Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil V) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 20

Aschenbrödel und Dollarprinz

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Inhaltsverzeichnis

John Stratter saß unmutig in seinem eleganten Hotelzimmer und schaute auf die Linden hinab. Er war vor einigen Tagen mit seinem Sekretär Mister Fogham und seinem Diener in Berlin eingetroffen, nachdem er einige Zeit in Hamburg in Geschäften zu tun gehabt hatte. Hier war nun gestern plötzlich sein Sekretär erkrankt und musste in ein Sanatorium im Westen Berlins geschafft werden.

Das war John Stratter aus mehr als einem Grund unangenehm. Der Hauptgrund war, dass sich John Stratter gern in der Öffentlichkeit von seinem Sekretär vertreten ließ. So oft es ihm unangenehm war, als Zielscheibe unangebrachter Neugier zu dienen, wechselte er einfach mit seinem Sekretär die Rollen.

Aber auch sonst hatte er sich sehr an Mister Fogham gewöhnt, und außerdem tat es ihm auch ehrlich Leid, dass Mister Fogham leiden musste.

Er hoffte sehr, dass sein Zustand nicht bedenklich sein würde. Das sollte er erst heute bei seinem Besuch im Sanatorium erfahren, denn gestern war die Untersuchung noch nicht abgeschlossen gewesen.

Er sah nach der Uhr, und da er sich überzeugte, dass es an der Zeit sei, zum Sanatorium hinauszufahren, klingelte er nach seinem Diener. Er befahl, das Auto vorfahren zu lassen.

Wenige Minuten später fuhr er davon, und in einer knappen Viertelstunde stand er vor dem Bett seines Sekretärs.

„Wie geht es Ihnen, lieber Fogham?“, fragte er teilnehmend.

Der Kranke sah mit müden Augen zu der stattlichen Erscheinung seines Herrn empor.

„Leider nicht gut, Mister Stratter, die Schmerzen haben zugenommen.“

„Das tut mir sehr Leid, mein lieber Fogham. Abgesehen davon, dass ich es sehr bedauere, dass Sie leiden müssen – was tue ich nun hier ohne Sie? Sie fehlen mir sehr.“

Der Kranke versuchte zu lächeln.

„Es tut mir natürlich auch sehr Leid, dass ich Ihnen Unbequemlichkeiten verursache, Mister Stratter, aber leider kann ich es nicht ändern.“

John Stratter setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett.

„Well! Sie können es so wenig ändern wie ich. Ist ja auch Unsinn von mir, dass ich Ihnen den Kopf noch warm mache. Also sorgen Sie sich nicht, ich werde ja einen vorläufigen Ersatz für Sie auftreiben. Sie sind doch hier gut aufgehoben?“

„Sehr gut, Mister Stratter.“

„Well! Also denken Sie an nichts weiter, als dass Sie gesund werden. Hat Ihnen der Arzt schon gesagt, was Ihnen fehlt?“

„Nein, er wollte erst sichergehen, aber – er meint, dass ich wohl längere Zeit hier bleiben muss.“

„Dann ist es auch nicht zu ändern. Ich kann natürlich hier nicht auf Sie warten, denn Sie wissen, was ich noch zu erledigen habe. Sie dürften den Strapazen einer weiteren Reise wohl auch kaum gewachsen sein, und es ist das Beste, wenn Sie, sobald Sie wieder gesund sind, nach New York zurückkehren und mich dort erwarten.“

Der Kranke schloss matt seine Augen. Dann sah er wieder zu Mister Stratter empor.

„Wenn ich nur meine Stellung bei Ihnen nicht verliere, Mister Stratter.“

„Unsinn, mein lieber Fogham! Davon kann doch gar keine Rede sein. Also, ich will jetzt erst einmal den Arzt aufsuchen und sehe dann wieder nach Ihnen, good bye bis dahin!“

„Good bye, Mister Stratter!“

Stratter verließ das Krankenzimmer und begab sich zu dem leitenden Arzt des Sanatoriums, der ihn mit ernstem Gesicht empfing.

„Ich möchte mich erkundigen, Herr Doktor, ob das Befinden meines Sekretärs zu ernsten Besorgnissen Veranlassung gibt.“

Der Arzt zögerte eine Weile, dann sagte er rasch: „Sie wollen die Wahrheit und keine Beschönigung, wie ich mir denken kann.“

Mister Stratter hob sein markantes Gesicht, in dem jeder Zug von Energie und Entschlossenheit zeugte, obwohl er erst im Beginn der dreißiger Jahre stehen mochte.

„Volle Wahrheit, wenn ich bitten darf“, sagte er bestimmt.

„Nun denn, Mister Stratter, Ihr Sekretär hat ein schweres Leiden, das durch Nichtbeachtung verschleppt und verschlimmert worden ist. Der Zustand des Patienten ist äußerst Besorgnis erregend. Eine Operation hätte schon längst vorgenommen werden müssen, wenn eine Hoffnung auf Besserung möglich sein sollte. Diese Operation muss schnellstens stattfinden, sie ist unbedingt nötig, aber sie wird auf Tod und Leben gehen, weil der günstigste Zeitpunkt längst versäumt worden ist.“

Mister Stratter war blass geworden. Gesunde, starke Menschen haben meist ein großes Grauen vor allen Krankheiten. Und außerdem war ihm sein Sekretär lieb und sympathisch geworden. Er stand seit Jahren in seinen Diensten und hatte noch nie über sein Befinden geklagt, war nie auch nur einen Tag aus seinem Amt geblieben. Immer hatte er in dieser Zeit in seiner Nähe gelebt, gearbeitet und war sozusagen seine rechte Hand geworden. Und nun sollte er ihn vielleicht verlieren?

Schon dass er plötzlich, einige Tage nach ihrer Ankunft in Berlin, vollständig zusammenbrach, hatte ihn sehr erschreckt, aber da hatte er an eine vorübergehende Unpässlichkeit geglaubt. Nun aber, da er hörte, wie ernst Mister Foghams Zustand war, fühlte er sich erschüttert.

„Sie sehen mich ziemlich fassungslos, Herr Doktor. Ich habe nur an eine leichte Erkrankung geglaubt. Nie hat er mir Mitteilung gemacht, dass er ein so schweres Leiden mit sich herumträgt.“

„Anscheinend hat er das selber nicht gewusst.“

„Weiß er schon davon, dass er operiert werden muss?“

„Noch nicht. Ich wollte erst mit Ihnen darüber sprechen. Hat Mister Fogham Verwandte – Angehörige?“

„Nein, er steht ganz allein im Leben.“

„Dann braucht also außer Ihnen niemand von seiner bevorstehenden Operation benachrichtigt zu werden?“

„Nein, niemand.“

„So will ich gleich mit ihm sprechen und ihm die Notwendigkeit einer Operation klar machen. Sie muss spätestens morgen ausgeführt werden, sonst ist es zu spät – ich fürchte ohnedies, dass es schon zu spät ist.“

Mister Stratter strich sich über die Stirn, als sei ihm zu heiß.

„Das erschüttert mich, Herr Doktor, wenn man selbst noch nichts mit einem Arzt zu tun gehabt hat.“

Der Arzt sah wohlgefällig auf die schlanke, kraftvolle Erscheinung des Amerikaners.

„Man sieht es Ihnen an, dass gesundes Blut in Ihren Adern fließt. Übrigens – außer an der Kleidung merkt man Ihnen nicht an, dass Sie Amerikaner sind.“

„Ich hatte deutsche Eltern, Herr Doktor.“

„Ah so! Und beide Eltern schon tot?“

„Meine Mutter, die eine tüchtige Schwimmerin und sehr waghalsig war, ist vor Jahren beim Baden ertrunken, und mein Vater starb vor einigen Monaten an den Folgen eines Autounfalls.“

„Das schließt also nicht aus, dass sie gesundes Blut hatten und es Ihnen vererbten. Danken Sie Gott dafür!“

„Von ganzem Herzen!“

„Kann ich dabei sein, wenn Sie Mister Fogham die Eröffnung machen, dass er operiert werden muss? Es würde ihm vielleicht ein Trost sein.“

„So kommen Sie, Mister Stratter!“

Die beiden Herren gingen den langen Korridor hinunter bis zu dem Zimmer, in dem Mister Fogham untergebracht war. Sie traten ein, der Kranke lag ziemlich apathisch da. Erst als er Mister Stratter erkannte, richtete er sich ein wenig auf.

„Da bin ich wieder, mein lieber Fogham. Ich sprach mit dem Arzt über Ihren Zustand – leider hat er mir keine gute Auskunft geben können. Sie werden wohl eine Weile Geduld haben müssen, ehe Sie wieder gesund werden.“

Der Kranke wandte dem Arzt sein schmales, charakteristisches Gesicht zu. In seinen Augen lag eine brennende Frage.

„Was haben Sie mir zu sagen, Herr Doktor?“

Der Arzt setzte sich zu ihm.

„Ich muss Ihnen leider die Mitteilung machen, dass wir eine Operation vornehmen müssen, und zwar spätestens morgen.“

Alle Menschen haben Angst vor einer Operation, die einen mehr, die anderen weniger. Aber Mister Fogham bekämpfte diese Angst sehr schnell.

„Wenn ich nur bald wieder gesund werde!“

„Das wollen wir hoffen. Aber jede Operation ist ein Eingriff in die Konstitution eines Menschen, und der Arzt muss die Einwilligung des Patienten und seiner Angehörigen haben.“

„Ich habe keine Angehörigen.“

„Das sagte mir Mister Stratter schon. So bedarf ich nur Ihrer Einwilligung, und die geben Sie mir?“

„Gewiss, Herr Doktor, wenn Sie es für nötig halten.“

John Stratter bewunderte seinen Sekretär. Er selbst war gewiss ein unerschrockener Mensch, der jeder Gefahr ins Auge sehen konnte, aber eine Operation, Krankheit überhaupt, war etwas, das er fürchtete.

Mister Fogham wusste freilich nicht, dass es bei ihm um Leben und Tod ging – und das sollte er auch nicht wissen. Wozu ihn damit quälen? So zwang sich John Stratter zu einem sorglosen Gesicht und sagte ruhig:

„Also, mein lieber Fogham, dann ist ja alles in schönster Ordnung. Nun verhalten Sie sich recht ruhig, damit morgen alles gut geht. Nach der Operation sehe ich wieder nach Ihnen. Haben Sie noch besondere Wünsche, die ich Ihnen erfüllen kann?“

„Nein, außer dem Wunsch, bald gesund zu werden, damit ich mein Amt wieder antreten kann. Werden Sie sich solange behelfen können, Mister Stratter?“

„Es muss gehen und es wird gehen. Die Hauptsache für mich ist, dass ich als Ersatz für Sie eine Persönlichkeit finde, die statt meiner als John Stratter auftreten kann, wenn es nötig ist, denn leider bin ich auch hier überall die Zielscheibe eines neugierigen Interesses, das mir lästig ist.“

Mister Fogham lächelte matt.

„Mir hat es immer Spaß gemacht, wenn mich die Leute an Ihrer Statt mit ihrem Interesse beehrten.“

„Nun, damit ist es vorläufig vorbei, mein lieber Fogham; sobald Sie wieder aufstehen und reisen können, kehren Sie nach New York zurück und erholen sich gründlich, bis ich wieder heimkehre. Ich werde schon einen vorläufigen Vertreter für Sie finden.“

„Um Vorsicht brauche ich Sie wohl nicht zu bitten, Mister Stratter, beim Engagement eines Vertreters für mich.“

John Stratter lächelte gutmütig und strich dem Kranken leicht über die Stirn.

„Seien Sie nur unbesorgt, Sie wissen doch, dass ich eine gute Menschenkenntnis habe! Das habe ich doch schon damals bewiesen, als ich Sie unter einem halben Hundert anderer Bewerber um diesen Posten herausfand, obwohl Sie keine Referenzen hatten und fremd nach drüben kamen.“

Die Augen des Kranken leuchteten auf.

„Was Ihnen Gott lohnen möge, Mister Stratter. Ich danke Ihnen für dieses Wort, es beweist mir, dass Sie mit mir zufrieden sind.“

„Daran haben Sie doch nicht gezweifelt! Aber jetzt lasse ich Sie allein, Sie müssen Ruhe haben.“

John Stratter verabschiedete sich schnell und ging hinaus.

Er verließ das Sanatorium und bestieg das unten wartende Auto, um in sein Hotel zurückzukehren. Ein trauriges Gefühl war in ihm. Mister Fogham war seit Jahren sein ständiger Begleiter, und er fürchtete sich geradezu, sich an einen neuen Menschen gewöhnen zu müssen. Woher nun gleich einen Ersatz für Mister Fogham nehmen?

Missmutig suchte er im Hotel sein Zimmer wieder auf, nachdem ihm sein Diener Pelz und Hut abgenommen und nach seinen Befehlen gefragt hatte. Er hatte sich nur Tee bestellt. Bis der Diener den Tee brachte, ging er unschlüssig in seinem Zimmer auf und ab. Er war sonst ein Mensch von schnellen Entschlüssen, aber heute war ein unsicheres, quälendes Gefühl in ihm, weil er den Gedanken an Mister Foghams Krankheit nicht loswerden konnte. Nachdem er hastig eine Tasse Tee genommen hatte, kramte er am Schreibtisch unter den aufgestapelten Briefschaften. Das war alles noch von Mister Fogham geordnet. Auf einem Notizblock war auch angegeben, was in den nächsten Tagen erledigt werden musste. Und da fand John Stratter die Notiz:

„Am 31. Januar Presseball. Zwei Einlasskarten besorgt.“

Es fiel ihm nun wieder ein, dass er den Wunsch gehabt hatte, diesen interessanten Ball mit seinem Sekretär zu besuchen. Er fand die Karten unter den aufgestapelten Briefschaften und steckte sie zu sich. Heute war der 31. Januar. Und Mister Stratter beschloss, den Ball zu besuchen. Er hätte genug Gesellschaft haben können, denn er besaß eine Menge Empfehlungsschreiben an prominente Persönlichkeiten in Berlin, und im Übrigen hätte sein Name genügt, um ihn überall einzuführen. Aber gerade das widerstrebte ihm. Er hätte diese ganze Reise am liebsten inkognito gemacht, um nicht überall neugierig angestaunt und auf seinen Reichtum hin taxiert zu werden. Aber bei verschiedenen Geschäftsabschlüssen musste er doch selbst hervortreten. Sonst war ihm sein bekannter Name überall ein verdrießliches Hindernis. Und deshalb hatte er seinen Sekretär immer, wenn es ihm bequem war, seine Rolle spielen lassen. Mochte er sich mit der Neugier und Aufdringlichkeit der anderen herumplagen! Ihm machte es sogar Spaß. Aber nun hatte ihm Mister Fogham den Streich gespielt, krank zu werden. Armer Kerl! Morgen musste er unter das Messer, und – es ging um sein Leben. John Stratter schauerte wie im Frost zusammen. Er warf sich in einen Sessel am Fenster und schaute auf die Linden hinab. Er kam ins Grübeln. Am meisten beschäftigte ihn der Hauptgrund, der ihn nach Deutschland geführt hatte. Sein Vater, der vor wenigen Monaten gestorben war, hatte ihm vor seinem Tod eine Beichte abgelegt.

Er war vor vielen Jahren ein Tunichtgut gewesen, der leichtsinnig in den Tag hineinlebte und in nicht sehr langer Zeit ein ganz beträchtliches Vermögen, das ihm sein Vater hinterlassen hatte, durchbrachte. Als er dann plötzlich dem Nichts gegenüberstand und nur noch eine geringe Barschaft besaß, hatte es ihn, wie schon oft, an den Spieltisch getrieben, um zu versuchen, mit Hilfe der Karten seine misslichen Finanzverhältnisse aufzubessern. Stattdessen verlor er auch das Letzte.

Nun war er ganz ruiniert, und angeekelt von der Inhaltslosigkeit seines Lebens, von seiner eigenen Charakterlosigkeit, hatte er sich eine Kugel durch den Kopf schießen wollen. Es sollte nicht dazu kommen. Vor diesem letzten törichten Schritt hatte ihn ein Freund bewahrt, der sich zwar, seit er ein so sinnloses Leben führte, von ihm zurückgezogen hatte, nun aber, als die Not am höchsten war, unvermutet bei ihm auftauchte, gerade in dem Augenblick, als er sich die todbringende Waffe schon an die Schläfe hielt. Der Freund schlug sie ihm aus der Hand und machte ihm sehr energisch den Standpunkt klar. Er sagte:

„Es ist mir wahrlich nicht so sehr um dich, Walter, als um das Andenken deines Vaters zu tun, der mir geholfen hat, mein Studium zu beendigen. Ich habe deinem Vater meine Dankbarkeit nie beweisen können, so will ich es nun nach seinem Tod tun, indem ich versuche, seinem verlumpten Sohn wieder auf die Füße zu helfen. Schämst du dich nicht des Lebens, das du in den letzten Jahren geführt hast? All das schöne Geld, das dein Vater für dich verdient hat, hast du sinnlos vergeudet, und nun willst du auch noch die Feigheit begehen, dein Leben von dir zu werfen. Aber das leide ich nicht, solange ich es hindern kann. Trotz allem steckt ein guter Kern in dir, das weiß ich aus der Zeit, da du noch nicht in schlechte Gesellschaft geraten warst. Lass es nun genug sein der Torheiten und besinne dich darauf, dass du eines tüchtigen, ehrenhaften Vaters Sohn bist, den ich verehrt habe wie meinen eigenen. Reiß dich zusammen, Kerl, und mach wieder gut, was du verbrochen hast! Arbeite, wenn nicht anders mit deinen beiden gesunden Fäusten. Das ist ein Kapital, um das dich mancher beneiden würde. Komm mal in meinen Krankensaal, in die Klinik meines Professors, da wirst du viele finden, die deine Gesundheit als einen kostbaren Schatz betrachten werden. Nütze diesen Schatz, arbeite! Und so viel in meiner Macht steht, will ich dir über das Schlimmste weghelfen, deinem Vater zuliebe. Du hast die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das wieder zu erwerben, was du sinnlos vergeudet hast. Wie du es machst, ist deine Sache.“

So eindringlich waren diese harten, strengen Worte des Freundes gewesen, dass Walter Stratter sich wirklich seiner Feigheit schämte und dem Freund gelobte, weiterzuleben.

Dieser Freund, Georg Waldorf, der seit einiger Zeit Assistenzarzt in der Klinik eines bekannten Professors war, begnügte sich aber nicht damit, Walter Stratter aufzurütteln aus seiner feigherzigen Verzweiflung, sondern er opferte ihm auch noch seine sämtlichen Ersparnisse, die er sich abgedarbt hatte. Sie reichten zu einer Überfahrtskarte nach Amerika und zu einem Notpfennig für die erste Zeit drüben. Georg Waldorf brachte den Freund selbst an Bord des Dampfers, damit er nicht rückfällig wurde.

Und Walter Stratter war einer der wenigen, die drüben ihr Glück gemacht hatten. Er war wirklich zur Besinnung gekommen und hatte in harter Arbeit seine Jugendsünden gebüßt. Schon nach wenigen Jahren konnte er Georg Waldorf das geliehene Geld zurücksenden. Aber damit war seine Dankbarkeit nicht erschöpft. Er hatte nie vergessen, dass er dem Freund allein das neue, segensreiche und von Erfolg gekrönte Leben verdankte. Er blieb immer im Briefwechsel mit ihm und hatte später versucht, als er ein reicher Mann geworden war und Georg Waldorf in bescheidenen Verhältnissen blieb, ihm seine Hilfe angedeihen zu lassen. Aber Georg Waldorf lehnte stolz jeden Dankesbeweis ab.

Die beiden Freunde hatten sich nie wiedergesehen, seit Walter Stratter die Heimat verließ. Aber Walter Stratter hatte sich immer als Georg Waldorfs Schuldner gefühlt, und kurze Zeit vor seinem Tode hatte er seinem Sohn John eine umfassende Lebensbeichte abgelegt. Danach hatte er ihm gesagt:

„Verurteile nie einen Menschen, John, versuche zu helfen, wenn du auf Schuld und Fehler stößt! Nicht jeder ist schlecht, der einmal vom rechten Weg abirrt. Und meine Dankesschuld gegen Georg Waldorf hinterlasse ich dir als ein heiliges Vermächtnis. Ich bin diese Dankesschuld nicht losgeworden, und das quält mich. Denn ich danke Georg Waldorf nicht nur mein Leben, sondern auch alles, was dieses Leben mir noch Gutes gebracht hat. Auch das Glück an der Seite deiner Mutter, das Glück, das ich als Vater genossen habe – alles das hätte ich nicht mehr kennen gelernt, wenn er mir damals nicht die Waffe aus der Hand geschlagen und mich so großmütig zur Fahrt über den großen Teich ausgerüstet hätte. Und deshalb, mein Sohn, sollst du versuchen, diese Schuld abzutragen. Du sollst, sobald es dir möglich ist, nach Deutschland gehen, wozu ich mich nie mehr entschließen konnte, du sollst nach Düsseldorf reisen, wo mein Freund Waldorf lebt. Ich weiß, er hat in der Inflation sein ganzes Vermögen verloren und seine Gesundheit hat gelitten. Er ist mit seiner Familie auf das angewiesen, was er in seiner Praxis verdient. Diese Praxis ist sehr zurückgegangen, weil ihn ein Augenleiden behindert. Alles das weiß ich, und auf alle meine Bitten, mir zu gestatten, dass ich ihm helfe, hat er nur eine ruhige, aber bestimmte Ablehnung gehabt. Da musst du zusehen, wie du ihm helfen kannst, ohne seinen Stolz zu verletzen. Er hat drei Töchter, eine aus seiner ersten Ehe, zwei aus seiner zweiten Ehe. Du willst dir eine deutsche Frau heimholen, John, vielleicht – vielleicht gefällt dir eine seiner Töchter, so dass du sie heimführen möchtest. Das wäre die schönste Art, ihm zu danken. Mein inniger Segen würde bei einem solchen Bund sein.“

So hatte Walter Stratter zu seinem Sohn gesprochen, und dieser hatte seinem Vater zugesagt, alles zu tun, was in seiner Macht läge, um die Dankesschuld abzutragen.

Nachdem er seine Geschäfte in New York so weit geordnet hatte, dass er sich auf längere Zeit unbesorgt entfernen konnte, hatte er seine schon längst geplante Europareise angetreten. In Hamburg und Berlin hatte er noch Geschäfte zu erledigen, ehe er nach Düsseldorf reisen konnte. Und nun war ihm sein Sekretär krank geworden. Es war nötig, einen Ersatz für ihn zu finden, denn er hatte sich vorgenommen, erst einmal unter der Maske seines Sekretärs in das Haus Doktor Waldorfs zu gelangen, weil er hoffte, dann mehr Bewegungsfreiheit zu haben und besser seine Mission erfüllen zu können. Er nahm sich vor, gleich heute noch ein Inserat an verschiedene Zeitungen aufzugeben.

