waren oben eingetroffen und hatten Wunderdinge von Gerhards und Böllermanns Heldenmut erzählt.

Auch Rose-Marie hatte zugehört. So stolz sie aber auch auf ihren herrlichen Vater war, so wild klopfte ihr Herz vor Angst.

Noch war er ja nicht in Sicherheit Hatte er doch noch ein zweites Mal die Todesfahrt gewagt.

Während sie Fräulein Ulrike half, Brot an die Obdachlosen zu verteilen, betete sie inbrünstig zu Gott, daß er den Vater beschützen möge.

Und nun, als sie eben über den Hof ging, um noch einmal nach Musch zu sehen, erblickte sie plötzlich am Hoftor Böllermann.

Wie gejagt flog sie auf ihn zu und umklammerte seinen Arm.

»Böllermann, wo ist Vati?« rief sie halb erstickt vor Erregung.

Sie blickte in das verstörte Gesicht des treuen Knechtes und da war ihr zumute, als griffe eine kalte Hand würgend an ihren Hals.

»Böllermann — der Vater?« stieß sie zitternd hervor und schüttelte ihn in wilder Angst.

Böllermann liefen die Tränen über das Gesicht.

Er machte eine hilflose Bewegung und deutete mit seinen blutenden, zerschundenen Händen hinter sich, den Hügel hinab, wo die Gruppe Menschen schweigsam um die Bahre standen.

Rose-Marie griff mit einem dumpfen Laut an ihre Schläfen und dann lief sie plötzlich in wilder Hast den Hügel hinab. Die Leute, die sie kommen sahen, wichen scheu zur Seite, und gleich darauf stürzte Rose-Marie mit einem verzweifelten Aufschrei über ihren toten Vater in die Knie.

Böllermann lief den Weg zurück, als er diesen Schrei vernahm. Er rief Fräulein Ulrike zu, was geschehen war, damit diese ihre Herrin vorbereiten konnte.

Keuchend langte er neben Vater und Tochter an.

Mit einer Zartheit, die man dem derben Knechte gar nicht zugetraut hätte, beugte er sich zu ihr nieder.

In dieser Stunde vergaß er, daß er in den letzten Jahren das junge Mädchen »Sie« und »Fräulein Rose-Marie« genannt hatte.

Jetzt war sie ihm wieder das hilflose Kind, das er früher oft ans den Armen getragen hatte.

»Rose-Marie, ich habe Dir noch etwas auszurichten von Deinem Vater, seine letzten Worte, ehe er starb!« sagte er leise.

Sie hob das leichenblasse, starre Gesicht zu ihm empor und sah ihn mit jammervollem Blick an.

»Böllermann, er kann ja nicht tot sein, mein lieber, lieber Vati, nicht wahr, er ist nicht tot?« sagte sie mit schmerzdurchzitterter Stimme.

Er streichelte unbeholfen die tote Hand seines Herrn.

»Wie ein Held ist er gestorben, wie ein Held! Alle die anderen danken ihm das Leben, ihm allein. Ich wäre nicht hinausgefahren ohne ihn. Alle sind gerettet — nur er nicht!«

Sie küßte das tote Antlitz.

»Wie konnte der liebe Gott das zulassen, Böllermann? Mein Vati hat seit Jahren gebeten und gewarnt, soll er das einzige Opfer sein, er, der schuldlos ist an dem großen Unglück!« rief sie jammernd aus und ihre Augen blickten vorwurfsvoll in die scheuen Mienen der Umstehenden. Und dann warf sie sich in wildem Schmerz über den Vater nieder.

»Rose-Marie —- willst Du seine letzten Worte nicht hören?« fragte Böllermann.

Sie richtete sich schluchzend auf, ohne den Vater loszulassem und sah ihn fragend an.

Da kniete er neben ihr nieder, nahm seine Mütze ab und wiederholte mit zitternder Stimme Gerhards letzte Worte:

»Böllermann,« ich sterbe — Rose Marie, sie soll stark sein, Hans, Rose-Marie, meinen Segen, Rose-Marie —«

Ein Zittern Iief über Rose-Maries Körper.