***

Nachdem er zu Abend gespeist hatte, kleidete er sich um. Viel Lust hatte er zwar nicht, den Ball zu besuchen, aber die Langeweile trieb ihn dazu. Gegen halb zehn Uhr fuhr er zum Zoo, wo der Presseball stattfand.

In der Gaderobenhalle herrschte bereits lebhaftes Gedränge. Fast alle Garderobenständer waren schon überfüllt. In einer Ecke des großen Raums entdeckte Stratter schließlich einen Stand, der noch nicht so stark besetzt war wie die anderen. Hier legte John Stratter seine Garderobe ab. Mit ihm zugleich tat das ein schlanker, junger Herr, ungefähr im gleichen Alter und von der gleichen Figur wie er. Dieser junge Mann trug keinen Pelz, sondern nur einen dünnen, ziemlich abgetragenen Mantel. Etwas in dem Gesicht des jungen Mannes fesselte John Stratter sofort. Es war ein gut geschnittenes Gesicht mit festen, charakteristischen Linien, die nur von einer fahlen Blässe beeinträchtigt waren. Es zuckte eine verhaltene Erregung in diesem Gesicht, und in den tief liegenden grauen Augen lag ein Ausdruck, der John Stratter zu denken gab. Mit solchen Augen pflegte man sonst nicht auf Bälle zu gehen, dachte er. Er las etwas wie starre Verzweiflung aus diesen Augen heraus.

Als der fremde junge Mann jetzt seinen Mantel neben John Stratters eleganten Pelz auf den Garderobentisch warf, gab es einen harten dumpfen Klang, wie wenn ein harter Gegenstand in der Tasche verborgen wäre.

Der fremde junge Mann fuhr bei diesem Ton aus seinem Brüten empor, und dann tastete seine Hand verstohlen in die Tasche des Mantels – und zog irgendeinen Gegenstand hervor, den er mit der Hand bedeckte. Dass ihn John Stratter scharf beobachtete, merkte er nicht. Er schob den Gegenstand verstohlen in die Hosentasche. Aber John Stratter, der mit einem unerklärlichen Interesse jede Bewegung des jungen Mannes verfolgte, konnte doch erkennen, dass es ein Revolver war.

Und dazu der starre Verzweiflungsblick?

Wider Willen gefesselt, folgte John Stratter dem jungen Mann hinauf in die strahlend erleuchteten Festräume. Überall herrschte hier ein reges Leben und Treiben. Langsam nur konnte man sich fortbewegen in dem endlosen Zug von Festteilnehmern, die zwischen den in den Nebenräumen aufgestellten Tischen hin und her wogten. Das Auge sah sich bald müde an den in leuchtender Farbenpracht prunkenden Toiletten, die mehr oder minder kostbar, von mehr oder minder schönen Frauen getragen wurden. Dazwischen verschwanden fast die schwarzen Fracks der Herren.

Stratter ließ den fremden jungen Mann nicht aus den Augen und hielt sich immer dicht an seiner Seite. Das war im Gedränge durchaus nicht auffallend, man wurde geschoben im dichten Gewühl. So gingen die beiden Männer Seite an Seite durch den Wintergarten, durch den Tombolasaal, und dann hinüber in den festlich mit Blumen geschmückten Marmorsaal, der den Mittelpunkt des Festes bildete.

Hier staute sich der Zug der Festgäste und John Stratter stand lange Zeit still an der Seite des fremden jungen Mannes mit den verzweifelten Augen. Immer sah er in das blasse Gesicht seines Nachbarn, und schließlich konnte er dem Wunsch, ihn anzusprechen, nicht länger widerstehen.

„Ein tolles Gewühl! Zum Tanzen ist absolut kein Platz, man kann nicht vor und rückwärts.“

Der Angeredete zuckte zusammen und fuhr aus seinem dumpfen Brüten empor. Er sah John Stratter mit einem Blick an, der aus weiter Ferne zurückzukommen schien.

„Ja, wer zum Tanzen hier hergekommen ist, wird nicht auf seine Kosten kommen“, rang es sich wie widerwillig von seinen Lippen.

John Stratter wollte das Gespräch nicht wieder einschlafen lassen und fuhr fort:

„Zu einem Ball gehen doch die meisten Menschen in der Absicht, zu tanzen.“

„Diese großen Berliner Bälle sind meistens so stark besucht, dass zum Tanzen kein Platz ist“, erwiderte der fremde junge Mann höflich, aber teilnahmslos.

„Sie scheinen schon mehr von diesen Bällen besucht zu haben. Ich beteilige mich zum ersten Mal an einem solchen und bin ganz fremd hier. Würden Sie mir sagen können, wer die schöne, blonde Frau da drüben in der Loge ist? Sie trägt ein fliederfarbiges Kleid und ist von einer Schar Herren umringt.“

Der junge Mann wandte seinen Blick nach der angegebenen Richtung. Einen Moment verlor sich der starre Ausdruck seiner Augen. Etwas Weiches, Sehnsüchtiges lag in seinem Blick, und ein mattes Lächeln huschte um seinen Mund.

„Das ist die Filmschauspielerin Henny Porten.“

John Stratter reckte sich, um besser sehen zu können.

„Ah, richtig, mir erschien das Gesicht doch bekannt! Eine schöne Frau!“

Der junge Mann seufzte tief auf. Henny Porten sah wirklich bezaubernd aus mit ihrem blonden Haar und ihren schönen Augen. Ihr Lächeln, ein süßes, frauliches Lächeln, schien alle Menschen zu betören, die es sahen. Sie sah aus wie die holde Verkörperung des blühenden, lachenden Lebens. Und ringsum noch tausend schöne Frauen im verlockenden Glanz ihrer Reize. Dazu die rhythmisch wiegende Musik, ringsum an den Tischen soupierende Menschen, Gläserklingen, Lachen und Scherzen – wieder stieg ein tiefer Seufzer empor aus der Brust des fremden jungen Mannes. John Stratter vernahm diesen Seufzer und sein Interesse an dem jungen Mann nahm immer mehr zu.

Er fragte ihn noch nach dieser und jener auffallenden Erscheinung, und meist konnte er ihm Bescheid geben. „Sie sind sicher Berliner, da Sie fast alle prominenten Persönlichkeiten kennen?“, fragte John Stratter nach einer Weile.

Der junge Mann machte ein abweisendes Gesicht und zog die Stirn zusammen. Anscheinend war ihm das Interesse des anderen unbequem. Er zog es vor, auf diese Frage nur mit einem Kopfnicken zu antworten.

Es wurde jetzt durch Zufall ein kleiner Tisch, der an einer Säule stand, neben ihnen leer.

„Da, wir haben Glück, mein Herr! Wollen wir uns diesen Tisch nicht erobern? Er ist frei geworden.“

Ohne eine Antwort sank der fremde junge Mann wie kraftlos in einen der Stühle, und John Stratter nahm den anderen Platz ein. Er bestellte bei einem vorübergehenden Kellner eine Flasche Sekt, und dieser brachte wie selbstverständlich zwei Gläser dazu, weil er glaubte, dass die Herren zusammengehörten. Als John Stratter den Sekt bezahlt hatte, sagte er mit gewinnendem Lächeln:

„Der Kellner hat uns für zusammengehörig betrachtet, und Sie werden nun lange warten müssen, ehe er wieder in die Nähe kommt und Ihnen eine Erfrischung bringen kann. Wollen Sie mir deshalb nicht Gesellschaft leisten? Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie mich ein wenig orientierten über die prominenten Persönlichkeiten.“ Und John Stratter füllte wie selbstverständlich beide Gläser.

Der junge Mann machte eine brüske Bewegung. Schroff kam es über seine Lippen:

„Ich bin nicht in der Lage, mich revanchieren zu können, mein Herr, denn ich habe meine letzte Barschaft draußen an der Garderobe abgegeben. Die Karte zu diesem Ball erhielt ich nur durch Zufall – ich hätte sie nicht bezahlen können.“

Es klang eine herbe Bitterkeit aus diesen Worten, eine Bitterkeit, die John Stratters Mitleid weckte.

„Einer Revanche bedarf es nicht! Sie verpflichten mich zu Dank, gestatten Sie mir, dass ich mich dafür revanchiere.“

Ein seltsam heiseres Auflachen kam über die Lippen des jungen Mannes.

„Nun wohl, mein Herr, heute ist mir alles eins, heute lasse ich mich auch mit Sekt traktieren, den ich nicht selber bezahlen kann, ich …“

Er sprach nicht weiter. Hastig stieß er sein Glas gegen das John Stratters – und trank es in einem Zug leer. Dann erhob er sich plötzlich, sah John Stratter mit einem entschlossenen Blick an, klarer und ruhiger als zuvor, und sagte mit fester Stimme:

„Gott lohne Ihnen diesen Trunk, mein Herr! Aber ich kann nicht länger hier bleiben. Dieser Festtrubel ist kaum noch erträglich für mich.“

Er kam aber im Gewühl nicht so schnell vorwärts, wie er es wohl gewünscht hatte. John Stratter, den es magnetisch hinter ihm herzog, konnte ihm ohne Schwierigkeit folgen. So gut es ging, bahnte sich der fremde junge Mann einen Weg durch das Gewühl, schritt wieder durch den Tombolasaal, den Wintergarten und die breite Treppe hinab nach der großen Garderobenhalle. John Stratter sah, dass er sich seine Garderobe geben ließ, und sah, dass er tastend nach der Stelle fühlte, wo er die Schusswaffe verborgen hielt. John rief einen Angestellten herbei. Dem gab er seine Garderobenmarke und ein ansehnliches Trinkgeld.

„Schnell, holen Sie mir meine Sachen aus der Garderobe da hinten!“, sagte er.

Der Angestellte brachte ihm auch schleunigst seine Garderobe herbei. Es geschah in dem Moment, als der fremde junge Mann gerade durch das Portal ins Freie verschwand. Schnell warf John seinen Pelz über, stülpte seinen Hut auf und folgte ihm.

Draußen hatte die schier endlose Wagenreihe der Ankommenden inzwischen ein Ende gefunden, nur vereinzelte Wagen fuhren noch vor und einige fuhren auch schon wieder ab. John Stratters Auto stand wartend an der verabredeten Stelle, aber er rief es jetzt nicht herbei, er spähte nach dem jungen Mann aus und erblickte ihn schon jenseits der Lichtgrenze. Er strebte anscheinend dem Dunkel des Tiergartens zu.

Ohne einen Augenblick zu zögern, folgte John Stratter. Warum er das tat, wusste er selber nicht. Etwas Unerklärliches zwang ihn dazu. Seit er gesehen hatte, dass der junge Mann den Revolver in seine Tasche steckte, hatte er intensiv an seinen Vater denken müssen, an dessen Beichte, an seinen Entschluss damals, seinem Leben ein Ende zu machen. Ihm war, als hörte er die Stimme seines Vaters sagen: „Da ist auch einer, der dem Leben entfliehen will und der gerettet werden kann, wie ich gerettet wurde. Lass es nicht zu, dass er sein junges Leben von sich wirft! Hilf!“

Und wie unter einer suggestiven Macht folgte er dem Fremden immer tiefer in den Tiergarten hinein.

Nun schien es dem jungen Mann wohl endlich einsam genug zu sein, er sank plötzlich auf eine Bank.

John Stratter beeilte sich, schnell näher zu kommen. Im matten Schein einer entfernten Laterne sah er, dass der junge Mann seinen Mantel auseinander schlug und aus der Hosentasche einen Gegenstand hervorzog. Es blitzte etwas flüchtig im Laternenlicht.

John Stratter kam schnell vollends heran und stand nun dicht hinter der Bank, gerade in dem Augenblick, als der junge Mann seinen Hut vom Kopf stieß und die Hand mit der Waffe emporhob, um sie an die Schläfe zu setzen.

Im gleichen Moment umfasste John Stratters Hand die des jungen Mannes mit hartem Griff und drückte sie herunter.

„Was Sie jetzt tun wollen, kann niemals gutgemacht werden.“

Der junge Mann war zusammengezuckt und starrte mit fahlem, verzerrtem Gesicht zu ihm auf.

„Sie? Was wollen Sie von mir? Weshalb sind Sie mir gefolgt?“, stieß er heiser hervor.

„Das sind drei Fragen auf einmal. Ich sah in der Garderobe, dass Sie dieses Ding da zu sich steckten, und ahnte, dass Sie eine Torheit begehen wollten. Deshalb blieb ich an Ihrer Seite.“

Der junge Mann stöhnte auf.

„Warum? Was geht es Sie an, wenn ich Schluss machen will? Weshalb wollen Sie mich daran hindern?“

„Weil ein mir sehr lieber Mensch eines Tages, in seiner Jugend, auch einmal so eine Torheit begehen wollte und zu seinem Heil daran gehindert wurde. Das Andenken an ihn zwang mich, Sie vor dieser Torheit zu bewahren.“

Ein bitteres Lachen brach heiser aus der Brust des jungen Mannes.

„Bei mir ist es keine Torheit. Sie hätten sich die Mühe und mir den Aufschub sparen können. Bei mir ist es ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit. Ich habe mich vergangen am Gesetz und will mich selber richten – gehen Sie, lassen Sie mich allein und halten Sie nicht länger auf, was geschehen muss! Wenn ich diese Nacht überlebte, würde ich morgen gebrandmarkt sein.“

„Morgen? Die Nacht ist noch lang. Kann ich Ihnen nicht helfen?“, fragte John Stratter, dessen Interesse immer stärker wurde.

Der junge Mann sah zu ihm auf.

„Mir helfen? Nein, nein. Aber ich merke, es ist nicht nur Sensationslust, die Sie bewogen hat, mir zu folgen. Gut, Sie sollen meine Geschichte hören, wenn Sie es wollen. Aber – dann lassen Sie mich allein und hindern Sie mich nicht länger an meinem Vorhaben.“

„Nun gut, sprechen Sie, und wenn ich danach einsehe, dass ich Ihnen nicht helfen kann, werde ich Sie ihrem Schicksal überlassen.“

Damit setzte sich John Stratter neben den jungen Mann auf die Bank, dabei unbemerkt den Revolver zu sich steckend, der aus der Hand geglitten war und auf der Bank zwischen ihnen lag.

Der junge Mann begann:

„Ich war Offizier. Als ganz junger Leutnant ging ich an die Front und habe den ganzen Feldzug mitgemacht, bis zum unrühmlichen Ende. Nach dem Zusammenbruch hatte auch ich meine Existenz verloren. Mein Vater besaß nur ein bescheidenes Vermögen, das mehr und mehr zusammenschmolz. Verdienen konnte er nichts mehr, weil er leidend war. So war nicht daran zu denken, dass er mir helfen konnte. Ich hätte es auch nicht angenommen. So schlug ich mich schlecht und recht durch – es gab wenig Möglichkeiten für einen, der nichts anderes gelernt hatte, als Offizier zu sein. Mein Vater hatte eben nur die Erziehung auf der Kadettenanstalt für mich ermöglichen können. Ich lebte aus der Hand in den Mund, aber in all der gemeinen Lebensnot erblühte mir ein süßes, stilles Glück – ich liebte und wurde wieder geliebt. Und wir beide wussten doch, dass wir auf eine Vereinigung nicht hoffen durften in absehbarer Zeit. Aber trotzdem – wir liebten uns und waren in aller Not und Sorge zuweilen sehr glücklich.

Dann bekam ich doch endlich eine Stellung, wo ich meine Sprachkenntnisse ausnützen konnte, und erhielt dafür ein Gehalt von hundert Mark im Monat. Davon musste ich meinen Eltern noch abgeben, bis sie kurz nacheinander starben.

Um sie wenigstens anständig beerdigen zu lassen, bat ich meinen Chef um einen Vorschuss. Er wurde mir gewährt, unter der Bedingung, dass ich monatlich abzahlte.

Die wenigen Habseligkeiten, die meine Eltern hinterlassen hatten, gingen für kleine Schulden, für Arzt und Apotheke drauf, und ich bezog ein bescheidenes Zimmer, wo ich monatlich mit Frühstück dreißig Mark zahlen musste. So blieben mir noch vierzig Mark, solange ich den Vorschuss abzahlen musste, für meinen Unterhalt. Das wollte nicht reichen. Und ich war doch jung und lebensfroh. Aber mit verbissener Energie lebte ich dieses Leben weiter. Der einzige Lichtblick darin war zuweilen ein Zusammensein mit dem Mädchen meiner Liebe, das treu zu mir hielt, obwohl ihre Eltern sie drängten, die Bewerbung eines begüterten Mannes anzunehmen. Die Angst, sie zu verlieren, quälte mich mehr als Hunger und Not. Aber es sollte noch schlimmer kommen. In dem Geschäft, wo ich angestellt war, wurde, wie überall, mit dem Angestelltenabbau begonnen. Zuerst wurden natürlich die ledigen Leute entlassen, und ich wäre wohl auch schon längst entlassen worden, wenn ich nicht den Vorschuss noch abzuzahlen gehabt hätte. Heute habe ich die letzte Rate von diesem Vorschuss abziehen lassen, und der Chef teilte mir zugleich mit, dass er mich, so Leid es ihm tue, auch entlassen müsse.

Ich erhielt meine Kündigung.

Zugleich mit dem Rest meines Gehalts überreichte mir der Chef eine Summe von fünfhundert Mark, die ich an einen Lieferanten auf der Post einzahlen sollte. Mein Verhängnis wollte, dass die Post schon geschlossen war, als ich hinkam. Ich musste also das Geld bei mir behalten, um es am nächsten Morgen einzuzahlen.

Sehr betrübt, dass ich meine Entlassung bekommen hatte, traf ich mich mit meiner heimlich Verlobten, und sie war natürlich auch sehr erschrocken, als sie hörte, dass mir gekündigt worden war. Wir gingen an diesem Abend sehr mutlos auseinander.

Ein unseliger Zufall führte mir einen früheren Regimentskameraden in den Weg, der auch seine Existenz verloren hatte und von dem lebte, was er an einer Spielbank einnahm. Wir kamen ins Plaudern, er begleitete mich auf meine Bude und gab mir die Einlasskarte zu dem Presseball. Er meinte, er selbst sei verhindert zu gehen, aber ich könnte mir ja die Chose mal ansehen.

Wenn man jung ist und so ausgehungert nach derartigen Vergnügungen, dann weist man so etwas nicht von sich. Ich sah mir meinen Frack an, der schon so abgetragen war, dass es nicht lohnte, ihn zu verkaufen, und mein Freund meinte lachend, am Abend lasse er sich schon noch sehen, wenn ein Kerl wie ich drin stecke. Ich probierte ihn an – und wenn er auch ein wenig eng war, es ging.

Beim Umkleiden legte ich meine abgerissene Brieftasche auf den Tisch, mein Freund sah die Banknoten daraus hervorsehen und neckte mich mit dem vielen Mammon. Ich sagte ihm, dass ich fünfhundert Mark davon auf der Post einzahlen müsse.

Seine Augen hatten einen fieberhaften Glanz bekommen. „Mensch“, sagte er, „mit diesem Geld kannst du in einigen Stunden das Zehnfache gewonnen haben. Sei kein Narr, komm mit mir in den Spielklub und versuche dein Heil!“

Mir wurde schwarz vor den Augen, eine brennende Sehnsucht, aus meiner Not herauszukommen, packte mich, ich dachte an meine Entlassung – wie, wenn ich einige tausend Mark gewinnen würde? Damit konnte ich etwas anfangen, vielleicht den Grundstein zu einer neuen Existenz legen. Meine Fantasie gaukelte mir verlockende Bilder vor. Ich sah mich schon mit meiner kleinen Trude verheiratet. Es bedurfte kaum noch der Überredungskünste meines Freundes. Das Fieber saß mir im Blut.

Ich ging mit in den Spielklub, und zwei Stunden später – hatte ich alles verloren, die anvertrauten fünfhundert Mark und den Rest meines Gehalts.

Es war ein fürchterliches Erwachen aus meinem Traum. Ich bin ruiniert, ehrlos, habe anvertrautes Geld unterschlagen, das ich nicht ersetzen kann. Völlig verzweifelt taumelte ich auf die Straße – und kam am Zoo vorüber, sah die glänzende Auffahrt der Wagen, dachte daran, dass ich eine Karte zu dem Presseball besaß. Eine heiße Sehnsucht, noch einmal das schöne, lachende Leben zu schauen, ehe ich mich selbst richtete, kam über mich.

Das andere wissen Sie. Und Sie sehen doch nun ein, dass ein Mensch wie ich lieber sterben wird, als morgen ins Gefängnis zu wandern. Ich kann nicht weiterleben als ehrloser Mensch – kann nicht. Dazu sitzt mir zu fest im Blut, was ich von meinem Vater als Recht erkennen lernte. Ich weiß, ich büße nur eine einzige schwache Stunde mit dem Leben, aber es muss sein. Nun lassen Sie mich allein!“

John Stratter hatte schweigend zugehört, aber er war tief bewegt. Alles, was dieser junge Mann sagte, trug den Stempel der Wahrheit. Und ihm war, als höre er seinen Vater sagen:

„Hilf, wie mir einst geholfen wurde.“

Und John Stratter war fest entschlossen, zu helfen. Seine Menschenkenntnis hatte ihn noch selten im Stich gelassen. Und dieses Gesicht hatte edle Züge. Die Verzweiflung des jungen Mannes war echt und sein Fehltritt entschuldbar. Um einer lächerlichen Summe halber wollte dieser junge, gesunde Mensch sein Leben auslöschen. Nein, das ließ Walter Stratters Sohn nicht zu. Er gab sich einen Ruck.

„Nein, ich lasse sie nicht allein. Sie dürfen Ihr Leben nicht zerstören. Sie lieben – was soll das Mädchen sagen, das Sie wiederliebt, wenn morgen Ihr Leben ausgelöscht sein würde?“

Der junge Mann machte eine verzweiflungsvolle Gebärde.

„Sprechen Sie davon nicht! Daran darf ich nicht denken, um ihretwillen wagte ich den Schritt, der mich ehrlos machte. Aber nie darf sie das wissen. Es ist auch für sie das Beste, wenn ich aus ihrem Leben verschwinde.“

„Um einer Lappalie willen wollen Sie Ihr junges Leben von sich werfen, das ist ein Unsinn“, sagte John Stratter fest und bestimmt.

Der junge Mann lachte rau auf.

„Eine Lappalie? Mein Herr, Sie scheinen sehr mit Glücksgütern gesegnet zu sein und haben wohl keine Ahnung, wie hoch so eine Summe sein kann. Aber ganz abgesehen von der Höhe der Summe, die ich vielleicht in monatelanger Arbeit ersetzen könnte – aber wenn sie mir morgen fehlt, kommt mein Vergehen an den Tag und ich werde verhaftet. Das würde Trude nicht überleben. Begreifen Sie doch, Herr, ich habe unterschlagen – unterschlagen!“

Die letzten Worte schrie er fast heraus.

„Nun, nun, sehen wir uns doch die Sache einmal ruhig an. Welcher Mensch kann von sich behaupten, dass er nicht einmal etwas getan hat, das er bereuen muss. Wir sind allzumal Sünder! Ich sagte Ihnen schon, das Andenken an einen Mann, der mir teuer ist und der auch einmal gestrauchelt war wie Sie, zwingt mich, Ihnen meine Hilfe anzubieten und Sie von Ihrem törichten Schritt zurückzuhalten. Hier haben Sie die fünfhundert Mark – und einiges darüber. Sie haben ja auch Ihr Gehalt verspielt und werden etwas mehr brauchen. Morgen Früh zahlen Sie das Geld bei der Post ein und dann denken Sie, dass Sie einen schweren Traum hatten, aus dem Sie aufgewacht sind.“

Der junge Mann sah John Stratter an, als träumte er, er sah auf die Geldscheine, die er aus der Brieftasche genommen hatte und ihm hinhielt. Ein Erschauern flog über ihn hin. Er schüttelte den Kopf.

„Nein, nein! Das kann ich doch nicht annehmen!“

John Stratter lachte gutmütig.

„Greifen Sie nur zu, man muss schnell zufassen, wenn sich einem eine glückliche Chance bietet, sonst kommt man zu nichts. Denken Sie an Fräulein Trude! Greifen Sie getrost zu, Sie werden es mir schon eines Tages zurückzahlen, ich warte, bis Sie es ohne Not tun können.“

„Nein, nein, das darf ich nicht, ich werde es wahrscheinlich nie zurückzahlen können. Ich sage Ihnen ja, ich verlor meine Stellung und weiß nicht, wann ich wieder etwas verdienen werde“, sagte der junge Mann und sah doch sehnsüchtig nach den Scheinen, die seine Begnadigung bedeuteten.

„Nun gut, wenn Sie mir das Geld nicht zurückzahlen können, dann buche ich es auf meinem Verlustkonto. Nehmen Sie es ruhig! Ich habe Sie gehindert, Ihrem Leben ein Ende zu machen, zwinge Sie zum Weiterleben und deshalb muss ich Ihnen auch helfen. Ich will mich nicht damit begnügen, Ihnen das Geld zu geben, ich will auch versuchen, Ihnen weiter zu helfen. So fassen Sie doch endlich zu! Und dann gehen Sie nach Hause, und morgen suchen Sie mich auf – dann wollen wir weiter über Ihre Lage sprechen.“

Es lag etwas so Beruhigendes und Vertrauen erweckendes in John Stratters Worten, dass in der Brust des jungen Mannes ein leiser Hoffnungsstrahl erwachte. Zögernd griff er nach den Geldscheinen und seine Augen sahen seinen Retter an wie eine Lichtgestalt des Himmels.

„Herr, ich weiß Ihren Namen nicht, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, weiß nur, dass von dieser Stunde an mein Leben Ihnen gehört. Ich kann nicht von Dankbarkeit sprechen – noch nicht, aber wenn das Leben jemals noch Wert für mich bekommen sollte, dann dürfen Sie meiner Dankbarkeit gewiss sein.“

„Well! Darüber werden wir später sprechen. Aber nun kommen Sie, dies ist ein ungemütlicher Ort, und wir wollen nicht länger hier bleiben.“

„Lassen Sie mich Ihnen wenigstens noch meinen Namen sagen. Ich heiße Ralf Bernau – hier sind meine Papiere.“

John Stratter sah scharf in das blasse, erregte Gesicht Ralf Bernaus.

„Ich verlasse mich auf meine Menschenkenntnis. Hier haben Sie meine Karte. Sie finden mich morgen Mittag gegen ein Uhr im Hotel Adlon.“

Ralf Bernau nahm die Karte und steckte sie zu dem Geld in seine Brieftasche. Dann hob er seinen herabgefallenen Hut auf und stülpte ihn achtlos auf den Kopf. Stumm schritten die beiden Männer wieder zurück. Am Zoo rief John Stratter das auf ihn wartende Auto herbei.

„Wo ist Ihre Wohnung?“, fragte er seinen Begleiter.

Der junge Mann atmete tief auf und sah wie erwachend um sich.

„Ich wohne in der Pestalozzistraße.“

„Well! Steigen Sie ein!“

Ralf Bernau sah ihn fast erschrocken an.

„Meine Wohnung liegt weit ab von Ihrem Hotel.“

„Das ist gleichgültig, steigen Sie nur ruhig ein, ich bringe Sie nach Hause.“

Ralf Bernau tat, wie ihm geheißen wurde. Schweigend saßen die beiden Männer im Auto, bis der Wagen in der Pestalozzistraße hielt. Hier bewohnte Ralf Bernau in der vierten Etage ein bescheidenes Zimmerchen.

„Auf Wiedersehen, Herr Bernau!“, sagte John Stratter in seiner ruhigen, gütigen Art.

Ralf sah ihn mit großen Augen an.

„Darf ich Ihnen die Hand drücken, dafür, dass Sie mir so viel Vertrauen schenken, nach allem, was Sie von mir wissen?“

John Stratter reichte ihm lächelnd die Hand.

„Schlafen Sie gut – und machen Sie keine Dummheiten! Alles Weitere morgen!“

„Ich werde kommen, mein Herr.“

Damit stieg Ralf Bernau aus, und der Wagen fuhr mit John Stratter davon.

Ralf Bernau sah eine Weile wie im Traum hinter ihm her, ehe er die Haustür öffnete und eintrat.

***

Doktor Georg Waldorf bewohnte mit seiner Familie eine kleine Etage in der Bahnhofstraße in Düsseldorf. Er war ein bekannter und beliebter Arzt mit einer guten Praxis gewesen, bis ihn sein gesundheitlicher Zustand, vor allen Dingen ein nervöses Augenleiden, in der Ausübung seines Berufs behinderte.

So war er in eine sehr peinliche Lage geraten, die noch dadurch verschärft wurde, dass seine zweite Gattin und seine Töchter sehr anspruchsvoll waren und sich in die veränderten Verhältnisse nicht schicken wollten. Eine Ausnahme bildete allerdings seine Tochter aus erster Ehe, die sehr bescheiden war und alles tat, was in ihrer Kraft stand, um dem Vater seine Sorgen zu erleichtern.

Seine zweite Frau war eine noch immer sehr schöne Erscheinung. Sie hatte ihn nur geheiratet, weil sie in ihm eine glänzende Versorgung gesehen hatte, und sie machte ihm nun das Leben noch besonders bitter, indem sie ihn mit Vorwürfen und Klagen überhäufte. Ihre beiden Töchter, Blandine und Asta, waren auch sehr unzufrieden, dass es nicht mehr aus dem Vollen ging, und lagen dem Vater fortwährend mit unerfüllbaren Wünschen in den Ohren, was natürlich nicht dazu beitrug, ihm sein Leben erträglicher zu machen.

Sein einziger Trost war seine älteste Tochter Ruth. Schon seit einigen Jahren hatte sie die Führung des Haushalts in die Hand genommen, denn ihre Stiefmutter behauptete, mit dem einen Dienstmädchen und dem geringen Wirtschaftsgeld nicht auskommen zu können. Die Stiefmutter und die Schwestern hatten den ganzen Tag mit der Pflege ihrer Schönheit und ihrer eigenen Person zu tun und konnten natürlich nicht selbst mit im Haushalt zugreifen. Es hatte allerhand Ärger und Misshelligkeiten gegeben, bis Ruth schließlich gesagt hatte:

„Lass es mich versuchen, Mama, ich werde mit dem Wirtschaftsgeld und mit dem einen Dienstmädchen schon auskommen.“

Frau Helene hatte ihre Stieftochter höhnisch angesehen und erwidert:

„Bitte, versuche dein Heil, du wirst ebenso gut wie ich einsehen, dass es einfach unmöglich ist. Mit diesem geringen Wirtschaftsgeld kann man einfach keinen Haushalt führen.“

Aber Ruth hatte das Kunststück fertig gebracht, ja, sie machte sogar noch kleine Ersparnisse, die sie dazu verwendete, dem geliebten Vater heimlich einige gute Zigarren oder ein Fläschchen Wein zuzuschmuggeln oder den Schwestern kleine Wünsche zu erfüllen. Nie dachte sie an sich, immer war sie nur darauf bedacht, dem Vater Unruhe und Sorgen zu sparen. Es hatte sich dann auch zwischen ihr und ihrem Vater mit der Zeit ein sehr inniges Verhältnis herausgebildet. Früher hatte sie oft zurückstehen müssen hinter der von ihrem Vater vergötterten zweiten Frau und ihren Töchtern, aber jetzt hatte der Vater erkannt, was für einen Schatz er an Ruth besaß. Seit er seiner Frau und seinen beiden jüngsten Töchtern nicht mehr jeden Wunsch erfüllen konnte, zeigten sie sich lieblos und kalt zu ihm, und nun wagte sich Ruth erst hervor mit ihrer Liebe für den Vater und wurde ihm ein Trost und eine wahre Stütze.

Ruths ganze Art, ihr liebesvolles, bescheidenes Wesen und auch ihr Aussehen erinnerten ihn nun täglich an seine erste Frau, die er sehr früh verloren hatte. Sie hatte ihn namenlos geliebt und – er konnte jetzt nicht mehr begreifen, wie er sie um der anderen willen hatte vergessen können. Zu der zweiten Frau hatte ihn eine blinde Leidenschaft getrieben, er hatte geglaubt, von ihr wiedergeliebt zu werden, aber in der sorgenvollen Zeit hatte er erkennen müssen, dass dies nicht der Fall gewesen war. Leer und kalt wäre nun sein Leben gewesen, wenn er Ruth nicht gehabt hätte, und mit stiller Wehmut dachte er an das stille, echte Glück, das ihm ihre Mutter einst bereitet hatte.

Je weniger er verdiente, je mehr sich seine Damen einschränken mussten, umso liebloser und kälter begegneten ihm Frau Helene und ihre Töchter und umso inniger und zärtlicher kam ihm Ruth entgegen. Sie stand zu ihm wie ein treuer Kamerad, besprach all seine Sorgen mit ihm, tröstete ihn über manches Missgeschick und versuchte ihn zu erheitern und zu beruhigen.

Das Verhältnis Ruths zu ihrer Stiefmutter und ihren Schwestern war sehr schwierig. Blandine und Asta bespöttelten Ruth und packten ihr immer noch mehr Arbeit auf und die Stiefmutter war noch kälter und liebloser zu ihr. Ruth ließ sich durch all dies nicht beirren.

Aber auch sie sah im Stillen sorgenvoll in die Zukunft. Was sollte werden, wenn der Zustand des Vaters sich verschlimmerte und er überhaupt nichts mehr verdienen konnte? Um sich selbst hatte sie keine Angst, sie wusste, dass sie sich immer ihr Brot würde verdienen können. Aber der Vater – und die Schwestern?

Es war in den ersten Tagen des Februar. Die Familie des Doktor Waldorf saß beim Frühstück, als das Dienstmädchen die Post hereinbrachte. Außer einigen Zeitungen und Drucksachen befand sich nur ein einziger Brief darunter, und dieser Brief war an Doktor Georg Waldorf adressiert.

Er öffnete ihn und las, dann hob er den Kopf und sah seine Damen durch die graue Schutzbrille fast betroffen an.

„Das kommt mir sehr unerwartet“, sagte er mehr zu sich selbst.

„Du hast doch keine schlimme Nachricht, lieber Vater?“, fragte Ruth besorgt. Sie saß neben ihm und machte ihm sein Frühstück zurecht. Ein schlichtes, mattblaues Frotteekleid umschloss ihre schlanke, jugendschöne Gestalt. Ihre beiden Schwestern bildeten einen scharfen Kontrast zu ihr in ihren eleganten Morgenkleidern. Sie hatten beide, der Mode entsprechend, ihr blondes Haar zu Bubenköpfen verschneiden lassen, was ihre etwas puppenhafte Schönheit noch puppenhafter erscheinen ließ. Gelangweilt sahen sie zum Vater hinüber, während ihre Mutter interessiert in einem Modejournal blätterte und darüber hinaus nur einen gleichgültig forschenden Blick auf ihren Gatten heftete.

Er strich sich über die hohe Stirn.

„Nein, nein, keine schlimme Nachricht, es könnte sogar eine freudige sein, wenn – wenn sie nicht so unerwartet käme und …“

Er sprach nicht weiter, sah nur etwas unsicher auf seine Frau.

Sie warf nervös die Zeitschrift hin.

„Was orakelst du wieder? Willst du dich nicht etwas präziser ausdrücken?“, fragte sie mit ihrer kalten, harten Stimme ungeduldig.

Der alte Herr zog seine Stirn leicht in Falten.

„Du kannst den Brief selbst lesen, Helene“, sagte er und reichte ihn ihr hinüber.

Frau Helene las den Brief erst mit einer gewissen Gleichgültigkeit, aber dann mit regem Interesse.

Sehr geehrter Herr Doktor!

Seit einiger Zeit befinde ich mich in Deutschland und weile gegenwärtig in Berlin, wo ich Geschäfte zu erledigen habe. Sobald sie erledigt sind, möchte ich mir erlauben, nach Düsseldorf zu kommen und Ihnen meinen Besuch zu machen. Mein Vater, dessen Tod ich Ihnen im August vorigen Jahres meldete, ist, wie Sie wissen, durch einen Autounfall verunglückt und an den Folgen nach kurzer Frist gestorben, aber er hat noch Zeit gehabt, mir eine Beichte abzulegen über Dinge, die weit hinter ihm lagen. Sie waren so liebenswürdig, mir in einem Schreiben Ihre Teilnahme an diesem schweren Verlust auszusprechen, und ich teilte Ihnen schon damals mit, dass ich den Wunsch hätte, Sie einmal kennen zu lernen. Heute sage ich Ihnen, dass dieser Wunsch lebendig geworden ist in der Stunde, da mein Vater mir gesagt hat, welchen großen Dienst Sie ihm einmal geleistet haben. Meinen Vater hat es noch in seiner letzten Stunde bedrückt, dass er die Dankesschuld nie hat abtragen können, weil Sie es ihm nicht gestatten wollten, und er hat mir diese Dankesschuld als heiliges Vermächtnis hinterlassen. Er hat es mir zur Pflicht gemacht, Sie so bald als möglich aufzusuchen und Ihnen seine letzten Grüße zu überbringen. Ich konnte mich nicht eher frei machen als jetzt, und nun erlaube ich mir, Ihnen meinen Besuch für die nächste Woche anzumelden – darf ich kommen und versuchen, meine Mission zu erfüllen? Bitte, wollen Sie mir hier nach Berlin mitteilen, ob Sie und Ihre hochverehrten Angehörigen mich empfangen wollen.

Ich begrüße Sie mit der Versicherung meiner Ergebenheit.

Ihr John Stratter

Frau Helene hob den Kopf, und in ihren Augen lag ein Flimmern.

„Das ist ja ein unerhörter Glücksfall, Georg“, sagte sie erregt.

Er sah sie fragend an.

„Wie meinst du das, Helene?“, fragte er mit einem unruhigen Ausdruck.

Sie sah ihn beschwörend an.

„Um Gottes willen, Georg, du wirst doch nicht wieder halsstarrig sein? Ich hatte Sorge, dass mit dem Tod deines Freundes Walter Stratter alle Hoffnungen auf seine Hilfe vernichtet seien. Gottlob hat er die Dankesschuld auf seinen Sohn übertragen. Nun endlich wirst du doch vernünftig sein und diese Schuld einkassieren.“

Georg Waldorf zog die Stirn wie im Schmerz zusammen.

„Du solltest mich lieber nicht daran erinnern, Helene, dass du eines Tages ohne Berechtigung einen Brief Walter Stratters an mich geöffnet hast und so ein Geheimnis erfuhrst, das ich nie einem Menschen enthüllt habe.“

„Mein Gott, hab dich doch nicht so! Eheleute sollen kein Geheimnis voreinander haben, und du siehst, dass Walter Stratter es seinem Sohn selbst anvertraut hat. Und das ist sehr gut! Nun wirst du ja endlich bereit sein, Hilfe von diesen reichen Amerikanern anzunehmen. Es geht uns doch wahrlich schlecht genug.“

Georg Waldorfs Gesicht war wie versteinert.

„Wir werden uns auch in diesem Punkt, wie in so vielen anderen, nicht verstehen lernen, Helene. Aber ich möchte dir noch einmal sagen, dass Walter Stratter mir durchaus keinen Dank schuldig war, wenn er auch immer in seinen Briefen von dieser Dankesschuld gesprochen hat. Ich trug eine Dankesschuld ab, als ich ihm damals half, weil sein Vater mir die Beendigung meines Studiums ermöglichte. Hätte mir Walters Vater nicht geholfen, dann hätte ich auch ihm nicht helfen können. Wir sind längst quitt, das erkläre ich dir hiermit noch einmal ganz ausdrücklich und – so schlecht geht es uns doch gottlob noch nicht, dass ich vom Sohn Walters annehmen müsste, was ich von ihm nie angenommen habe.“

Ein Flimmern war in Frau Helenes Augen.

„So? Es geht uns also noch nicht schlecht genug?“, fragte sie mit kaltem Hohn. „Wir müssen freilich noch nicht betteln gehen, aber vielleicht kommt es eines Tages noch dazu, wenn du nicht endlich vernünftig wirst und etwas für deine Familie tust. Erbärmlich genug ist das Leben, das wir führen müssen, doch wahrhaftig. Kaum zu dem Nötigsten reicht dein Verdienst, und wie lange wirst du überhaupt noch praktizieren können? Was soll dann geschehen mit uns?“

Ruth erhob sich und. trat wie schützend vor den Vater. Sie legte liebevoll ihren Arm um seine Schultern.

„Du darfst Vater nicht so quälen, Mama, siehst du denn nicht, wie er leidet?“, sagte sie mit ihrer dunklen, weichen Stimme vorwurfsvoll.

Ihre Stiefmutter sah sie ärgerlich an.

„Sieht er denn, wie ich leide? Es kostet ihn nur ein Wort, und dieser Dollarmillionär macht sich ein Vergnügen daraus, unsere Verhältnisse aufzubessern. Nicht einmal ein Opfer würde es diesem reichen Mann sein. Ihm wäre es ein Kleines, uns aus aller Not zu befreien. Und wenn Vater das nicht annehmen will, dann ist es ein unerhörtes Unrecht an seiner Familie.“

„Nein, Mama, das ist es bestimmt nicht. Noch haben wir keine Not leiden müssen, noch haben wir ein behagliches Heim und alles, was wir brauchen. Ohne Luxus müssen heute so viel Menschen auskommen, die früher in Luxus lebten, und auch wir müssen uns mit Würde darein fügen. Ich bin vollständig einer Meinung mit Vater, dass wir von John Stratter keine Wohltaten annehmen dürfen.“

Doktor Waldorf presste die Hand seiner Tochter.

„Ich denke dir, Ruth!“

Frau Helene fuhr auf.

„Ruth ist genauso überspannt wie du, und es ist unerhört, dass sie dich in deiner Unvernunft bestärkt. Sie tut es nur im Trotz gegen mich, denn in ihrem Innern hat sie mir immer feindlich gegenübergestanden. Sie gönnt es mir nicht, dass es mir besser gehen soll, und freut sich wahrscheinlich, dass es mir so schlecht geht.“

Ruth wollte erregt etwas erwidern, aber ein Druck von der Hand ihres Vaters machte sie ruhig. Er durfte nicht aufgeregt werden. Und so sagte sie nur:

„Du irrst, wenn du annimmst, dass ich Vater aus Trotz gegen dich in seiner Ansicht bestärke. Ich kenne Vater zu gut, um nicht zu wissen, dass er einfach gar nicht anders handeln kann.“

Frau Helene hatte schon wieder eine gallige Antwort auf der Zunge, aber plötzlich kam ihr ein Gedanke, der sie stumm machte. Weshalb sollte sie sich mit ihrem Gatten und ihrer Stieftochter herumzanken? Es führte doch zu nichts, und wenn sie dringlicher wurde, dann war ihr Mann imstande, John Stratter abzuschreiben. Das klügste war, wenn sie jetzt schwieg – und dann, wenn John Stratter hier war, selbst versuchte, über diesen Punkt mit ihm zu reden. Es sollte ihr nicht schwer fallen, ihn zu überzeugen, dass er etwas für sie und ihre Töchter tun müsse, auch wenn ihr Gatte nichts annehmen wollte. Die Hauptsache war, dass er erst einmal kam, dann würde sie alle Hebel in Bewegung setzen, um alles klug in die Wege leiten zu können. So zwang sie sich zur Ruhe und sagte bedeutend sanfter:

„Nun gut, ich sehe ein, dass ich euch nicht überzeugen kann, und so muss ich mich eben fügen.“

Ruth kannte ihre Stiefmutter zu genau, um nicht zu ahnen, dass sie einen heimlichen Schachzug plante, aber sie sagte nichts über ihren Verdacht. Und ihr Vater war viel zu froh, dass diese Szene zu Ende war, als dass er nicht, gern in einen friedlichen Ton eingestimmt hätte. Frau Helene fuhr nun fort:

„Was gedenkst du zu antworten auf diesen Brief, Georg?“

„Ich weiß es nicht, Helene. Es wäre natürlich unhöflich, den Besuch John Stratters abzulehnen, ganz abgesehen davon, dass ich ihn gern kennen lernen möchte. Aber – können wir einen so verwöhnten jungen Mann bei uns aufnehmen?“

Frau Helene war jetzt ganz milde und sanft.

„Warum denn nicht? Wir brauchen uns doch vor ihm unserer ärmlichen Verhältnisse nicht zu schämen. Übrigens wird er selbstverständlich im Hotel wohnen, und wir können uns darauf beschränken, ihn zuweilen zum Tee oder zum Abendessen einzuladen. Wie alt ist er denn eigentlich?“

„Er wird dreiunddreißig Jahre alt sein.“

Frau Helenes Augen flackerten auf. Sie sah zu ihren Töchtern hinüber.

„Ist er verheiratet?“, fragte sie schnell.

„Nein, so viel ich weiß. Er müsste denn in den letzten Monaten, nach dem Tod seines Vaters, geheiratet haben, aber das ist nicht anzunehmen. Während der Trauer um seinen Vater wird er wohl nicht Hochzeit gehalten haben.“

Wieder sah Frau Helene nachdenklich zu ihren Töchtern hinüber. Wie, wenn eine von ihnen diesen Dollarmillionär bezaubern würde? Sie waren doch beide schön und hatten viele Verehrer gehabt, als man noch mehr in Gesellschaft ging. Und sie waren jung und gewandt und verstanden ihre Reize ins hellste Licht zu rücken. Sie atmete erregt und ahnte nicht, dass Ruth, die ihre Stiefmutter sehr genau kannte, ihr fast die Gedanken vom Gesicht ablas. Sie zwang sich zu einem ruhigen, sachlichen Ton und sagte bestimmt:

„Jedenfalls musst du ihm natürlich schreiben, dass er uns herzlich willkommen sein wird.“

Das war auch Georg Waldorfs Ansicht, und er nahm sich vor, noch heute an John Stratter zu schreiben.

***

Doktor Waldorf hatte sich nach dem Frühstück in sein Zimmer zurückgezogen. Da er bis zur Sprechstunde noch eine Weile Zeit hatte, beschloss er, gleich an John Stratter zu schreiben. Als dann Ruth zu ihm kam, die ihm immer vor und nach der Sprechstunde allerlei Handreichungen tat, zeigte er ihr den Brief.