»Stark sein,« das war der letzte Wunsch des Vaters, den er ihr mit seinem Segen schickte, in den er auch Hans einschloß. »Stark sein,« so hatte er ihr auch bei seinem Fortgehen geboten. »Sei kein Feigling, Rose-Marie,« hatte er gesagt, und dann: »Nun zeige, daß Du Deines Vaters Tochter bist!«

Ihres Vaters Tochter, dieses herrlichen Vaters Tochter, der den Heldentod gestorben war! Ja, stark mußte sie sich zeigen, um dieses Vaters würdig zu sein, stark für sich und ihre arme, kleine Musch.

Sie erhob sich. Diese Stunde hatte Rose-Marie um Jahre gereift.

Böllermann ließ sie nicht aus den Augen.

Er gab den Trägern ein Zeichen und der traurige Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Böllermann und Rose-Marie schritten rechts und links von der Bahre.

Im Hofe standen die vielen obdachlosen Menschen und sahen mit blassen Gesichtern auf den traurigen Zug. —

* *

*

Frau Gerhard war, als ihr Fräulein Ulrike das Unglück meldete, ohnmächtig zusammengebrochen.

Rose-Maine fand sie noch bewußtlos, als sie zu ihr ins Zimmer trat.

Nie wußte das junge Mädchen später zu sagen, wie sie die ersten Stunden nach des Vaters Tod vollbracht hatte, trotzdem sie scheinbar ruhig erschien.

Ihr war zumute, als müsse nun die ganze Welt in Trümmer gehen, als schwebe sie nun fortan ohne Halt und Stütze in einem wesenlosen Nichts.

Sie ging von der fassungslos niedergebrochenen Mutter zu dem toten Vater und von diesem zurück zur Mutter, und wußte nicht, was sie tat.

Nur zwei Worte kreuzten immerfort durch ihren Kopf: »Stark sein — stark sein.«

Der Tag ging langsam und bleiern zu Ende.

Ein Teil der Obdachlosen war in der Kirche untergebracht worden für die Nacht, die anderen lagerten sich auf dem Heuboden und in Ställen und Scheunen auf Gerhards Gut.

Erschöpft von den Aufregungen des Tages, fiel alles in einen schweren Schlaf.

Nur Böllermann und Fräulein Ulrike wachten bei Rose-Marie und ihrer Mutter.

Fräulein Ulrike saß am Bett der fiebernden Frau Gerhard und Böllermann kauerte im Arbeitszimmer seines Herrn, den man dort aufgebahrt hatte, neben der Tür, und hielt mit Rose-Marie die Totenwache.

Rose-Marie kniete neben dem toten Vater und schaute in sein stilles Gesicht, das die Majestät des Todes- noch ehrfurchtgebietender erscheinen ließ.

Es war, als ob sie Zwiesprache hielt mit dem geliebten Toten, als ob sie sich das geliebte Gesicht einprägen wollte für alle Zeit. Und in ihrem Herzen klangen seine letzten Worte.

Sein letzter Gedanke hatte ihr gegolten, hatte sie gesucht in Todesnot. Und seinen Segen hatte er ihr gesandt, ihr und Hans.

In Rose-Maries Seele erwachte plötzlich eine heiße Sehnsucht nach Haus Ramberg. Wäre er jetzt bei ihr, er, der den Vater auch so sehr liebte!

Könnte sie sich in seine treuen Bruderarme flüchten und alle Angst und Not ihres Herzens an seiner Brust ausweinen!

Sie erhob sich leise und trat an Böllermann heran.

»Ob man wohl eine Depesche abschicken könnte, Böllermann?«

Er blickte zu ihr auf.

»An den jungen Herrn, nicht wahr?«

Rose-Marie nickte.

»Das ist schon besorgt, Fräulein Rose-Marie; der Herr Doktor wollte von der Stadt aus depeschieren Er mußte ohnehin der Behörde melden, was hier geschehen ist!«

»Ist denn der Weg nach der Stadt passierbar?«

»Der obere Weg über den Wald, das ist nur ein kleiner Umweg!«

»Dann ist es gut, dann wird Hans morgen kommen!« sagte Rose-Marie aufschluchzend.

Böllermann streichelte ihre Hand.

Sie sah ihm in die treuen Augen.

»Guter Böllermann — ich habe Dir noch gar nicht gedankt, daß Du bei Vati geblieben in Not und Gefahr, daß Du mir seinen letzten Segen brachtest!«

Er antwortete nicht, schüttelte nur hilflos den Kopf.

Die Tränen, die er nicht weinen wollte, würgten ihn im Halse.

Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil V)

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