„Ist es so recht, Ruth?“, fragte er, lächelnd zu ihr aufsehend.

Sie nahm den Brief und las:

„Mein lieber, verehrter Mr. Stratter!

Es freut mich herzlich, dass ich den einzigen Sohn meines alten Freundes kennen lernen soll, und ich bitte Sie, Ihren Vorsatz, uns zu besuchen, auszuführen. Mit herzlicher Freude werden wir Sie bei uns willkommen heißen, und wir hoffen, dass Sie sich in unserem bescheidenen Heim wohl fühlen.

Aber um eins bitte ich Sie dringend – von einer Dankesschuld Ihres Vaters mir gegenüber sprechen Sie mir nicht, das will ich nicht hören. Was darüber zu sagen gewesen wäre, ist zwischen Ihrem lieben Vater und mir gesagt und erschöpft worden. Wir sind längst quitt. Ich bitte Sie, uns, wenn möglich, den genauen Termin Ihres Besuchs anzugeben, damit wir bestimmt für Sie zu Hause sind. Alles Weitere mündlich. Mit herzlichen Grüßen von uns allen

Ihr Georg Waldorf“

Ruth nickte ihm lächelnd zu.

„So ist es recht, Vater.“

Er sah auf in ihr liebes, stilles Gesicht, in ihre schönen, beseelten Augen.

„Wie du deiner Mutter gleichst“, sagte er aufseufzend. „Sie war eine so herrliche Frau. Ich hätte ihr keine Nachfolgerin geben sollen.“

Sie streichelte seine Hand.

„Du warst ja noch jung, als meine Mutter starb, und ein Arzt muss doch eine Frau haben.“

Es zuckte in seinem Gesicht. Er wusste, dass ihn nicht vernünftige Erwägungen zu dieser zweiten Ehe getrieben hatten, sondern eine jäh aufflammende Leidenschaft für die schöne Helene, die freilich bald genug verflogen war. Aber das wollte er seiner Tochter nicht sagen.

„Ja, Kind, ich brauchte eine Frau, aber – lassen wir das! Hast du dich vorhin sehr gekränkt über Mamas Worte?“

Sie strich sanft über seine hohe Stirn. „Das muss dich nicht grämen, lieber Vater, es tut mir nicht weh.“

Er zog sie zu sich heran.

„Ich bin so froh, dass ich dich habe, Ruth, sonst – sonst wäre es so kalt und leer um mich. Nicht wahr, du denkst nicht mehr daran, mein Haus zu verlassen, um dich draußen in der Welt auf eigene Füße zu stellen, wie du es tun wolltest?“

Ein Zucken um Ruths Mund verriet ihre innere Erregung. Aber sie blieb ruhig.

„Nein, Vater, solange du mich brauchst, solange ich dir eine Hilfe sein kann, denke ich nicht daran. Ich wollte nur fort, weil ich glaubte, überflüssig zu sein und deine Sorgen zu mehren. Seit ich das Hauswesen hier selber leite, weiß ich, dass ich nötig bin, und das gibt mir Befriedigung.“

Er nickte vor sich hin.

„Ja, Kind, seit du die Zügel des Haushalts in die Hand genommen hast, geht alles glatt und ruhig. Du verbreitest so viel Behagen um dich und bist ein kleines Finanzgenie. Ich weiß nicht, wie du es fertig bringst, mit kaum der Hälfte Wirtschaftsgeld auszukommen, das Mama verausgabte, und doch dabei allerlei gute Sachen auf den Tisch zu bringen. Ich staune oft.“

Ruth lächelte mit reizender Schelmerei.

„Man muss nur ein wenig nachdenken, wie man alles recht sparsam einrichtet und wie man am billigsten die schmackhaftesten Gerichte kochen kann. Da wir die Köchin entlassen haben und ich selber koche, werden viele unnütze Ausgaben gespart.“

„Ja, du hast viele häusliche Talente, die deinen Schwestern und auch Mama vollständig fehlen.“

„Dafür haben die Schwestern andere Talente, die mir fehlen.“

Er presste die Lippen aufeinander, und dann sagte er herb:

„Sie haben, scheint mir, nur ein Talent – sich selbst so schön wie möglich zu machen, die große Dame zu spielen und möglichst jeder Arbeit aus dem Weg zu gehen.“ So bitter hatte er noch nie gesprochen, und Ruth erschrak vor dem düsteren Blick seiner Augen.

„Sie sind noch zu jung, Vater, sie werden es schon noch lernen, sich nützlich zu machen.“

Er sah zu ihr auf.

„Mich dünkt, sie sind alt genug dazu. Wie viele Jahre hast du denn ihnen voraus?“

„Ich bin fast vierundzwanzig, Vater, Asta ist kaum zwanzig und Blandine erst neunzehn.“

„Nun, als du in ihrem Alter warst, hattest du dir schon eine Menge Pflichten aufgeladen. Doch ich will nicht bitter werden, sie sind eben von ihrer Mutter nicht anders erzogen worden, und ich habe mich nicht viel um ihre Erziehung kümmern können. Es hätte wohl auch nichts genützt – sie sind zu sehr die Kinder ihrer Mutter. Es fehlt ihnen das Beste, ein warmes Herz. Und – man muss sie darum bedauern.“

„Ja, Vater, das muss man auch. Sie wissen nicht, wie schön es ist, sich für einen lieben Menschen aufzuopfern. Aber jetzt lasse ich deine Patienten herein. Wenn du mich brauchst, dann klingelst du mir. Ich gehe in die Küche und bereite das Mittagessen vor. Den Brief an Mister Stratter nehme ich mit und lasse ihn von dem Mädchen nach dem Postkasten tragen.“

Er nickte ihr zu.

„Tue das, mein Kind!“

Sie küsste ihn auf die Stirn und ging hinaus. Er sah ihrer schlanken, jugendschönen Gestalt nach. Trotz des einfachen blauen Kleidchens sah sie vornehmer aus als ihre Schwestern in Putz und Tand. Der Adel der Gesinnung drückte sich in ihrem ganzen Wesen aus und gab ihr diese stille Vornehmheit.

Aufseufzend erhob er sich. Und nun ließ er den ersten Patienten eintreten und waltete seines Amtes.

Ruth aber schaffte fleißig in Küche und Haus, während ihre Stiefmutter und ihre Schwestern untätig beisammen saßen.

***

John Stratter war, nachdem er Ralf Bernau vor seiner Wohnung abgesetzt hatte, nach seinem Hotel zurückgekehrt. Er hatte unterwegs darüber nachgedacht, ob er nicht doch nur einem Gauner in eine geschickt gestellte Falle gegangen war, der sich nun mit dem erbeuteten Geld über ihn lustig machen würde. Schnell wies er aber diesen Gedanken wieder von sich. Nein – wenn ihn diesmal seine Menschenkenntnis im Stich gelassen hatte, dann wollte er sich nie mehr etwas darauf zugute tun. Dieser Ralf Bernau war kein unedler Mensch, trotz seines unbesonnenen Streichs. Und er hatte recht getan, ihn von seinem verzweifelten Vorhaben zurückzuhalten. Dieser blasse, verzweifelte Mensch hatte ihm sogleich eine starke Sympathie eingeflößt, und solchen Stimmen in seinem Innern pflegte er immer nachzugeben und hatte es selten zu bereuen gehabt. Er war fest entschlossen, Ralf Bernau weiter zu helfen, und überlegte, wie er das am besten tun konnte. Und dann musste ihm wohl ein erleuchtender Gedanke gekommen sein, denn es blitzte in seinen Augen auf, und er sagte halblaut vor sich hin:

„Wollen sehen, was er leisten kann.“

Ralf Bernau aber hatte inzwischen sein kleines, schlichtes Zimmer erreicht. Es war ein schmaler einfenstriger Raum, in dem ein Bett, ein Kleiderschrank, ein improvisierter Schreibtisch, ein alter Lehnstuhl und zwei Stühle sowie ein sehr primitiver Waschtisch Platz gefunden hatten.

Er ließ sich in den Lehnstuhl nieder und dachte an das, was er in den letzten Stunden durchlebt hatte. Noch lag alles über ihm wie ein böser Traum, der plötzlich ein befreiendes Ende gefunden hatte. Aber langsam ordneten sich die Gedanken, als er, den Kopf in die Hände gestützt, vor sich hinsah. Und nun fragte er sich: Was wollte dieser fremde Mann von dir? Weshalb gab er dir das Geld, das dich vor Schmach und Tod bewahrte? War er wirklich ein edler Menschenfreund, der ihm ohne Nebenabsichten großherzig helfen wollte oder – oder lauerte hinter seiner Großmut eine egoistische Absicht?

Er hatte von Kind auf in der Großstadt gelebt und war gegen solche Wohltäter etwas misstrauisch. Und doch, wenn er sich John Stratters sympathisches Gesicht, seine klaren, guten Augen vorstellte, verschwand dieses Misstrauen. Er konnte nur nicht fassen, dass es so edle Menschen geben konnte, wie es dieser fremde Mann sein musste.

Oder – hatte er doch nur geträumt, besaß er das Geld am Ende gar nicht?

Hastig zog er die abgegriffene Brieftasche hervor und sah nun aufatmend die Geldscheine darin liegen. Er legte sie neben die Postanweisung, mit der er sie einzahlen sollte, und nun überkam ihn plötzlich die volle Erkenntnis der Gefahr, in der er geschwebt hatte.

Ein trockenes Schluchzen stieg aus seiner Brust empor. Er zog eine kleine Fotografie hervor und schaute mit brennenden Augen darauf nieder. Sie zeigte ein reizendes Mädchengesicht mit großen, klaren Augen. Er bedeckte es mit Küssen. Wie gut, oh, wie gut war es doch, dass ihn der fremde Herr vor dem letzten, verzweifelten Schritt bewahrt hatte! Sonst wäre er jetzt schon tot und nicht mehr imstande, in die lieben, tapferen Augen seiner Trude hineinsehen zu können. Das Leben war doch schön, trotz allem, und vielleicht blühte ihm doch noch einmal ein Glück. Nach dem Wunder der heutigen Nacht war er fähig, auch an andere Wunder zu glauben.

Er tastete nach seinem Revolver. Wo hatte er denn die Waffe gelassen? Er überlegte vergebens, wo er sie zuletzt hingetan hatte. Vielleicht hatte sie sein Wohltäter an sich genommen.

Als er jetzt das Geld wieder in die Brieftasche legen wollte, fiel ihm die Karte in die Hand, die ihm John Stratter gegeben hatte. Er sah darauf nieder und las den Namen. Er stutze. Dieser Name war doch vor kurzer Zeit durch die Zeitungen gegangen. Man hatte über die großen Industriewerke geschrieben, die von dem Dollarmillionär Walter Stratter auf seinen einzigen Sohn vererbt worden waren. Ja, John Stratter, so hieß der Erbe Walter Stratters, des Deutschamerikaners, der in Amerika viel für die Deutschen gewirkt hatte. Es ging wie ein Ruck durch Ralf Bernaus schlanke Gestalt. Wenn sein Wohltäter dieser John Stratter war, wenn dieser Mann sein Schicksal in die Hände genommen hatte, dann – dann war ihm wirklich heute das Glück begegnet, nachdem er so lange Ausschau gehalten hatte.

Lange starrte er auf den Namen nieder, und dann erhob er sich endlich und legte seinen fadenscheinigen Frack ab. Während er sich vollends auskleidete, sah er immer wieder wie im Traum vor sich hin, aber endlich suchte er doch sein Lager auf. Er fand freilich noch lange keinen Schlaf. Immer wieder verfolgten ihn die Geschehnisse dieses Abends.

Und schließlich kamen wieder die Gedanken an das Mädchen seiner Liebe. Nie glaubte er seine kleine Trude so intensiv geliebt zu haben wie in diesen ersten Stunden eines neu geschenkten Lebens.

Am nächsten Morgen fuhr er erschrocken empor, als seine Wirtin an seine Tür klopfte, um ihn zu wecken. Und als sie ihm dann das kärgliche Frühstück brachte, dankte er im Stillen wieder seinem Wohltäter, der ihm noch über die fünfhundert Mark hinaus eine kleine Summe zur Verfügung gestellt hatte. Nun konnte er wenigstens seine Miete bezahlen.

Schnell machte er sich dann fertig, um zur Post zu gehen und das Geld einzuzahlen. Er atmete tief auf, als er die Quittung darüber in den Händen hielt.

Erleichtert suchte er sein Kontor auf. Und hier saß er dann mit heißem Kopf und brennenden Augen und verrichtete sein Tagewerk. Immer heißer stieg die Dankbarkeit gegen seinen Retter in ihm auf, weil er als ehrlicher Mensch unter anderen ehrlichen Menschen sitzen konnte und nicht für alle Zeit gebrandmarkt war.

Unbeschreiblich lang wurde ihm die Zeit bis zur Mittagspause, aber endlich, endlich war es so weit, dass er aufstehen und sich fertig machen konnte. Mit fliegenden Händen nahm er seinen Mantel vom Garderobehaken, stülpte seinen Hut auf und eilte zur Elektrischen.

Pünktlich um ein Uhr stand er im Hotelvestibül und fragte nach Mister John Stratter.

Er wurde mit dem Lift in die erste Etage befördert, und dort empfing ihn John Stratters Diener im Vorzimmer. Ralf war es beklemmend auf die Seele gefallen, als er im Lift emporfuhr, dass es eigentlich eine Vermessenheit war, diesen reichen Mann zu stören. Er war nun auch fest überzeugt, dass ihn der vornehm aussehende Diener sofort wieder an die Luft befördern würde; denn wenn wirklich der Dollarmillionär sein Wohltäter dieser Nacht war, dann hatte er wohl nur einer Krösuslaune nachgegeben.

Aber zu seinem Erstaunen ließ ihn der Diener ohne jeden Einwand in das elegante Nebenzimmer treten. Kaum hatte er die Schwelle betreten, als auch schon die gegenüberliegende Tür aufsprang. Auf der Schwelle erschien die imponierende Gestalt John Stratters.

Eine Weile stand er da, hoch aufgerichtet, jeder Zoll eine gebietende Persönlichkeit. Kein Zug rührte sich in dem festgefügten, großzügigen Gesicht mit dem kräftigen Kinn, der schön gebauten, mächtigen Stirn, die sich über den strahlenden Augen wölbte. Diese Augen blickten scharf und prüfend in Ralf Bernaus blasses, erregtes Gesicht.

„Also, Sie sind gekommen“, sagte er mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: Ich habe es nicht anders erwartet.

Ralf Bernau verneigte sich.

„Ja, Mister Stratter, ich nahm mir die Freiheit, obwohl ich es jetzt für eine Vermessenheit halte, bei Ihnen einzudringen. Ich hätte es auch nicht gewagt, wenn ich mich nicht so sehr in Ihrer Schuld fühlte.“

John Stratter trat weiter ins Zimmer herein und zeigte auf einen Sessel. Sie ließen sich einander gegenüber nieder.

„Ich hoffe, Sie sind gut über den Rest dieser Nacht hinweggekommen?“, fragte John Stratter ruhig.

Eine helle Röte flog über Ralf Bernaus Stirn.

„Offen gesagt, sehr schlecht, Mister Stratter. Nachdem ich in meinem Zimmer angelangt war, bin ich mir erst so recht klar geworden über alles, was in dieser Nacht auf mich einstürmte. Ich habe im Krieg oft dem Tod ins Antlitz gesehen, aber nie hat das eine so tiefe Wirkung ausgeübt – wie in dieser Nacht. Mir war, als habe ich in den wenigen Stunden den Weg zwischen Himmel und Hölle zurückgelegt.“

„Ja, ja, es mag ein etwas atemberaubendes Tempo gewesen sein. Als wir diese Nacht auf dem Presseball nebeneinander saßen, ahnte keiner von uns beiden, dass wir uns heute wiedersehen würden.“

„Ich jedenfalls nicht, Mister Stratter, denn ich war fest überzeugt, dass ich den heutigen Tag nicht überleben würde. Was ich auf dem Ball mit Ihnen gesprochen habe, das weiß ich nicht mehr, vermutlich war ich nicht sehr höflich und bitte noch nachträglich um Entschuldigung.“

John Stratter winkte ab.

„Wenn man im Begriff ist, den Sprung ins Nichts zu machen, dann strapaziert man sich nicht mit Komplimenten. Im Übrigen haben Sie mir sehr höflich Auskunft gegeben über alles, was ich von Ihnen wissen wollte und sich überhaupt so benommen, wie es ein Mann von guter Erziehung instinktiv in allen Lebenslagen tut. Aber nun wollen wir einen Strich unter das alles machen. Ich habe Sie hierher bestellt, um mit Ihnen über Ihr ferneres Schicksal zu sprechen, denn dadurch, dass ich Sie gewissermaßen zwang, das Leben, das Sie von sich werfen wollten, weiterzuführen, habe ich auch eine gewisse Verpflichtung übernommen, Ihnen das Weiterleben erträglich zu machen.“

Ralf Bernau wehrte hastig ab.

„Nein, o nein, bitte sagen Sie das nicht! Sie haben mir geholfen, meinen Namen rein zu halten. Und nun will ich mir schon selbst weiterhelfen. Ich habe wieder Mut, es ist so schön zu leben, wenn die Sonne scheint und das Blut gesund durch die Adern pulst. Will’s Gott, kommt auch für mich wieder einmal eine bessere Zeit, und – wenn ich Ihnen eines Tages meine Schuld abtragen kann, dann will ich mich glücklich schätzen.“

Die ehrliche Ergriffenheit, die aus seinen Worten sprach, gefiel John Stratter sehr. Ein Lächeln flog über seine Züge.

„Nun, vielleicht können Sie das schon bald tun. Wollen Sie mir einige Fragen beantworten?“

Ralf Bernau nickte.

„Gut. Dann sagen Sie mir erst einmal, was Sie gelernt haben.“

Dem jungen Mann stieg das Blut zu Kopf. Er atmete tief auf und überlegte, was er eigentlich an positiven Kenntnissen besaß. Und dann zählte er hastig her:

„Ich beherrsche die englische Sprache perfekt in Wort und Schrift, die französische nicht sehr sicher. Was man auf der Kadettenanstalt gelernt hat, ist nicht eben viel, aber nachher in meiner Stellung habe ich flüssig stenografieren gelernt, ich schreibe schnell und sauber auf der Schreibmaschine und habe mich auch mit der Buchhaltung vertraut gemacht. Außer einer guten gesellschaftlichen Bildung kann ich mit positiven Kenntnissen leider nicht weiter aufwarten.“

John Stratter hatte aufmerksam zugehört.

„Well! Nun bin ich orientiert. Ich denke, ich kann es wagen, Ihnen eine Stellung anzubieten, die vorläufig bei mir vakant ist. Wollen Sie mein Sekretär werden? Vorläufig nur auf eine Probezeit.“

Ralf Bernau sprang in höchster Erregung auf.

„Mister Stratter, ich fürchte, Sie machen einen Scherz mit mir!“, rief er heiser vor Erregung.

John Stratter lächelte.

„Nein, nein, es ist mein Ernst. Ich weiß, es ist ein Experiment, aber ich wage es umso unbedenklicher, als mein Sekretär, der mich auf meiner Reise begleitete, nicht unbedenklich erkrankt ist und heute auf dem Operationstisch im Sanatorium liegt. Selbst wenn er alles gut übersteht, was ich nach Ausspruch des Arztes kaum zu hoffen wage, wird er sofort nach seiner Herstellung nach New York zurückkehren. Ich aber gedenke noch einige Monate in Deutschland zu bleiben und bin gezwungen, mir für die Dauer meiner Reise einen neuen Sekretär zu engagieren, habe auch schon ein Inserat in den Zeitungen stehen. Nun hat der Zufall Sie mir in den Weg geführt und – Sie gefallen mir. Ich lasse mich stets von meinen Sympathien beeinflussen und glaube nicht, dass ich eine Persönlichkeit finde für diesen Posten, die mir sympathischer ist, als Sie es sind. Würden Sie sich gleich frei machen können?“

Ralf Bernau zwang sich zur Ruhe. Da war das große Glück, auf das er immer gehofft hatte, er durfte nicht einen Moment zögern, er musste zugreifen. So etwas würde ihm nie wieder geboten werden. Entschlossen richtete er sich auf.

„Das wird keine Schwierigkeit machen. In zwei Tagen muss ich ohnehin aufhören.“

„Gut, ich engagiere Sie vorläufig als meinen Sekretär für die Dauer meiner Europareise. Bewähren Sie sich, und ist mein Sekretär nicht mehr fähig, seinen Posten bei mir wieder einzunehmen, dann können wir weitersehen. Es soll jedenfalls nur an Ihnen liegen, dass Sie in meinem Betrieb eine Lebensstellung erhalten, wenn Sie mit nach Amerika gehen wollen.“

Ralf Bernaus Augen leuchteten auf.

„Überall hin, wohin Sie mich gehen heißen“, sagte er tief bewegt.

John Stratter lächelte in seiner gütigen Art.

„Und Fräulein Trude?“, fragte er.

Ralfs Gesicht überzog eine jähe Blässe, aber dann sagte er fest:

„Ich werde mir drüben, mit Ihrer gütigen Beihilfe, viel eher eine sichere Existenz gründen können als hier, und die Trude – die wird auf mich warten.“

„So? Dessen sind Sie sicher?“ Ralf Bernau nickte energisch. „So schwer ich es ihr auch machen werde – sie ist tapfer und unverzagt.“

„Nun, so tapfere und unverzagte Frauen können wir drüben gut gebrauchen. Aber damit ihr das Warten nicht zu schwer wird, sagen Sie ihr, dass Sie heute in einem Jahr Ihre Braut heimholen können, wenn Sie sich bis dahin tüchtig und brauchbar gezeigt haben.“

Die Augen Ralf Bernaus wurden feucht und seine Stimme zitterte, als er heiser hervorstieß:

„Ich kann Ihnen das ja nie, niemals genug danken, Mister Stratter. Wenn ich das Trude sage, dann – dann ….“

Er konnte vor Erregung nicht weitersprechen, und John Stratter merkte, dass er einen Menschen glücklich gemacht hatte.

„Well! Seien Sie sicher, dass ich Sie nicht fallen lassen werde, solange ich Sie als tüchtigen, brauchbaren Menschen erkenne. Was Sie noch nicht wissen, werden Sie kraft Ihrer Intelligenz bald dazulernen. Aber ehe wir weiter verhandeln, muss ich Ihnen sagen, dass ich eine Bedingung stelle.“

Ralf Bernau strich sich über die heiße Stirn. Eine Bedingung? Jetzt kommt das Erwachen aus dem schönen Traum, dachte er. Jetzt kommt etwas Unmögliches, das man von dir verlangt.

„Was ist das für eine Bedingung?“, fragte er heiser.

„Sie müssen gelegentlich die Rolle mit mir tauschen. Als bekannter und reicher Mann bin ich manchen Belästigungen ausgesetzt, die Sie mir abnehmen können, wenn Sie als John Stratter auftreten und ich als Sekretär Bernau.“

Fassungslos starrte ihn Ralf an.

„Kann ich denn das? Außer meinem Frack, in dem Sie mich gestern kennen gelernt haben, besitze ich nur das, was ich hier auf dem Leib trage, und in so einem Aufzug wird mir doch kein Mensch glauben, dass ich ein Dollarmillionär bin.“

Es wetterleuchtete in John Stratters Blicken.

„Ich meine, die Hauptsache ist, wer und was in den Kleidern steckt. Und das kann sich, wie mich dünkt, sehen lassen. Sie machten gestern in Ihrem abgetragenen Frack eine durchaus vornehme Figur. In die nötigen Kleider gesteckt, werden Sie als John Stratter ganz dekorativ wirken.“

„Aber die nötigen Kleider besitze ich eben leider nicht.“

„Das lassen Sie meine Sorge sein. Hier in Berlin, denke ich, kann man in spätestens vierundzwanzig Stunden alles Nötige haben. Mein Diener wird das beschaffen. Sie brauchen nichts dabei zu tun, als sich Maß nehmen zu lassen.“

Ralf Bernau musste die Zähne aufeinander beißen, um Haltung zu bewahren.

„Mein Leben gehört Ihnen, Mister Stratter. Gott mag geben, dass ich Ihnen einmal vergelten darf, was Sie an mir tun“, sagte er bewegt.

John Stratter winkte ab.

„Sie willigen also ein?“

„Mit tausend Freuden.“

„Well! Nun noch das rein Geschäftliche.“

Er sagte ihm, welches Gehalt er beziehen würde, wobei es Ralf ganz schwindlig wurde, und welche Bedingungen sonst noch zu erfüllen seien. Dann rief John Stratter seinen Diener herbei und gab ihm die nötigen Befehle für Ralf Bernaus neue Ausrüstung. Als der Diener wieder hinausgegangen war, besprach er noch einiges mit Ralf Bernau, und ehe sich dieser versah, war er dann verabschiedet.

Als er schon an der Tür stand, rief ihn John Stratter noch einmal zurück.

„Herr Bernau!“

„Sie befehlen, Mister Stratter?“

Er reichte ihm lächelnd seinen Revolver.

„Nehmen Sie Ihr Eigentum wieder zurück, ich hatte es diese Nacht in Verwahrung genommen. Jetzt kann ich Ihnen die Waffe unbesorgt wieder zustellen. Nehmen Sie sie ruhig mit auf unsere Reisen, ich trage auch stets eine bei mir, nur nicht gerade, wenn ich auf einen Ball gehe.“

Ralf Bernau nahm die Waffe und steckte sie zu sich. Er wollte noch etwas sagen, wollte noch einmal seinen Dank stammeln, aber John Stratter wehrte ab.

„Ich will nichts hören von Dankbarkeit. Wenn Sie glauben, mir welche schuldig zu sein, dann zeigen Sie mir das durch Ihre Ergebenheit in meinen Diensten. Good bye, auf Wiedersehen.“

Und dann stand Ralf Bernau eine ganze Weile wie benommen auf der Straße und sah in atemlosem Entzücken um sich. Seine Augen strahlten, seine Brust hob sich in tiefen Atemzügen.

Und dann dachte er an das Mädchen, das er liebte. Er sehnte sich namenlos nach ihr. Sie musste so schnell wie möglich alles wissen. Ja, alles wollte er ihr beichten, nichts wollte er ihr verheimlichen, damit sie auch ganz erfassen konnte, was er John Stratter zu danken hatte. Aber – jetzt konnte er sie nicht sprechen, er musste ja ins Kontor zurück. Heute Abend erst konnte er sie sehen.

Aber dann fiel ihm ein, dass er sie vielleicht telefonisch benachrichtigen konnte. Und er beeilte sich, in eine Telefonzelle zu kommen.

Fräulein Gertrud Thörner war schnell an den Apparat gerufen und meldete sich.

„Wer ist dort?“

„Ich bin es, Trude.“

„Ralf, du?“

„Ja, Trude. Ich muss dich heute unbedingt sprechen, Liebes. Kann ich dich nach Büroschluss erwarten?“

„An der bewussten Stelle, Ralf, ja. Hast du mir etwas Besonderes zu sagen?“

„Etwas ganz Besonderes, Liebes.“

„Doch nichts Schlimmes?“

„Nein, im Gegenteil.“

„Ach Ralf! Gutes? Wirklich gutes?“

„Ganz gewiss.“

„Dann auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen!“

Ralf konnte die Zeit kaum erwarten, bis er Trude wiedersah. Ein bisschen Herzweh würde es freilich kosten, wenn er ihr sagte, dass er von Berlin fortging – und schließlich gar nach Amerika. Aber die Hoffnung auf eine endliche Vereinigung würde sie schnell trösten.

Endlich war es an der Zeit. Schon von weitem sah er Trude am vereinbarten Treffpunkt stehen. Er eilte zu ihr. Ihre Augen hingen aufleuchtend ineinander.

„Liebes, dass ich dich nur wiederhabe!“, sagte Ralf mit versagender Stimme.

Sie sah ihn mit ihren schönen Samtaugen an, bis in das Herz hinein.

„Ralf, mein Ralf! Wie geht es dir? Ist es wirklich unabänderlich, dass du deine Stellung verlierst, oder hat sich dein Chef anders besonnen, da du mir eine gute Botschaft in Aussicht stellen konntest?“

Er legte ihre kleine Hand auf seinen Arm.

„Ich habe eine neue Stellung gefunden, Liebes, und eine ganz herrliche Stellung.“

Sie wurde vor Freude blass und rot.

„Ralf, lieber Ralf, was für ein Glück! Erzähle doch.“

„Nicht hier, Trude. Du kommst mit mir in das kleine Café da drüben.“

„Ach Ralf, da müssen wir Geld ausgeben“, meinte sie besorgt.

Er drückte ihren Arm fest an sich.

„Lass nur“, sagte er erregt, „darauf darf es heute nicht ankommen!“

Sie gingen in das kleine Lokal und nahmen an einem Tisch Platz, der isoliert stand. Niemand achtete auf das junge Paar. Ralf bestellte eine Erfrischung, und erst als der Kellner wieder fort war, sagte er, das beste vorausschickend:

„Liebes, ich soll dir von meinem neuen Chef bestellen, dass du heute in einem Jahr Frau Bernau sein wirst.“

Sie sah ihn groß an. Ganz blass war sie geworden. In ihren Augen lag eine heiße Sehnsucht.

„Das ist doch ein Märchen, Ralf“, sagte sie zaghaft.

„Nicht wahr, Liebes, es klingt wie ein Märchen, und wie im Märchen müssen wir noch durch allerlei Prüfungen. Aber meine Trude wird sie alle tapfer bestehen, das weiß ich.“

Sie atmete tief auf.

„Nun sag mir alles, Ralf! An meiner Tapferkeit darfst du nicht zweifeln, zumal nicht, wenn so eine herrliche Aussicht winkt. Was für Heldentaten muss ich erst vollbringen, ehe wir glücklich sein dürfen?“, fragte sie tapfer, mit einem leisen Beben ihrer Stimme.

Er fasste ihre Hand und sagte ihr nun alles – zuerst sprach er von seiner verzweiflungsvollen Absicht gestern Nacht, sein und ihr Schicksal durch einen Spielgewinn zu korrigieren. Sie schrie nicht auf, zuckte kaum zusammen, aber sie wurde so bleich, dass er fürchtete, sie würde ohnmächtig zusammensinken.

„Das – das wolltest du mir antun, Ralf, von mir gehen auf Nimmerwiedersehen – so von mir gehen?“, fragte sie mit bebender Stimme.

Er drückte seine Lippen auf ihre Hand.

„Trude, hätte ich denn zu dir kommen dürfen mit einem Flecken auf meiner Ehre?“

Sie presste seine Hand in der ihren.

„Wie du nur zweifeln kannst! Ich hätte doch gewusst, dass du es nicht in böser Absicht getan hast. Ach Ralf, dass du nur gesund vor mir sitzt! Jetzt wäre es fast aus gewesen mit meiner Tapferkeit. Nun sprich weiter! Da ich deine Hand in der meinen halte, kann mich nichts mehr schrecken.“

„Nun gibt es auch nur noch einen kleinen Schrecken zu überwinden, Liebes, es wird uns eine Trennung bevorstehen, meine Stellung führt mich fort von Berlin.“

Es zuckte im Gesicht des jungen Mädchens, und die Augen trübten sich, aber es sagte tapfer:

„Wenn es sein muss, Ralf, dann muss auch das ertragen werden.“

Er berichtete ihr nun alles ohne Umschweife, was seit gestern Abend geschehen war. Und als Ralf zu Ende war mit seinem Bericht, da sagte Trude aufatmend:

„Wenn ich nur Mister Stratter danken dürfte für alles, was er an dir getan hat, mein Ralf.“

„Vielleicht kannst du es eines Tages tun, Liebes. Bist du noch sehr traurig, dass wir uns trennen müssen?“

„Nein, Ralf, das darf ich gar nicht sein“, erwiderte sie tapfer. „So herrlich ist es doch, dass du nun endlich eine Stellung gefunden hast, wie sie dir zukommt. Wie kleinlich wäre es von mir, wenn ich dir da den Kopf mit Klagen über die Trennung warm machen sollte. Und einem so edlen Mann kann man doch vertrauen; wenn er sagt, dass du mich in einem Jahr heimholen kannst, dann wollen wir auch fest daran glauben. Dieser Glaube wird uns über alles hinweghelfen.“

„Und wenn deine Eltern dich drängen, während ich fort bin, einen anderen zu heiraten?“

Trude dachte eine Weile nach. Dann richtete sie sich entschlossen auf und sagte mit leuchtenden Augen:

„Meine Eltern waren nur gegen meine Liebe, weil sie so ganz aussichtslos erschien. Jetzt ist das etwas anderes. Ich will dir etwas sagen, Ralf, du kommst jetzt gleich mit mir zu meinen Eltern, sagst ihnen, was du für eine Stellung bekommen hast, welches Gehalt du beziehst und was Mister Stratter zu dir gesagt hat. Und dann bitten wir die Eltern, in unsere Verlobung zu willigen, dann werden wir beide die Trennung leichter überstehen. Meinst du nicht auch?“

Ralf war sofort einverstanden, er zahlte schnell, und sie verließen das Lokal.

Eine Viertelstunde später standen sie vor Trudes Eltern, und Ralf brachte sein Anliegen vor. Natürlich erfuhren die Eltern nichts davon, was geschehen war, ehe Mister Stratter Ralf die Stellung anbot. Sie sahen ein, dass das Glück ihrer Tochter nur in der Vereinigung mit Ralf bestand, und da er jetzt eine so gute Stellung hatte, willigten sie in die Verlobung ein.

***

Drei Tage später trat Ralf Bernau seinen Dienst bei John Stratter an. Als er im Hotel eintraf, wurde ihm sofort ein Zimmer zugewiesen, das John für ihn gemietet hatte. Als Ralf es betrat, fand er dort bereits einen großen, neuen Reisekoffer, verschiedene neue, elegante Anzüge und überhaupt alles, was zur Ausrüstung als Mister Stratters Sekretär nötig war. Nichts fehlte, und alles war von großer Eleganz und Vornehmheit.

Der Diener teilte ihm mit, dass er sich sofort umkleiden möge. Wenn er fertig sei, möge er sich melden, er werde dann mit Mister Stratter zusammen das Diner unten im Speisesaal einnehmen.

Schnell wählte er nun von den Anzügen, was ihm das Passende erschien, und schon nach einer Viertelstunde hatte sich der bescheiden, ja ärmlich gekleidete Ralf Bernau in eine sehr elegante und imponierende Erscheinung verwandelt. Er sah sich lächelnd im Spiegel an. „Wenn Trude mich so sehen könnte!“, sagte er vor sich hin.

Und dann verließ er das Zimmer und ließ sich bei Mister Stratter melden. Dieser empfing ihn sofort und musterte ihn mit großer, Befriedigung.

„Sie werden mir alle Ehre machen, Herr Sekretär“, sagte er lächelnd.

„Ich hoffe, Mister Stratter, dass es mir gelingen wird, in jeder Beziehung Ihre Zufriedenheit zu erlangen.“

„Well, das hoffe ich auch. Und nun wollen wir speisen.“

Sie begaben sich in den großen Speiseraum und ließen sich an einem für Mister Stratter reservierten Tisch nieder.

„Ich bin sehr froh, dass ich nicht mehr allein speisen muss und ein sympathisches Gesicht vor mir habe“, sagte Mister Stratter.

Ralf sah ihn mit einem strahlenden Blick an.

„Und mich macht es sehr froh, dass Ihnen mein Gesicht sympathisch ist.“

„Haben Sie alles glatt abwickeln können?“

„Ja, ganz glatt.“

„Und die Braut?“, fragte John Stratter lächelnd. Ralf atmete tief auf.

„Ich habe ihr alles gebeichtet, Mister Stratter, und sie hat mir alles verziehen und ist sehr tapfer gewesen. Auch sie hat nur den einen Wunsch – Ihnen danken zu dürfen.“

„Nun, den Dank einer sicher sehr hübschen jungen Dame soll man nicht von sich weisen. Ich werde ihn gern entgegennehmen, wenn sie erst Ihre Frau ist. Haben Sie auf Ihrem Zimmer alles Nötige vorgefunden?“

„Zu meinem großen Erstaunen, ja, Mister Stratter. Es fehlt wirklich nichts, was mich befähigt, Mister Stratters Rolle zu übernehmen.“

John Stratter nickte.

„Well, das besorgt mein Diener tadellos, und, wie gesagt, ich kann mit meinem Vertreter zufrieden sein. So repräsentabel wie Sie war Mister Fogham nicht. Der arme Mensch! Ich habe keine guten Nachrichten von ihm. Gestern telefonierte mir der Arzt, dass die Operation gut verlaufen sei, aber heute bekam ich die Nachricht, dass der Patient sich sehr schlecht fühlt und dass der Arzt Komplikationen fürchtet. Heute Nachmittag will ich zu ihm hinausfahren.“

Die beiden Herren unterhielten sich nun über unpersönliche Dinge, und John Stratter merkte mit Vergnügen, dass sein neuer Sekretär ein sehr guter Gesellschafter war. Er verstand geistvoll und anregend zu plaudern und konnte seinem Herrn über alles, was ihn in Deutschland und speziell in Berlin interessierte, erschöpfende Auskunft geben.

Ralf selbst fühlte sich wie neu geboren. Wie lange hatte er nicht so gut und in so vornehmer Umgebung gespeist! Erst jetzt kam ihm so recht zum Bewusstsein, was er in all den Jahren der Not entbehrt hatte.

Nach dem Essen begaben sich die Herren wieder hinauf in John Stratters Zimmer. Sie wollten noch Verschiedenes besprechen. Aber kaum hatten sie es betreten, als John Stratter ans Telefon gerufen wurde. Der Arzt aus dem Sanatorium, wo Mister Fogham lag, klingelte selbst an und sagte John Stratter, wenn er Mister Fogham noch einmal sehen wolle, möge er sofort kommen, der Patient stehe vor der Auflösung, da sich neue Komplikationen ergeben hätten.

Mister Stratter brach sofort auf. Er kam gerade noch zurecht, um Mister Fogham die Augen zuzudrücken.

Sehr niedergeschlagen kehrte er danach ins Hotel zurück.

„Ich habe einen treuen Diener, nein, mehr noch, einen treuen Freund verloren“, sagte er erschüttert zu Ralf Bernau. Und Ralf hatte in diesem Moment keinen anderen Wunsch, als dass es ihm gelingen möge, Mister Stratter diesen Verlust ersetzen zu können.

Einige Tage vergingen.

Mister Stratter merkte befriedigt, wie ernsthaft sich sein neuer Sekretär bemühte, ihn in jeder Beziehung zufriedenzustellen. Ralf suchte ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen, und er war so geschickt und intelligent, dass er sich schnell in seinen neuen Pflichten einarbeitete. Was er nicht wusste, suchte er sich so schnell wie möglich anzueignen.

John Stratter war schon nach den ersten Tagen überzeugt davon, dass er einen guten Griff getan hatte. In vielen Dingen eignete sich Ralf noch besser zu seinem Posten als sein Vorgänger, der nicht die selbstverständliche Vornehmheit des Auftretens gehabt hatte. Ralf war sehr glücklich, als er merkte, dass sein Chef mit ihm zufrieden war. Ein ganz neues Leben hatte für den bisher vom Schicksal so stiefmütterlich behandelten jungen Mann begonnen. Er wuchs gewissermaßen in seine neue Stellung hinein.

„Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand“, sagte sich Ralf in diesen Tagen oft, wenn er wieder eine schwierige Situation bewältigt hatte. Er war selbst erstaunt, wie schnell er sich in seinen neuen Pflichtenkreis einlebte. Als Offizier hatte er freilich auch oft schwierige Situationen beherrschen müssen, und das kam ihm doch zugute.

Inzwischen hatte John Stratter von Doktor Waldorf die Antwort auf sein Schreiben erhalten und sagte eines Tages zu Ralf:

„Wir reisen am Montag nach Düsseldorf, und nun will ich Ihnen sagen, dass Sie von dem Augenblick an, da wir in Düsseldorf eintreffen, meine Rolle spielen müssen. Ich werde in Düsseldorf in der Familie eines Arztes erwartet, der ein Jugendfreund meines Vaters war. Besondere Umstände lassen es mir wichtig erscheinen, dort erst einmal recherchieren zu können, ohne dass man mich kennt. Damit Sie mich verstehen und mich richtig unterstützen können, will ich Ihnen anvertrauen, um was es sich handelt. Doktor Waldorf hat meinem Vater einst einen unermesslichen Dienst erwiesen, hat gewissermaßen damit den Grundstein zu seinem Glück und seinem Reichtum gelegt. Es war immer der Wunsch meines Vaters, sich Doktor Waldorf dafür dankbar zu zeigen. Dieser hat aber jeden Dank abgelehnt. Schon vor seinem Tod hat nun mein Vater in Erfahrung gebracht, dass Doktor Waldorf einen großen Teil seiner Praxis eingebüßt hat und in ziemlich schwierigen pekuniären Verhältnissen lebt. Mein Vater hat es mir zur Pflicht gemacht, deshalb nach Deutschland zu reisen, Doktor Waldorf aufzusuchen und um jeden Preis seine Lage zu verbessern. Wie ich das erfüllen kann, weiß ich noch nicht, ich weiß nur, dass sein sehr empfindlicher Stolz geschont werden muss.

Deshalb muss ich volle Bewegungsfreiheit haben, und das habe ich vielleicht als John Stratter nicht. Als mein Sekretär Ralf Bernau werde ich vermutlich eher mein Ziel auf irgendeine Weise erreichen können. Und deshalb sollen Sie dort vorläufig meine Rolle übernehmen. Sie haben Taktgefühl und Intelligenz und werden mir helfen können.“

Ralf Bernau hatte mit großem Interesse zugehört.

„Ich werde mir jedenfalls die größte Mühe geben, das zu tun.“

Lächelnd wehrte John Stratter ab.

„Nein, nein, nicht bemühen! Geben Sie sich ganz ungezwungen, so wird es gerade recht sein, und John Stratter wird einen sehr sympathischen Eindruck machen.“

Es war Ralf Bernau nicht möglich, noch einmal mit seiner Braut zusammenzutreffen. Mister Stratter ließ ihn nicht mehr von seiner Seite. Er hatte auch allerlei für ihn zu tun, und die Abreise am Montag war fest beschlossen. So konnte sich Ralf nur brieflich von seiner Trude verabschieden.

Montag Früh reiste Mister Stratter in Gesellschaft seines Sekretärs und seines Dieners nach Düsseldorf ab. Unterwegs weihte er seinen Sekretär, so weit es möglich war, in seine Pläne ein. Irgendwie, das stand fest, wollte er die Dankesschuld seines Vaters an Georg Waldorf abtragen.

***

Frau Helene Waldorf sah mit großer Unruhe dem Besuch John Stratters entgegen. Sie sprach nicht mehr mit ihrem Gatten davon, dass er das Anerbieten des reichen Amerikaners annehmen solle, aber sie war fest entschlossen, auf irgendeine Art den reichen Mann zu veranlassen, ihre Verhältnisse aufzubessern. Und außerdem hegte sie noch einen besonderen Plan. Sie wusste, dass ihre Töchter schön waren und in allen Künsten der Koketterie erfahren. Wenn sie trotzdem beide noch nicht verheiratet waren, dann lag es nur daran, dass sie keine Gelegenheit hatten, mit Herren zusammenzukommen, die als gute Partien gelten konnten. Und nur auf eine solche waren sie von ihrer Mutter dressiert worden. Jetzt endlich bot sich eine nie wiederkehrende Gelegenheit zu einer glänzenden Partie, und die wollte sie nicht ungenutzt vorübergehen lassen. Eine von ihren Töchtern würde schon Eindruck machen auf John Stratter, und alles übrige würde sich dann von selbst ergeben, oder man würde ein wenig nachhelfen.

Und Frau Helene hatte ihre beiden Töchter vorgenommen und offen mit ihnen ihre Pläne besprochen. Sie fand bei den jungen Damen volles Verständnis.

„Ihr müsst klug sein“, sagte sie, „und euch nicht gegenseitig die Chancen verderben. Wenn ihr merkt, dass Mister Stratter eine von euch bevorzugt, dann muss sich die andere zurückziehen. Eine von euch beiden kann er nur heiraten, aber das wird uns allen helfen, das müsst ihr euch klar machen. Dass John Stratters Besuch nicht vorübergehen darf, ohne dass er einen günstigen Umschwung in unsere Verhältnisse bringt, das ist klar, dafür werde ich so oder so sorgen. Wenn ich merke, dass für keine von euch beiden eine Hoffnung ist, dann werde ich ganz offen mit ihm reden und ihm nahe legen, wie er uns helfen kann, auch gegen Vaters Willen. Und nun seid klug und lasst vor allen Dingen Ruth nichts merken von unseren Absichten! Sie wäre imstande, alles zu vereiteln!“

Die Töchter versprachen der Mutter, alles zu tun, um ihre Pläne verwirklichen zu helfen. Und so wurde John Stratter mit Ungeduld erwartet.

Aber auch Ruth und Doktor Waldorf freuten sich auf den Besuch. Der Vater freute sich, den Sohn des Jugendfreundes kennen zu lernen, und Ruth freute sich, dass der Vater durch diesen bevorstehenden Besuch von seinen Sorgen abgelenkt wurde.

Und dann kam die Nachricht, dass John Stratter sich am Dienstag zur Besuchsstunde erlauben würde, seine Aufwartung zu machen. Er bat um die Erlaubnis, seinen Sekretär mitbringen zu dürfen, da dieser sein ständiger Begleiter sei.

Frau Helene und ihre Töchter waren in begreiflicher Aufregung, und auch Doktor Waldorf erwartete den Gast mit Ungeduld. Nur Ruth blieb ruhig und beherrscht und sorgte in ihrer selbstverständlichen Art dafür, dass alles im Haus zum Empfang vorbereitet war. Denn darin waren sich Frau Helene und ihr Gatte einig, dass die beiden Herren nicht nach einem kurzen, formellen Besuch wieder fortgehen durften; sie mussten unbedingt zum Mittagessen bleiben. Und folglich hatte Ruth für diese Mahlzeit allerhand Vorbereitungen zu treffen. Während sie eifrig mit dem Dienstmädchen in der Küche hantierte, saßen Asta und Blandine in eleganten Besuchskleidern am Fenster und blickten auf die Straße hinab. Sie sahen dann auch ein Auto vorfahren, dem zwei elegant gekleidete Herren entstiegen.

Aufgeregt berichteten sie:

„Sie kommen, sie kommen!“

Und sie eilten an den Spiegel und zupften an ihren Kleidern und an ihren herrlich gelockten Bubiköpfen herum. Dann nahmen sie mit den Eltern im Empfangszimmer Platz. Das war der Raum, wo sonst während der Sprechstunde die Patienten empfangen wurden. Die Sprechstunde war vorbei, und Ruth hatte schon gestern in Erwartung John Stratters das mögliche getan, diesen Raum ein wenig zu verschönern und aufzufrischen.

John Stratter und sein Sekretär wurden also von dem Dienstmädchen in dieses Empfangszimmer geführt und sehr liebenswürdig empfangen. Wie es John beabsichtigt hatte, stellte sich Ralf Bernau als John Stratter vor und diesen als seinen Sekretär, Mister Bernau.

Demzufolge wurde Ralf Bernau, zumal von den Damen, bei weitem herzlicher begrüßt als der richtige John Stratter, der sich bescheiden im Hintergrund hielt und ungestört seine Beobachtungen machen konnte.

Und so sah er, dass Doktor Waldorf seinem Vertreter warm und herzlich die Hand drückte und in seinen Zügen anscheinend die Ähnlichkeit mit seinem Jugendfreund suchte. Mutter und Töchter aber überfielen gleichsam den vermeintlichen reichen Amerikaner mit allen Künsten einer raffinierten Koketterie.

John Stratter hatte scharfe Augen, und er erkannte sogleich, dass Mutter und Töchter mit ganz bestimmten Absichten vorgingen. Und er segnete seinen Einfall, vorläufig erst einmal inkognito hier aufzutreten. Ralf Bernau fand sich zu John Stratters Befriedigung ausgezeichnet mit seiner Rolle ab, wusste er doch, wie viel seinem Wohltäter daran lag, dass er sie gut spielte. Und so gab er sich ganz als sicherer, gewandter Weltmann, bemühte sich, seiner Aussprache einen leisen englischen Beiklang zu geben und ließ sich die Liebenswürdigkeiten der Damen ruhig gefallen, während er dem alten Herrn gegenüber eine warme Herzlichkeit zum Ausdruck brachte.

Da nun der falsche Mister Stratter von seinen Damen so ganz mit Beschlag belegt wurde, während sie den vermeintlichen Sekretär gar nicht beachteten, fühlte sich Doktor Waldorf veranlasst, sich dem unbeachteten Gast zu widmen. So kamen diese beiden Männer in ein angeregtes Gespräch, in dessen Verlauf der alte Herr mit einem harmlosen Lächeln sagte:

„Es ist ganz sonderbar, an Mister Stratter entdecke ich nicht die mindeste Ähnlichkeit mit seinem Vater, während Sie eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem Jugendfreund haben. Das ist seltsam, nicht wahr?“

John Stratter war darauf vorbereitet, dass Doktor Waldorf vielleicht an ihm verwandte Züge mit seinem Vater entdecken könne, obwohl er wusste, dass er viel mehr seiner Mutter als seinem Vater glich, und so sagte er ruhig:

„Mister Stratter hat mir auch schon gesagt, dass ich ihn zuweilen an seinen Vater erinnere. Nicht wahr, Mister Stratter?“

Ralf wandte sich ihm lächelnd zu.

„Allerdings, ich habe das schon beobachtet, und gerade deshalb ist mir Mister Bernau so lieb, dass ich ihn immer in meiner Nähe haben will. Sie werden Mister Bernau mit in Kauf nehmen, wenn Sie mich sehen wollen.“

Doktor Waldorf nickte ihm lächelnd zu.

„Das kann ich Ihnen nachfühlen und deshalb kann auch von einem ’In-Kauf-nehmen’ keine Rede sein. Mister Bernau wird uns immer willkommen sein.“

Die Damen waren aber nicht gewillt, es zuzulassen, dass der vermeintliche Mister Stratter sich in eine lange Unterhaltung mit dem alten Herrn vertiefte. Sie zogen ihn schnell wieder in eine Unterhaltung, und Doktor Waldorf setzte das Gespräch mit John Stratter fort. Er erzählte im Lauf der Unterhaltung, dass er jahrelang im steten Verkehr mit dem verstorbenen Walter Stratter gestanden habe und dass er ihn und sein ganzes Leben genau kenne.

So fiel es nicht auf, dass der vermeintliche Sekretär genaue Auskunft über Walter Stratter geben konnte. John Stratter war sich gleich in der ersten Stunde darüber klar, dass Doktor Waldorf ein vornehm empfindender, sehr sympathischer Mann war, er fand ihn ganz so, wie ihm sein Vater diesen Mann geschildert hatte. Aber ebenso schnell erkannte er auch, dass seine Töchter ganz gewiss nicht ohne Hintergedanken so mit seinem Vertreter kokettierten. Ein leises, verstohlenes Lächeln huschte um seinen Mund, als er merkte, dass Ralf in ziemliche Bedrängnis kam bei den koketten Manövern der jungen Damen, die von ihrer Mutter wirkungsvoll unterstützt wurden.

Frau Helene sagte nach einer Weile zu Ralf:

„Es tut mir sehr Leid, Mister Stratter, dass unsere beschränkten Räumlichkeiten es uns nicht gestatten, Sie während der Dauer Ihrer Anwesenheit in Düsseldorf ganz bei uns aufzunehmen. Einen so verwöhnten Gast können wir leider nicht entsprechend beherbergen. Aber es versteht sich von selbst, dass Sie täglich unser lieber Gast sind – mit Ihrem Sekretär. Ich hoffe doch, dass Sie für längere Zeit in Düsseldorf weilen?“

Ralf hatte für solche Fälle Instruktionen bekommen und erwiderte, sich verneigend:

„Unser Aufenthalt hier wird sich vermutlich auf mehrere Wochen ausdehnen, dann ich möchte natürlich nicht nur einen flüchtigen Besuch bei Ihnen machen. Es ist mir ein Herzensbedürfnis, dem Freund meines Vaters und seiner Familie näher zu kommen. Aber das darf keinerlei Umstände für Sie im Gefolge haben, und wenn ich Ihre Gastfreundschaft zuweilen annehmen soll, so müssen Sie mir gestatten, dass ich mich durch gelegentliche Einladungen revanchiere. Jedenfalls ist es mir ein inniges Bedürfnis, recht viel mit Ihnen allen zusammen sein zu dürfen.“

Das war nun ganz nach Frau Helenes Herzen.

.“Wir leiden es selbstverständlich auch nicht, dass sie jetzt nur einen kurzen Besuch machen. Sie müssen zu Tisch bleiben, damit wir uns erst einmal ein wenig näher kommen, vorausgesetzt natürlich, dass Sie mit unserer schlichten Mahlzeit vorlieb nehmen. Wir brauchen ja kein Hehl daraus zu machen, dass wir in sehr bescheidenen Verhältnissen leben müssen.“ Nur ein rascher Blick wurde verstohlen zwischen Ralf Bernau und John Stratter getauscht, dann erwiderte Ralf mit einer artigen Verbeugung:

„Sie machen mich sehr glücklich, gnädige Frau, dass Sie mir so liebenswürdig entgegenkommen, und ich nehme Ihre freundliche Einladung gern an, wenn Sie mir zur Revanche gestatten, dass ich Sie alle heute Abend in meinem Hotel bewirte.“

Ehe Doktor Waldorf etwas einwenden konnte, beeilte sich Frau Helene zu antworten:

„Wir nehmen Ihre Gegeneinladung umso lieber an, als wir uns dann schon heute Abend wieder Ihrer Gesellschaft erfreuen dürfen.“

Während die Unterhaltung in der gleichen angeregten Weise fortgesetzt wurde, sagte Doktor Waldorf plötzlich:

„Wo bleibt denn Ruth? Sie hat unsere Gäste noch nicht begrüßt.“

Diese Frage war den drei Damen durchaus nicht angenehm.

„Du weißt doch, Papa, Ruth hat in der Küche zu tun“, sagte Asta.

„Dann könnte wohl eine von euch Ruth einmal ablösen, damit ich auch sie mit unseren Gästen bekannt machen kann.“

John Stratter bemerkte, dass Blandine und Asta einen impertinenten Seitenblick tauschten. Anscheinend hatten sie beide keine Lust, die dritte Schwester in der Küche zu vertreten. Aber Frau Helene griff auch gleich geschickt ein, damit ihre Töchter nicht das Zimmer verlassen mussten, und sagte lächelnd:

„Lass nur, Georg, ich gehe gleich selbst hinaus, um Ruth für eine Weile abzulösen.“ Und zu Ralf gewendet fuhr sie seufzend fort: „Wir haben unsere Köchin entlassen müssen, unsere Verhältnisse gestatten es uns nicht, eine solche zu halten.“

„Oh, gnädige Frau, hoffentlich machen wir Ihnen keine Umstände?“, fragte Ralf artig.

Sie wehrte liebenswürdig ab.

„Nein, nein, durchaus nicht, wir freuen uns so sehr, einmal wieder Gäste zu haben. Wir leben ja jetzt leider sehr zurückgezogen, und unsere Töchter sind glücklich, ein wenig Unterhaltung zu haben.“

Und mit einem Lächeln verschwand Frau Helene.

John Stratter war nun sehr gespannt auf die dritte Tochter Doktor Waldorfs. Er nahm ohne weiteres an, dass diese Frau Helenes Stieftochter sein müsse, denn Blandine und Asta waren die getreuen Ebenbilder ihrer Mutter und sahen einander auch ähnlich.

Endlich erschien Ruth. Sie hatte nur die Schürze abgestreift und trug ihr schlichtes, blaues Hauskleid. Aschenbrödel, dachte John Stratter, scharfsichtig die Situation erfassend.

Erst als Ruth sich jetzt umwandte und er in ihr Gesicht sehen konnte, stutzte er und richtete sich interessiert auf. Es fiel ihm auf, dass Ruth in ihrem schlichten Hauskleid viel vornehmer wirkte als ihre Schwestern in ihren eleganten Kleidern.

In einem jäh erwachenden Interesse beobachtete er, wie sie Ralf Bernau, den ihr der Vater als Sohn seines Jugendfreundes vorstellte, mit einem warmen Lächeln begrüßte und ihm ohne jede Ziererei die Hand reichte. Und er lauschte angenehm berührt auf ihre dunkle Stimme, die einen so wohltuenden Kontrast bildete zu den spröden, etwas schrillen Organen ihrer Schwestern.

„Es freut mich sehr, dass Sie gekommen sind, Mister Stratter“, sagte sie in ihrer ruhigen Art.

Dann machte sie ihr Vater auch mit dem wirklichen John Stratter bekannt.

„Mister Stratters Sekretär, Mister Bernau“, sagte er. Erst jetzt sah Ruth mit einem vollen Blick in John Stratters Gesicht, und unter seinem Blick stieg plötzlich eine dunkle Röte in ihre Wangen. Er glaubte, nie eine Frau gesehen zu haben, die so reizend erröten konnte. Artig verneigte er sich vor ihr, und als sie ihm nach kurzem Zögern ihre Hand reichte, um ihn ebenfalls zu begrüßen, fasste er impulsiv danach und führte sie an seine Lippen.

Wundervoll fand er ihre großen, leuchtenden Grauaugen, deren heller Glanz eine reine und reiche Seele verriet. Und er lauschte mit einem wohligen Gefühl auf den weichen Klang ihrer Stimme, als sie auch ihm einige Willkommensworte sagte.

Er konnte den Blick nicht mehr von ihr lassen. Ihre Schwestern waren nicht mehr für ihn vorhanden, sie konnten ihm nicht mehr das geringste Interesse abnötigen. Ruth nahm ihn vollständig gefangen, obwohl sie nur wenige Worte mit ihm sprach. Aber zu seiner großen Freude merkte er, dass sie keinen Versuch machte, sich in das Gespräch zu mischen, das ihre Schwestern mit Ralf Bernau wieder in Gang gebracht hatten. Er wusste, es hätte ihn geschmerzt, wenn auch sie mit dem vermeintlichen Dollarmillionär kokettiert hätte, wie es ihre Schwestern taten. Aber Ruth Waldorf schien die Kunst der Koketterie nicht gelernt zu haben. Sie gab sich so schlicht und natürlich, dass ihm ganz warm ums Herz wurde.

Leider blieb sie nicht lange im Zimmer, denn sie hatte von ihrer Stiefmutter Weisung erhalten, gleich wieder in die Küche hinauszukommen. Aber ehe sie hinausging, glitt ihre Hand liebevoll über die Stirn ihres Vaters, und sie nickte ihm lächelnd zu.

Das bemerkte John Stratter wohl, und es berührte ihn sehr sympathisch. Er sah der schlanken Gestalt mit einem sinnenden Blick nach.

In einer seltsamen Stimmung blieb er zurück. Ihm war, als sei plötzlich alles Licht aus dem Zimmer gewichen, als sei es sinnlos, dass er hier sitze und dem koketten Geschwätz und Gekicher dieser beiden Stiefschwestern Ruth Waldorfs zuzuhören. Der Eindruck, den Ruth auf ihn gemacht hatte, war so stark, dass er sich nicht davon losmachen konnte. Nie zuvor hatte eine Frau auf ihn so gewirkt, wie dieses stille, schlichte Geschöpf. Der zärtliche Blick, mit dem sie ihren Vater angesehen hatte, kam ihm nicht mehr aus dem Gedächtnis.

Er merkte sehr wohl, dass Doktor Waldorf von seinen Töchtern aus zweiter Ehe nicht viel zu halten schien, merkte auch, dass seine Gattin, die nun wieder zurückkam, ihn mit kalten, harten Augen musterte.

Sie betonte immer wieder im Lauf des Gesprächs ihre missliche Lage. Diese Frau, das wusste John Stratter schon in der ersten Stunde, würde durchaus nicht abgeneigt sein, eine Dankesschuld einzukassieren, die sein Vater so gern an Georg Waldorf abgetragen hätte. Und er wäre am liebsten wieder fortgegangen, um nicht mehr mit ansehen und anhören zu müssen, wie Mutter und Töchter mit Raffinement die Netze auswarfen nach dem vermeintlichen reichen Mann.

John Stratter hatte jedenfalls, während Ralf Bernau keine Minute zu Atem kam, reichlich Zeit, seine Beobachtungen zu machen, und er war sehr zufrieden mit sich, dass er in der Rolle seines Sekretärs in dieses Haus gekommen war. Sein Instinkt hatte ihn richtig geleitet.

Endlich gab die Hausfrau das Zeichen, zu Tisch zu gehen. Das Speisezimmer wurde geöffnet: Ruth war bereits mit dem Dienstmädchen da, dem sie wohl schnell noch einmal klar gemacht hatte, wie es servieren müsse.

Sie hatte ein schlichtes, schwarzes Seidenkleid angelegt. Eine breite, cremefarbige Spitzenborte umgab den Ausschnitt. Stolz und frei saß der feine Kopf mit seinem wundervollen Haarschmuck auf den zarten Schultern. John Stratter konnte kaum die Augen von ihr lassen.

Zu seiner großen Freude merkte er, dass Frau Helene ihre Töchter geschickt so dirigierte, dass sie zu beiden Seiten Ralf Bernaus Platz nahmen. Sie selbst saß neben Blandine und Doktor Waldorf neben Asta. Auf dessen anderer Seite saß John Stratter, und neben ihm wurde Ruth ihr Platz angewiesen. Also Frau Helene sorgte dafür, dass ihre Stieftochter ihren Töchtern bei dem reichen Amerikaner nicht ins Gehege kommen konnte!

Wenn sie geahnt hätte, dass sie gerade ihrer Stieftochter John Stratter zum Tischnachbar bestimmt hatte!

Ruth fühlte nicht, welche Zurücksetzung darin für sie lag, dass man sie neben den vermeintlichen Sekretär platziert hatte. Sie hatte mit einem leichten Erröten neben ihm Platz genommen, und da sie sah, dass der vermeintliche Mister Stratter durch ihre Schwestern hinreichend in Anspruch genommen war, widmete sie sich mit der ihr eigenen freundlichen Güte dem unbeachteten Sekretär.

Dass ihr das kein Opfer bedeutete, merkte ihr John Stratter mit Vergnügen an. Sie plauderte sehr angeregt mit ihm und ihrem Vater, und er sah, wie sie sich um den alten Herrn bemühte, ihm gute Bissen vorlegte und darauf achtete, dass er seine Bequemlichkeit hatte.

Das rührte ihn. Er merkte, dass diese Tochter ihren Vater sehr liebte und verehrte, was er an seinen beiden anderen Töchtern nicht wahrnehmen konnte. Wie warm klang Ruth Waldorfs Stimme, wenn sie mit dem Vater sprach, welch rührende Zartheit und Herzlichkeit lag darin!

Zu diesen beiden Menschen zog ihn sein Herz, während ihm Frau Helene und ihre Töchter fremd blieben. Er war sehr zufrieden, dass ihn die drei Damen so gar nicht beachteten, und ein seltsam weiches Glücksempfinden wachte in ihm auf, weil er merkte, dass Ruth durchaus nicht unzufrieden war, dass sie an seiner Seite saß.

Mit Wonne ließ auch er sich ein wenig von ihr verwöhnen und umsorgen und dankte ihr mit warmer Herzlichkeit dafür.

Nach Tisch servierte Ruth selbst den Mokka, und bei dieser Gelegenheit sprach sie auch einige freundliche Worte mit Ralf Bernau, überließ ihn jedoch dann ruhig wieder ihren Schwestern und widmete sich John Stratter, um den sich niemand kümmerte als ihr Vater.

John Stratter studierte entzückt jeden Zug ihres reinen, klaren Gesichts. Ihre hellen, strahlenden Augen leuchteten ihm bis ins Herz hinein und machten ihn so froh wie nie zuvor in seinem Leben.

Als die beiden Herren sich endlich verabschiedeten, wiederholte Ralf Bernau die Einladung für den Abend. John Stratter hatte sich verstohlen mit ihm verständigen können, und so sagte er, dass er die Herrschaften um acht Uhr in dem Auto, das John Stratter auch hier gemietet hatte, abholen lassen würde.

John Stratter verabschiedete sich von Ruth mit einem warmen Händedruck. Sie sah ihn mit großen, ernsten Augen an, wenn auch ein leises Rot wieder verräterisch in ihre Wangen stieg.

„Ich freue mich, mein gnädiges Fräulein, Sie heute Abend wiedersehen zu können.“

„Also auf Wiedersehen, Mister Bernau“, sagte sie ein wenig unsicher und schlug die Augen vor seinem Blick nieder.

***

Als die beiden Herren im Auto davonfuhren, fragte Ralf Bernau unruhig:

„Habe ich meine Rolle zu Ihrer Zufriedenheit gespielt, Mister Stratter?“

„Ausgezeichnet! Ich bin Ihnen sehr dankbar, Sie haben mir einen großen Dienst geleistet, größer, als ich vorher selbst geahnt habe. Es ist Ihnen doch hoffentlich nicht zu schwer gefallen?“

Ralf, dessen im Grunde frisches und heiteres Temperament sich in diesen Tagen wieder hervorgewagt hatte, erwiderte lachend:

„Es war nicht leicht, dem Ansturm von Liebenswürdigkeiten standzuhalten, die alle nur Mister John Stratter galten, aber man gewöhnt sich daran.“

Auch John Stratter musste lachen.

„Es war einfach fabelhaft, wie Sie den amerikanischen Akzent zum Ausdruck brachten, und von New York haben Sie erzählt, als seien Sie jahrelang drüben gewesen.“

„Das danke ich Ihrer Belehrung, Mister Stratter.“

„Die beiden jungen Damen haben Ihnen weidlich zugesetzt.“

„Das habe ich aber nicht auf mich bezogen, es galt ja Ihnen.“

„Sagen Sie lieber, meinem Reichtum.“

„Das wollte ich nicht sagen.“

„Aber empfunden haben Sie es auch?“

„Wenn ich ehrlich sein soll, ja.“

„Da sehen Sie, mein lieber Bernau, wie John Stratter allen Glanzes entkleidet ist, wenn ihn der Nimbus seines Reichtums nicht umgibt. Mich hat man absolut nicht beachtet.“

„Gestatten Sie mir eine offenherzige Bemerkung?“

„Ich bitte darum.“

„Dann möchte ich sagen, dass der entschieden wertvollere Teil der Familie Waldorf Sie doch sehr beachtet hat. Doktor Waldorf schien sich lieber mit Ihnen zu unterhalten, obwohl er doch mich für den Sohn seines Jugendfreundes halten musste, und – Fräulein Ruth Waldorf hat sich anscheinend auch lieber mit Ihnen beschäftigt als mit mir.“

„Und diese beiden Menschen halten Sie für die wertvolleren?“

„Unbedingt!“

„Dann sind Sie derselben Ansicht wie ich.“

Und nach kurzem Schweigen fuhr er fort:

„Ruth Waldorf erschien mir neben ihren puppenhaften, koketten Schwestern wie eine junge Königin, trotz der Schlichtheit ihres Anzugs. Sie interessiert mich sehr, und ich glaube, es lohnt sich, sie näher kennen zu lernen. Sie müssen mir weiter helfen und auch ferner die Mutter und die Schwestern genügend beschäftigen, damit ich mich ungestört mit Ruth Waldorf – und mit ihrem Vater beschäftigen kann. Ich brauche ja nicht zu fürchten, dass Ihnen die zu große Liebenswürdigkeit der beiden jungen Damen gefährlich wird, da Ihr Herz schon anderweitig gefesselt ist.“

„Sie können unbesorgt sein, Mister Stratter, selbst wenn mein Herz nicht in festen Banden wäre, könnten mir die beiden jungen Damen nicht gefährlich werden. Sie sind nicht mein Geschmack.“

„Das freut mich für Sie, denn ich halte sie für hohle Puppen, die von ihrer Mutter trefflich auf den Mann dressiert sind.“

„Diesen Eindruck haben sie mir auch gemacht.“

„Well! Da also Ihre Herzensruhe nicht dadurch gefährdet ist, bitte ich Sie, auch in Zukunft so charmant und weltmännisch, wie Sie es heute taten, dem Ansturm der Damen standzuhalten. Aber bitte, richten Sie es so ein, dass keine von beiden sich für bevorzugt halten kann!“

„Gewiss, Mister Stratter.“

„Und – wenn ich bitten darf, beachten Sie Ruth Waldorf so wenig als möglich, denn wenn ihre Stiefmutter nur die leiseste Sorge haben könnte, dass sie ihren Töchtern bei Ihnen ins Gehege kommt, dann ist sie imstande, ihre Stieftochter aus unserer Nähe zu verbannen, und das wäre mir sehr unerwünscht, denn, wie gesagt, Fräulein Ruth Waldorf interessiert mich sehr. Wie gefällt sie Ihnen?“

„Ich hatte wenig Gelegenheit, sie zu beachten, da ihre Schwestern mich so stark mit Beschlag belegten, aber sie erschien mir sehr vornehm und distinguiert, außerdem sehr ernst und zurückhaltend.“

John Stratters Augen leuchteten auf. Und dann sagte er versonnen:

„Sie ist auch sehr gütig, denn sie hat sich mit mir beschäftigt, weil die anderen mich nicht beachteten. Wenn mir der Nimbus des Reichtums fehlt, habe ich nicht eben viel in die Waagschale zu werfen.“

„Gestatten Sie, dass ich widerspreche; Sie wirken als Persönlichkeit so stark, dass der besagte Nimbus sehr entbehrlich ist.“

John Stratter lachte.

„Haben Sie nicht bemerkt, wie glänzend meine Persönlichkeit Frau Doktor Waldorf und ihren Töchtern gegenüber versagte.“

„Das will nichts sagen. Auf solche Menschen wirken eben nur Zahlen.“

Sinnend sah John Stratter vor sich hin. Und dann flog ein Lächeln über seine Züge, das sie seltsam weich erscheinen ließ. Er atmete tief auf.

„Also Sie wissen, lieber Bernau, wie Sie sich zu verhalten haben. Und das eine sage ich Ihnen, wenn der Besuch in Düsseldorf so verläuft, wie ich es mir jetzt wünsche, dann – dann sind wir quitt. Dann haben Sie mir dadurch, dass Sie meine Rolle so gut spielten, einen ebenso großen Dienst erwiesen, wie ich ihn Ihnen erweisen konnte.“

„O nein, Mister Stratter, so einen großen Dienst kann ich Ihnen niemals erweisen. Das Schicksal mag geben, dass ich Ihnen in allen Dingen nützlich sein kann, damit sich meine Dankesschuld ein wenig verringert.“

„Well! Wir wollen das jetzt ruhen lassen. Hier sind wir am Hotel angelangt. Kommen Sie mit auf mein Zimmer, damit ich Ihnen noch Direktiven geben kann, zunächst für heute Abend.“

Das geschah. John Stratter verbreitete sich ausführlich darüber, was Ralf Bernau im Verkehr mit der Familie Waldorf zu tun und zu lassen hatte. Für unvorhergesehene Fälle verabredeten sie geheime Zeichen, durch die sie sich verständigen konnten.

***

Die beiden Herren hatten sorgfältige Vorbereitungen für das Souper getroffen, zu dem die Familie Waldorf eingeladen war. Ein kleines separates Zimmer war ihnen im Hotel zur Verfügung gestellt worden, und es wurde ein auserlesenes Menü bestellt. Den Tafelschmuck bestimmte John Stratter selbst. Vier kostbare Porzellanschalen, mit erstklassigem Konfekt gefüllt, wurden vor den Plätzen der vier Damen aufgestellt. Und jeder dieser vier Plätze wurde reich mit Blumen dekoriert. Für jede Dame wählte John Stratter eine besondere Blumenart. So wurde der Platz Frau Helenes mit Orchideen geschmückt, für Asta hatte man Rosen gewählt, für Blandine Chrysanthemen und für Ruth – Veilchen, wundervoll duftende Veilchen.

Die Plätze der Herren blieben dazwischen ohne Dekoration. Diesmal hatte John Stratter auch die Tischordnung bestimmt, aber er hatte sich genau an Frau Helenes Arrangement vom Mittag gehalten. Das obere Ende der Tafel sollte Frau Helene einnehmen, das untere Doktor Waldorf. Auf der einen Längsseite sollte Ralf Bernau zwischen Blandine und Asta platziert werden und auf der anderen Ruth und John Stratter.

So war alles aufs Beste geordnet, als die Herrschaften punkt acht Uhr eintrafen. Frau Helene und ihre Töchter hatten ihre schönsten und elegantesten Abendkleider angelegt. Man merkte ihnen durchaus nicht an, dass Doktor Waldorf nur mit Mühe den Lebensunterhalt für seine Familie verdienen konnte. Die drei Damen schienen jedenfalls zuerst für sich und ihre Toiletten zu sorgen.

Ruth trug wieder das schlichte, schwarze Seidenkleid. Sie besaß keine weitere Festtoilette. Um keinen Preis der Welt hätte sie die Sorgen ihres Vaters vermehren mögen durch Toilettenansprüche, wie sie die Schwestern und die Stiefmutter stellten.

John Stratter hatte inzwischen schon vorsichtig Erkundigungen eingezogen über die Verhältnisse Doktor Waldorfs und in Erfahrung gebracht, dass seine Praxis durch sein Augenleiden sehr zurückgegangen sei und dass er mit der Konkurrenz schwer zu kämpfen habe.

Mitleidig ruhte nun sein Blick auf dem alten Herrn, der einen ziemlich abgetragenen Frack trug. Sein edel geschnittenes Gesicht sah sehr bleich aus, das Haar war stark ergraut, und die dunkelgraue Schutzbrille erhöhte noch die Blässe des Gesichts.

Es rührte ihn wieder, dass Ruth sich sorglich und liebevoll um den Vater bemühte.

Als Doktor Waldorf die reich geschmückte Tafel sah, blickte er zu Ralf Bernau hinüber.

„Mein lieber Mister Stratter, so viel Glanz und Luxus sind wir allerdings nicht gewöhnt und in solcher Weise können wir Sie nicht bewirten“, sagte er bekümmert und ein wenig beschämt.

„Mein sehr verehrter Herr Doktor“, erwiderte Ralf Bernau mit liebenswürdigem Lächeln, „Sie haben auch nicht den Vorzug, Damen bewirten zu dürfen. Sie sehen, dass ich nur die Plätze der Damen geschmückt habe. Es versteht sich doch von selbst, dass man mit Damen mehr Umstände machen muss als mit Herren.“

Da flog ein Lächeln über die Züge Doktor Waldorfs. Er reichte Ralf Bernau die Hand.

„Von diesem Gesichtspunkt aus kann man sich den Glanz dieser Tafel wohl gefallen lassen, und meine Damen werden sich daran freuen. So will ich es ohne Bedenken auch tun.“

Man hatte Platz genommen, und Asta und Blandine sowie ihre Mutter überfielen wieder geradezu den vermeintlichen Mister Stratter mit ihrem Entzücken über die reizenden Schalen mit ihrem süßen Inhalt. Nur in Ruths Gesicht bemerkte John Stratter ein leises Befremden. Die Stirn zog sich zwischen den dunklen, schön gezeichneten Brauen zusammen, und ihre Lippen pressten sich aufeinander. Ihre Augen blickten besorgt und ängstlich nach dem Vater hinüber. Als er sich aber dann nach Ralf Bernaus Erklärung mit einem erlösten Lächeln niederließ, atmete auch sie wie erleichtert auf und reichte mit einem freundlichen Lächeln Ralf Bernau die Hand.

„Lassen Sie mich Ihnen danken für die reizende Überraschung, aber es geht mir wie meinem Vater, Mister Stratter, ich nehme nicht gern Aufmerksamkeiten an, die ich nicht im gleichen Maß erwidern kann.“

Frau Helene fuhr ärgerlich auf.

„Aber Ruth, wie kannst du nur Mister Stratter die Freude verderben! Hören Sie gar nicht auf Ruth, Mister Stratter, sie versteht leider so gar nicht, liebenswürdig Gebotenes mit Liebenswürdigkeit entgegenzunehmen.“

Ruth errötete jäh und sah erschrocken in Ralf Bernaus Gesicht.

„Ich hoffe, Sie haben meine Äußerung nicht als Unliebenswürdigkeit aufgefasst. Das sollte mir sehr Leid tun. Bitte seien Sie überzeugt, dass ich dem Sohn von meines Vaters Jugendfreund ganz gewiss niemals mit einer Unliebenswürdigkeit begegnen möchte. Hat es den Anschein gehabt, so bitte ich um Verzeihung. Ich habe mich dann ganz sicher falsch ausgedrückt.“

Ralf zog ihre Hand an die Lippen.

„Bitte, seien Sie ganz außer Sorge, gnädiges Fräulein, ich habe vollkommen richtig verstanden, wie es gemeint war, und bitte Sie herzlich, auch meine kleine Aufmerksamkeit richtig zu verstehen. Da ich für Ihren Herrn Vater eine so große Verehrung hege, möchte ich doch seinen Damen gegenüber auch von besonderer Artigkeit sein.“

Ruths Gesicht erhellte sich, und sie sah mit einem lieben Lächeln zu ihrem Vater hinüber.

„Dann will ich mir Ihre Aufmerksamkeit gern gefallen lassen, Mister Stratter.“

John Stratter warf seinem Sekretär verstohlen einen Blick zu dafür, dass er eine so plausible Begründung gefunden hatte, die es auch Ruth ermöglichte, sich zu freuen. Frau Helene fand jedoch, dass sich Ruth sehr unnötig in den Vordergrund drängte, und gab ihren Töchtern einen verstohlenen Wink, sich wieder der Aufmerksamkeit ihres Tischherrn zu bemächtigen. Das geschah denn auch so intensiv, dass sich im Verlauf des Abends kaum noch einmal Zeit fand für Ralf Bernau, das Wort an Ruth zu richten. Desto angeregter konnte sich John Stratter mit ihr unterhalten.

Nach Tisch gelang es John Stratter, Ruth eine Weile von der übrigen Gesellschaft zu isolieren, er sagte lächelnd zu ihr:

„Ihren Fräulein Schwestern machen die Konfektschalen entschieden mehr Freude als Ihnen.“

Ruth seufzte leise auf.

„Ja, sie haben mehr Talent, sich beschenken zu lassen, als ich es habe.“

„Ihnen war Mister Stratters Aufmerksamkeit unangenehm?“

Sie sah ihn unsicher an.

„Nur weil ich weiß, dass er nach Gelegenheiten sucht, eine eingebildete Dankesschuld an meinen Vater abzutragen.“

„Sie nennen es eine eingebildete Dankesschuld? Ich bin darüber orientiert, da ich das Vertrauen Mister Stratters besitze, und weiß, dass sie nicht eingebildet ist.“

„Sie sind dann anscheinend doch nicht ganz orientiert. Gestatten Sie mir eine Frage, Mister Bernau, haben Sie irgendwelchen Einfluss auf Mister Stratter?“

Es lag eine bange Unruhe in ihrer Frage. Er zögerte einen Augenblick. Dann sagte er lächelnd:

„Zuweilen lässt er sich gern von mir beraten.“

„O bitte, Mister Bernau, dann wenden Sie doch all Ihren Einfluss auf, um Mister Stratter davon abzuhalten, irgendetwas zu tun, was nach einem Dankesbeweis aussieht. Meinen Vater quält der Gedanke, dass Mister Stratter hier hergekommen ist, um aus Dankbarkeit irgendetwas zu tun, was unsere Lage verbessern könnte. Mein Vater ist gerade in seiner jetzigen misslichen Lage doppelt empfindlich. Und er und ich, wir sind so in Sorge, dass Mister Stratter durch – durch die weniger zartfühlende Art meiner Stiefmutter und meiner Schwestern verleitet werden könnte, etwas zu unternehmen, das – wie eine Bezahlung für einen Freundschaftsdienst aussieht. Sie sagen, dass Sie orientiert sind über diesen Freundschaftsdienst?“

John Stratter ließ seine Augen nicht von Ruths erregtem Gesicht.

„Ja, gnädiges Fräulein, ich weiß, dass John Stratter von seinem Vater verpflichtet wurde, alles zu tun, was in seiner Kraft steht, um die Lage Ihres Herrn Vaters zu verbessern, weil er Ihrem Vater alles verdankte, nicht nur sein Leben, sondern auch alles, was er in seinem ferneren Leben erreichte.“

„Dann hat aber Mister Stratters Vater sicher vergessen, seinem Sohn zu sagen, dass mein Vater nur eine Schuld abtrug, als er dem Freund in der schlimmsten Stunde seines Lebens half.“

„Was sollte das für eine Schuld gewesen sein?“

Ruth atmete tief auf und sah verstohlen um sich, ob sie auch nicht belauscht werden könnten. Aber die Schwestern kokettierten mit dem angeblichen Mister Stratter, und die Stiefmutter hatte ihren Gatten vor einem Gemälde, das drüben an der Wand hing, festgenagelt, damit er Asta und Blandine nicht stören konnte. So achtete niemand auf Ruth und John Stratter. Und Ruth fuhr nun leise fort:

„Bitte, sagen Sie doch Mister Stratter, dass mein Vater sein Studium nicht hätte beenden können, wenn sein Großvater meinen Vater während der letzten Semester nicht unterstützt hätte. Nur ihm hatte mein Vater es zu danken, dass er damals, als Walter Stratter in Not geriet, schon in der Lage war, ihm zu helfen. War es da nicht selbstverständlich, dass mein Vater den Sohn seines Wohltäters nicht in Not und Verzweiflung umkommen ließ? Er trug eine Dankesschuld ab, indem er ihm half, und dass es ihm gelungen ist, das ist die schönste und reinste Freude in meines Vaters sonst so freudearmen Leben. Die soll ihm nicht verkümmert werden, wenn ich es verhindern kann. Ich hätte so gern mit Mister Stratter selbst davon gesprochen, aber ich werde wohl keine Gelegenheit finden, mit ihm allein reden zu können. Mama fürchtet wohl – aber nein, das kann ich Ihnen nicht sagen. Kurzum, ich fühle, dass ich wohl nie Gelegenheit zu einer ungestörten Aussprache mit Mister Stratter haben werde, und deshalb bitte ich Sie, suchen sie Mister Stratter klar zu machen, dass es meinen Vater sehr schmerzen und beschämen würde, wenn er für seine selbstverständliche Tat belohnt werden sollte. Ich hoffe, Sie verstehen mich, Mister Bernau?“

Er verneigte sich. Am liebsten hätte er ihr in tiefster Verehrung die Hände geküsst. Wie gut verstand er dieses herrliche Mädchen und ihren verehrungswürdigen Vater! Vater und Tochter waren einander wert, es waren edle, vornehme Menschen, die sich nicht für eine gute Tat bezahlen lassen wollten.

Um so lieber würden sich Frau Helene und ihre Töchter dafür bezahlen lassen. Sie waren bedeutend weniger vornehm in ihren Empfindungen und schienen schon darauf zu warten, dass Mister Stratter das Füllhorn seines Reichtums über sie ausschüttete. Vorläufig schien Frau Helene erst einmal abwarten zu wollen, ob es nicht einer ihrer Töchter gelang, den Goldfisch einzufangen. Geschah das nicht, dann würde sie sicher eines Tages sehr deutlich werden. Ruth schien das zu fürchten, und er sah, dass sie litt unter dieser Furcht. Wie er selbst, hatte wohl auch Ruth schon bemerkt, dass es Frau Helene zu verhindern suchte, dass Ruth sich dem vermeintlichen John Stratter näherte.

John Stratter durchschaute Frau Helene sehr wohl. Und wieder dankte er dem Schicksal, dass er unter einem anderen Namen hier hergekommen war.

Mit einem bewundernden Blick sah er in Ruths flehende Augen hinein, und es wurde ihm so warm und wohl ums Herz wie noch nie in seinem Leben.

„Ich verstehe Sie vollkommen, mein gnädiges Fräulein, und ich werde Mister Stratter Ihre Wünsche nachdrücklich ans Herz legen. Aber gestatten Sie mir eine Einwendung. Ihr Vater ist durch sein Augenleiden sehr behindert in der Ausübung seines Berufs. Dieses Augenleiden könnte, wie mir Ihr Herr Vater vorhin auseinander gesetzt hat, vielleicht behoben werden durch eine allgemeine Kräftigung seiner Gesundheit und durch eine gründliche Ausspannung. Würde es Ihren Vater auch bedrücken, wenn ihm Mister Stratter das Geld zu einer gründlichen Kur – sagen wir – vorschießen würde? Er könnte es ja, wenn er ganz gesund geworden ist und wieder mehr verdienen kann, zurückzahlen. Sie haben mich mit einer Mission betraut, ich soll Mister Stratter Ihren Wunsch mitteilen – wie nun, wenn ich Sie in Mister Stratters Namen ebenfalls mit einer Mission betraute? Ich weiß, Mister Stratter hat den sehnlichsten Wunsch, Ihrem Vater zu helfen, weil er es seinem Vater auf dem Sterbebett versprach. Und sie als gute, liebevolle Tochter sollten doch den Wunsch haben, dass Ihr Herr Vater wieder gesund wird. Könnten Sie nun nicht all Ihren Einfluss aufbieten, Ihren Herrn Vater zu veranlassen, dass er, von Mister Stratter wenigstens leihweise eine Summe annehmen würde, die es ihm ermöglichte, sich in Ruhe gesund zu pflegen?“

Ruth war sehr bleich geworden. Er merkte, wie es in ihr kämpfte. Ihre Lippen zuckten wie in verhaltenem Weinen, und mit bebender Stimme sagte sie:

„Sie führen mich in eine schwere Versuchung, ich glaube, es ist die schwerste, die es für mich gibt. Wenn mein Vater sich nur einige Monate schonen und sich richtig pflegen könnte, dann würden sich mit seiner Gesundheit auch seine Augen bessern. Und wenn er wieder ungehindert arbeiten und seinen geliebten Beruf ausüben könnte, dann würde er wieder ein glücklicher Mensch werden. Er leidet namenlos darunter, dass er die Ansprüche seiner Frau und meiner Schwestern nicht erfüllen kann, wie er es früher tun konnte. Ihre Vorwürfe quälen ihn unsagbar. Und deshalb würde er für seine Gesundheit die größten Opfer bringen. Aber ich weiß, es wäre ihm ein unerhörtes Opfer, gerade von Mister Stratter sich zu einer solchen Kur verhelfen zu lassen. Ich weiß nicht, ob ich ihm dazu raten dürfte.“

John Stratter sah, wie sie mit sich kämpfte, wie ihre Augen feucht wurden. Es tat ihm Leid, sie in solche Kämpfe zu stürzen, und er hatte auch Angst, dass sie ihre Selbstbeherrschung verlieren und sich den anderen dadurch verraten würde. Er durfte sich jetzt überhaupt nicht länger so intensiv mit ihr unterhalten, damit es nicht auffiel. Und so sagte er hastig:

„Ich sehe, dass dieser Gedanke Sie erregt, und wir dürfen jetzt nicht weiter darüber sprechen. Vielleicht gelingt es mir einmal, ungestört über diese Angelegenheit mit Ihnen sprechen zu können. Bitte beruhigen Sie sich, ich merke, wie Sie jetzt kämpfen mit Ihrem Stolz und Ihrer vornehmen Gesinnung und mit dem heißen Wunsch, Ihrem Herrn Vater helfen zu können. Wir sprechen noch darüber.“

Sie seufzte tief auf.

„Sie dürfen mich nicht in Versuchung führen, Mister Bernau, ich liebe meinen Vater über alles, und ich leide mit ihm. Wenn ich ihm doch selber helfen könnte! Aber jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre verständnisvolle Teilnahme.“

„Und ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, gnädiges Fräulein, Sie haben mir damit wohlgetan.“

Unter seinem Blick stieg dunkle Röte in ihr Gesicht, und sie sagte unsicher:

„Wie es kommt, weiß ich nicht, aber ich habe das bestimmte Gefühl, dass Sie ein Mensch sind, dem man Vertrauen schenken kann und der es nie missbrauchen wird.“

Seine Augen leuchteten in die ihren.

„Ihre Worte machen mich sehr glücklich“, sagte er leise.

Sie konnte ihm nicht antworten, denn ihr Vater trat jetzt zu ihnen heran. Auch Frau Helene kam nach einer Weile, immer bemüht, ihren Töchtern Gelegenheit zu geben, sich allein mit Mister Stratter zu beschäftigen. Aber Ralf Bernau merkte nur, dass sein Chef nicht mehr mit Ruth sprach, und glaubte, sich auch eine Weile von dem Ansturm raffinierter Verführungskünste erholen zu dürfen. So trat auch er zu den anderen heran, und das Gespräch wurde allgemein.

Im Laufe dieser Unterhaltung sagte Ralf Bernau liebenswürdig zu Doktor Waldorf:

„Ich erfuhr von Ihren Damen, Herr Doktor, dass sie leidenschaftlich gern Auto fahren. Ich will morgen eine kleine Tour nach auswärts machen und mir zuletzt Köln ansehen. Würden Sie mir nicht gestatten, Ihre Damen auf dieser Tour mitzunehmen?“

Asta und Blandine jauchzten auf, und Doktor Waldorf hatte nicht den Mut, ihnen dieses Vergnügen zu zerstören.

„Wenn Sie meine Damen mitnehmen wollen. Aber – es sind doch nur vier Plätze im Wagen?“

„Ich bleibe ohnedies zu Hause, da du mich in der Sprechstunde brauchst“, sagte Ruth schnell.

Ralf Bernau lachte.

„Nun sehen Sie wohl, Herr Doktor, Ihre Frau Gemahlin, Ihre beiden Fräulein Töchter und ich, das sind ja nur vier Personen.“

„Und Mister Bernau?“

„Oh, der hat ohnedies wichtige Korrespondenzen zu erledigen.

Aber auch, wenn er mitgefahren wäre, hätte er noch Platz gehabt. Neben dem Chauffeur ist ja noch ein Sitz frei.“

„Dann soll es mich freuen, wenn meine Damen so seltenes Vergnügen haben können. Und da meine Damen Köln kennen, haben Sie wenigstens gute Führer.“

Ralf verneigte sich lächelnd:

„Darauf habe ich schon spekuliert“, scherzte er. „Wir speisen dann in Köln zu Mittag und vor Dunkelheit sind wir zurück.“

Dieser Ausflug war zwischen Mister Stratter und Ralf Bernau geplant worden. John Stratter hatte bestimmte Gründe, Frau Helene und ihre Töchter möglichst aus dem Weg zu räumen. Dass Ruth sich nicht an der Fahrt beteiligen würde, hatte er vorausgesetzt. Und nun war er sehr zufrieden mit dem Arrangement.

Man blieb fast bis zwölf Uhr beisammen, und wenn Asta und Blandine den vermeintlichen Mister Stratter auch dauernd in Anspruch nahmen, so kam Ruth doch auf ihre Kosten. Sie plauderte immer wieder mit John Stratter, in der Meinung, dass er nur sein Sekretär sei. Und er konstatierte mit Entzücken, dass sie unter seinem Blick immer wieder errötete und dass ihre Stimme zuweilen leise bebte, wenn sie mit ihm sprach.

Diese beiden Menschen schieden an diesem Abend mit dem Gefühl, dass sie köstliche Stunden verlebt hatten. Und ihre Hände ruhten eine Weile fest und warm ineinander, als sie sich verabschiedeten.

Das Auto stand schon wieder bereit, um die Familie Waldorf nach Hause zu fahren. Die beiden Herren begleiteten sie bis zum Wagen, und John Stratter erhaschte noch einen aufleuchtenden Blick von Ruth.

Auf der Heimfahrt schwatzten Asta und Blandine aufgeregt durcheinander, von dem reizenden Abend und von dem morgigen Ausflug. Es fiel ihnen nicht ein, Ruth ein Wort des Bedauerns zu sagen, dass sie nicht würde mitfahren können. Immer war es selbstverständlich, dass Ruth in solchen Fällen klaglos zurücktrat.

Still, mit geschlossenen Augen lag Ruth im Polster des Wagens. Gleich den Schwestern hielt sie auf dem Schoß den Karton mit der kostbaren Porzellanschale. Und die Veilchen, der ihr zugedachte Blumenschmuck, dufteten zu ihr empor. Für sie waren diese Dinge nicht von so großer Wichtigkeit wie für die Schwestern – sie wären es vielleicht gewesen, wenn sie gewusst hätte, wer in Wahrheit der Spender dieser Blumen und dieses Präsents war. Ihr junges Herz klopfte zum ersten Mal einem Mann unruhig entgegen. Sie hatte nicht, wie ihre jüngeren Schwestern, schon zahlreiche Flirts hinter sich. Noch nie war ein Mann ihrer Herzensruhe gefährlich geworden. Aber seit sie heute Mittag zum ersten Mal in die stahlblauen Augen des vermeintlichen Mister Bernau gesehen hatte, war etwas in ihr erwacht, das sie zugleich beunruhigte und beglückte.

Und sie fragte sich mit einem bangen Empfinden, ob sie sich nicht getäuscht hatte, wenn sie zu bemerken glaubte, dass Mister Bernau mit einem sehr warmen Interesse in ihre Augen gesehen hatte. Er hatte sich ihr freilich fast den ganzen Abend gewidmet, aber was wollte das heißen? Die Schwestern hatten ja nur Augen gehabt für Mister Stratter und hatten nicht einmal dem Vater Gelegenheit gegeben, mit dem Sohn seines Jugendfreundes zu sprechen. Mama aber hatte nur immer dafür gesorgt, dass die Schwestern ungestört mit Mister Stratter zusammen sein konnten. Da war Mister Bernau doch schließlich nichts anderes übrig geblieben, als sich mit ihr zu unterhalten.

So suchte sie sich ihr scheues Hoffen, dass sich Mister Bernau für sie besonders interessiert haben könnte, auszureden. Eine innere Stimme sagte ihr aber doch immer wieder:

„Er tat es aber gern, er hat sich gern mit dir beschäftigt, und seine Augen haben so warm und herzlich in die deinen geblickt. Schön muss es sein, von einem solchen Mann geliebt zu werden.“

Und sie barg bei diesem Gedanken ihr erglühendes Gesicht in den kühlen, duftenden Veilchen, als könne ihr jemand diese Gedanken vom Gesicht ablesen.

Neidlos gönnte sie den Schwestern die Aufmerksamkeiten Mister Stratters – ihr galt der Sekretär mehr. Wenn ihr auch Mister Stratter sympathisch war und sie als Sohn des Jugendfreundes ihres Vaters interessierte, so schien ihr doch der vermeintliche Sekretär als der Bedeutendere, Interessantere.

Sie versuchte sich sein großzügiges, markantes Gesicht vorzustellen, und es gelang ihr auch. Zug um Zug sah sie ihn vor sich mit dem energischen Gesicht, den entschlossenen blitzenden Augen, die doch so warm und weich blicken konnten, wenn sie den ihren begegneten.

Sie riss sich empor aus ihren Träumereien und rief sich in Gedanken mahnend zu:

O Ruth, Ruth, verliere dich nicht in Torheiten! Halt dein Herz fest! Selbst wenn Mister Bernau Gefallen an dir finden würde, wer weiß, ob er nicht längst an eine Frau gebunden ist. Und selbst, wenn dies nicht der Fall wäre – was soll er, der in abhängiger Stellung lebt, mit einer armen Frau? Also fort mit solchen lockenden Gedanken!

Aber – schön war es doch gewesen heute Abend, so schön! Und was er mit ihr über ihren Vater gesprochen, welche warme Teilnahme, welch feines Verständnis aus seinen Worte geklungen hatte! Ach ja, Vaters arme Augen, wenn die wieder gesund werden könnten, wenn der Vater wieder gesund und kräftig seiner Praxis nachgehen könnte – wie schön das wäre!

Und verlockend stieg der Wunsch in ihr auf, den Vater zu bewegen, dass er von Mister Stratter ein Darlehen annehmen möge, damit er einmal gründlich ausspannen konnte.

Sie seufzte tief auf.

Ihr Vater, der neben ihr saß, fasste verstohlen ihre Hand und drückte sie. Er ahnte nicht, was sie bewegte, aber ihr Seufzer hatte an sein Ohr geklungen, und er glaubte, es sei ihr doch Leid, dass sie den Autoausflug nicht mitmachen konnte. Sie musste ja. immer zurückstehen, seine liebe Älteste.

***

Anderntags fuhren also die drei Damen mit Ralf Bernau, der sich immer sicherer in die Rolle seines Chefs hineinspielte, schon am Morgen im Auto davon. Er hatte Order von John Stratter bekommen, nicht vor Dunkelheit mit den Damen zurückzukommen und den Damen in Köln so viele Genüsse zu bieten, dass sie gern bald wieder so einen Ausflug mit ihm machen würden.

Ralf Bernau hatte lachend sein Möglichstes zu tun versprochen.

John Stratter hatte nun keine Ruhe mehr, bis es endlich die Stunde erlaubte, in der Wohnung Doktor Waldorfs seine Aufwartung zu machen.

Das Dienstmädchen öffnete ihm die Tür und ließ ihn eintreten, in der Meinung, er sei ein Patient, der den Arzt konsultieren wollte. Erst als er eingetreten war, sah sie, dass es einer der Herren war, die gestern zu Tisch gewesen waren und ihr ein so fürstliches Trinkgeld gegeben hatten. Auch jetzt drückte ihr der fremde Herr wieder ein Geldstück in die Hand und gebot ihr, ihn dem gnädigen Fräulein zu melden.

Ruth empfing ihn im Wohnzimmer und trat ihm errötend entgegen.

Sie trug wieder das schlichte, mattblaue Hauskleid und war sichtlich etwas verlegen bei seinem Anblick.

„Vater hat jetzt Sprechstunde, Mister Bernau, kann ich Ihnen mit etwas dienen?“

John Stratter war glücklich, Ruth wieder vor sich zusehen; er hatte eine unruhevolle Sehnsucht nach ihr gehabt. Die Liebe hatte ihn gepackt mit ihrer Zaubermacht. Ganz plötzlich war dieses große, heiße Gefühl in ihm erwacht. Ihm war zumute, als habe er sein Leben lang nur auf Ruth Waldorf gewartet. Und er gab sich diesem Gefühl umso williger hin, als er wusste, dass er einen Herzenswunsch seines verstorbenen Vaters erfüllte, wenn er sich eine Tochter Doktor Waldorfs zur Frau nahm. Er wehrte sich nicht dagegen, aber alles Wehren hätte ihm auch nichts genützt. Ruths ganze Art zog ihn unwiderstehlich an, und er war schon jetzt entschlossen sie zu seiner Frau zu machen, wenn sie es nur werden wollte.

Aber er wollte von ihr nicht geheiratet werden, weil er ein reicher Mann war; gerade als der schlichte und vermögenslose Sekretär wollte er sie sich gewinnen. Soviel wusste er freilich schon von ihr, dass sie ihre Hand nur mit ihrem Herzen verschenken würde. Frauen wie Ruth Waldorf heiraten nur den Mann ihrer Liebe oder gar nicht. Um das zu wissen, brauchte er sie gar nicht erst näher kennen zu lernen. Diese Überzeugung kam ihm, wenn er in ihre reinen, stolzen und doch so zärtlich blickenden Augen sah, und aus vielen kleinen Zügen, die ihm ihr Wesen enthüllten, ohne dass sie es ahnte. Aber es erschien ihm so süß und verlockend, sie als der arme Sekretär zu erringen. Immer, wenn er einmal daran gedacht hatte, sich zu verheiraten, war die Furcht in ihm wach geworden, nur seines Geldes wegen begehrt zu werden. Und deshalb war er doppelt froh, unter der Maske seines Sekretärs hier hergekommen zu sein. Er fühlte, sein Schicksal hatte das so bestimmt.

Er atmete tief auf.

„Ich bin gekommen, gnädiges Fräulein, weil Mister Stratter mit den Damen fort ist und ich nun absolut nicht wusste, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte“, sagte er mit einem bittenden Lächeln.

Sie errötete noch mehr.

„Ich glaubte doch gehört zu haben, dass Sie wichtige Korrespondenz erledigen sollten?“, fragte sie mit einer leisen Schelmerei.

Er sah sie lächelnd an und schüttelte den Kopf.

„Das war nur ein Vorwand von Mister Stratter, weil er den Anschein erwecken wollte, dass ich auch dann nicht mit nach Köln fahren würde, wenn noch Platz im Wagen gewesen wäre.“

„Und so sind Sie durch meine Schwestern um den Ausflug gekommen.“

„O nein, ich hätte ja mitfahren können, wenn ich gewollt hätte, der Platz neben dem Chauffeur war ja noch frei. Mir erschien es viel verlockender, in Düsseldorf zu bleiben, weil – weil ich hoffte, mit Ihnen und Ihrem Herrn Vater einige behagliche Plauderstunden verbringen zu können. Sie dürfen mich auch zum Mittagessen einladen.“

Er sagte das so drollig, dass sie lachen musste.

„O weh, Mister Bernau!“

Er machte ein betretenes Gesicht.

„Das war wohl sehr unverschämt, und Sie werden mich gleich bitterböse verabschieden?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, so ungastlich werde ich nicht sein. Ich bedaure Sie nur wegen des Menüs, das Ihnen bei uns vorgesetzt wird. Wir sind nicht auf Gäste eingerichtet heute. Es gibt nur Kartoffelpüree und Bratwurst.“

Seine Augen strahlten über ihren munteren Ton. Er legte beteuernd die Hand aufs Herz.

„Das ist gerade mein Leibgericht.“

„Dann werde ich es natürlich nicht übers Herz bringen, Sie vom Genuss Ihres Leibgerichtes auszuschließen. Aber auf die Plauderstunde mit meinem Vater werden Sie wohl lange warten müssen. Seine Sprechstunde dauert noch anderthalb Stunden.“

Er sah sie bittend an.

„Werden Sie sich meiner dann nicht so lange erbarmen?“

Sie sah errötend in sein Gesicht.

„Meine Unterhaltung wird Ihnen wohl sehr langweilig erscheinen, Mister Bernau, ein so weit gereister Mann wie Sie ist andere Unterhaltung gewöhnt.“

„Andere, ja, aber keine bessere. Sie schicken mich nicht fort?“

Sie sah ihn unsicher an und sagte dann zögernd:

„Mister Bernau, bei uns herrschen andere Sitten und Gebräuche als drüben bei Ihnen in Amerika. Es ist hier nicht üblich, dass eine junge Dame allein einen jungen Herrn empfängt.“

Erschrocken sah er sie an.

„Sie wollen mich doch nicht fortschicken?“

Ruth überlegte einen Augenblick. Dann sagte sie ruhig:

„Nein, so ungastlich will ich nicht sein, aber ich werde hinüber zu meinem Vater gehen und ihm sagen, dass Sie hier sind. Dann kann er ab und zu zwischen zwei Konsultationen auf einige Zeit herüberkommen. So viele Patienten sind ohnedies nicht da. Bitte entschuldigen Sie mich einige Minuten!“

Er verbeugte sich, und sie verließ das Zimmer. Ihr Vater entließ gerade einen Patienten, und ehe er einen neuen hereinrufen konnte, stand Ruth vor ihm.

„Lieber Vater, Mister Bernau ist gekommen. Er scheint sich sehr zu langweilen und hofft, dass wir uns seiner annehmen. Ich kann ihn nicht gut fortschicken, er will sogar Bratwurst und Kartoffelpüree mit uns essen.“

Der alte Herr lächelte.

„Nun, so soll er uns willkommen sein, Ruth.“

„Ja, Vater, aber er hat nach amerikanischen Begriffen angenommen, dass ich mit ihm allein bleiben kann, bis deine Sprechstunde vorüber ist.“

Wieder lächelte der alte Herr in seiner milden, abgeklärten Weise.

„Ja, Kind, drüben kennt man unsere ängstlichen Sitten nicht. Aber du, meine Ruth, kannst getrost eine Weile mit einem jungen Mann allein bleiben, und Mister Bernau macht mir auch den Eindruck, als wisse er die Reinheit einer Frau zu respektieren. Geh also ruhig wieder zu ihm hinüber! Ich sehe der Form halber zuweilen nach euch. So hast du doch auch ein wenig Unterhaltung. Es hat mir so Leid getan, dass du an der Autotour nicht teilnehmen konntest.“

„Ich bin viel lieber zu Hause bei dir geblieben, Vater.“

Er streichelte ihr schönes Haar.

„Du bist immer opferbereit, Ruth. Eigentlich wäre es mir lieber gewesen, wenn du mit von der Partie gewesen wärst. Du weißt, ich bin immer ein wenig in Sorge, dass Mama oder deine Schwestern gegen meinen Willen etwas tun, das Mister Stratter veranlassen könnte – ach, du weißt ja, was ich sagen will.“

„Ja, Vater, aber ich könnte es ja doch nicht verhindern, wenn Mama eine so – unverzeihliche Torheit begehen wollte.“

„Nein, du könntest es nicht verhindern, ich weiß es. Ist es nicht traurig, Ruth, dass ich mich des Besuchs von Mister Stratter nicht recht freuen kann, weil ich immer diese Furcht vor Mamas und der Schwestern Taktlosigkeit haben muss?“

Sie küsste ihn zärtlich auf die Wange.

„Mein lieber, lieber Vater, wenn ich doch deine Augen heil machen könnte, dann wäre alles gut!“

Er seufzte und rückte an seiner Schutzbrille.

„Ja, die Augen! Ohne sie bin ich ein unnützer Mensch. Aber nun geh – ich darf meine Patienten nicht unnötig warten lassen, sonst laufen sie mir davon! Einen Gruß inzwischen an Mister Bernau, er ist ein prächtiger Mensch, und ich freue mich auf ein Plauderstündchen mit ihm.“

„Ja, Vater, er gefällt mir auch sehr. Fast erscheint er mir imponierender als Mister Stratter selbst. Also auf Wiedersehen nachher!“

„Auf Wiedersehen, mein Kind.“

Ruth ging wieder ins Wohnzimmer zurück, wo John Stratter sich inzwischen die Bilder an den Wänden betrachtet hatte.

„Vater ist einverstanden und freut sich auf ein Plauderstündchen mit Ihnen. Aber nun nehmen Sie bitte Platz!“

Sie ließen sich beide in den Sesseln vor dem Fenster nieder. Er sah sich lächelnd im Zimmer um.

„Hier spürt man überall, dass Ihre fleißigen Hände Behagen verbreiten.“

„Woher wissen Sie, dass es gerade meine Hände gewesen sind?“

„Oh, ich habe doch Augen im Kopf, gnädiges Fräulein. Weder Ihre Frau Mutter noch Ihre Fräulein Schwestern machen den Eindruck, als hätten sie die Hände gerührt, um dieses Behagen um sich zu verbreiten. Sie scheinen die Seele dieses Hauses zu sein. Mir wird hier wieder einmal so recht bewusst, dass ich der Sohn deutscher Eltern bin. Dieses Behagen spinnt mich ein wie eine liebe alte Melodie. So etwas gibt es drüben nicht.“

„Auch nicht in Mister Stratters Häuslichkeit?“

„Seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr. Seine Häuslichkeit ist sehr schön und komfortabel. Er bewohnt im Winter ein Haus in der elegantesten Gegend von New York und im Sommer eine Villa am Meer. Alles ist im großen Stil gehalten – aber die Hausfrau fehlt, die deutsches Behagen verbreitet. Amerikanische Hausfrauen verstehen das nicht. Deshalb hat Mister Stratter die Absicht, sich eine deutsche Frau heimzuholen, und ich würde das an seiner Stelle auch tun.“

Sie schwiegen beide eine Weile. John Stratter sah mit heißen Augen auf Ruth. Sie hatte eine Handarbeit vorgenommen, um nicht müßig zu sitzen. Und nun zog sie eifrig den Faden durch den Stoff.

„So etwas sieht man drüben bei uns auch nicht“, sagte er nach einer Weile.

Sie blickte aufatmend zu ihm hinüber.

„Die amerikanischen Frauen haben vielleicht keine Zeit für Handarbeiten. Es ist auch eine sehr wenig nützliche Beschäftigung. Ich wünschte, ich könnte meine Zeit nutzbringender verwenden, aber wenn ich im Haushalt fertig bin und mein Vater mich gerade nicht braucht, dann bleibt mir nichts anderes zu tun.“

„Womit möchten Sie Ihre Zeit lieber verbringen?“

Sie seufzte tief auf.

„Oh, ich wollte, ich wäre ein Mann und könnte viel, viel Geld verdienen. Am liebsten möchte ich ja auch als Frau einen Beruf ergreifen, aber als ich schon drauf und dran war, es zu tun, da sah ich ein, dass ich hier im Haus noch zu dringend gebraucht wurde. Mama ist so gar nicht gewöhnt, zu sparen, und die Schwestern erst recht nicht. Es muss aber sehr gespart werden bei uns im Haushalt, weil Vater nicht mehr verdienen kann. Und so bin ich zu Hause geblieben und habe den Haushalt in die Hände genommen, damit Vater seine Ruhe und seine Ordnung hat.“

Er sah die heimliche Qual in ihren Augen.

„Haben Sie einmal darüber nachgedacht, was ich Ihnen sagte bezüglich einer Kur für Ihren Herrn Vater?“, fragte er eindringlich.

Sie atmete tief auf.

„Nachgedacht habe ich schon darüber und – ich würde vielleicht auch meinen Vater dazu bringen können, ein Darlehen von Mister Stratter anzunehmen, aber …“

Sie presste die Lippen zusammen, als wollte sie ihnen kein Wort mehr entschlüpfen lassen.

„Aber?“

Sie richtete sich schroff auf.

„Es lohnt nicht, darüber zu sprechen. Es geht eben nicht.“

„Doch, lassen Sie uns darüber reden! Ich habe gestern Abend noch mit Mister Stratter darüber gesprochen, und er ist ganz begeistert von dem Gedanken, dass er Ihrem Herrn Vater zu seiner Gesundheit verhelfen könnte. Er hat mir aufgetragen, Sie recht herzlich zu bitten, dass Sie Ihren Vater überreden möchten, ein Darlehen von ihm anzunehmen, damit er eine Kur machen kann. Was für ein Aber kann Sie daran hindern, es nicht zu tun?“

Sie legte die Handarbeit fort und strich sich mit den Händen das Haar aus der Stirn.

„Nun wohl, damit Sie mich verstehen und nicht glauben, dass ich nicht meinen Stolz bezwingen könnte, wenn es die Gesundheit meines Vaters gilt. Lieber Gott, kein Opfer wäre mir zu groß, wenn ich ihm helfen könnte. Aber es geht einfach nicht! Sobald mein Vater ein Darlehen aufnehmen würde, hätten Mama und die Schwestern tausend Wünsche, deren Befriedigung sie für wichtiger halten würden als eine Kur für meinen Vater. Und er würde ihren Wünschen gegenüber schwach sein. Er käme nicht zu einer Kur und hätte dann noch die große Schuldenlast. So, nun wissen Sie, weshalb ich Vater nicht dazu überreden werde.“

Er sah mitleidig in ihr zuckendes Gesicht. Am liebsten hätte er den Arm um sie gelegt, und alle Sorgen von ihr genommen durch das Geständnis seiner Liebe. Aber noch war es nicht so weit, noch durfte er nicht von seinen so schnell erwachten Gefühlen sprechen. Erst musste er sich selbst ernsthaft prüfen, ob das Gefühl für Ruth auch stark und beständig genug für einen Lebensbund sein würde, wenn er auch schon jetzt fest davon überzeugt war. Und dann musste sich Ruth auch erst über ihre Gefühle für ihn klar werden. Wohl fühlte er mit heißer Freude, dass sie ihm gegenüber ihre kühle Reserve verloren hatte. Aber das war ihm noch nicht genug. Er musste erst reifen lassen, was im Entstehen war.

Er erhob sich und trat an sie heran.

„So müssen wir irgendeinen Ausweg finden, der es Ihrer Stiefmutter und Ihren Schwestern unmöglich macht, dieses Darlehen zu anderen Zwecken zu verwenden. Das lässt sich schon einrichten.“

Sie sah zu ihm auf mit einem ruhigen Blick.

„Sie führen mich in Versuchung, das sagte ich Ihnen schon gestern. Habe ich doch den heißen Wunsch, dass mein Vater wieder gesund werden möge. Dann könnte er wieder schaffen wie er möchte, dann würde er wieder glücklich sein und dann würde er auch wieder verdienen. Aber bitte, dringen Sie jetzt nicht weiter in mich! Ich muss mich erst selbst zu einem Entschluss durchringen und – dann muss ich Vater sehr vorsichtig an den Gedanken zu gewöhnen versuchen. Ist es so weit, werde ich mich ohne Scheu an Mister Stratter wenden und – ich werde Sie dann bitten etwas auszudenken, was meinem Vater die Verwendung des Darlehens nur für seine Gesundheit möglich macht, ohne dass Mama oder die Schwestern über das Geld verfügen dürfen. Das Darlehen muss meinem Vater zu seiner Gesundheit verhelfen, sonst ist er nicht imstande, es zurückzuzahlen.“

„Darüber brauchen Sie sich doch keine Sorge zu machen!“

Sie fuhr auf.

„Sagen Sie das nicht! Lassen Sie mich um Gottes willen nicht daran glauben, dass Mister Stratter uns auf diese Weise nur zur Annahme einer Unterstützung bewegen wollte! Dann könnte ich meinen Vater nicht mit gutem Gewissen dazu veranlassen, dies Darlehen aufzunehmen. Ich hoffe, Sie haben Mister Stratter gesagt, dass mein Vater nur eine Dankesschuld abtrug, als er Walter Stratter half.“

„Ja, gnädiges Fräulein, er weiß es, hat es immer gewusst.“

„Nun also, weshalb spricht er da noch immer von einer Dankesschuld?“

Hier wurden sie gestört. Doktor Waldorf trat ins Zimmer und begrüßte den Gast sehr herzlich.

„Es freut mich, dass Sie zu uns gekommen sind, Mister Bernau, und ich hoffe, dass Sie recht lange bleiben. Ich möchte Sie noch so vieles über Mister Stratters Vater fragen. Ich habe aus der Ferne seinen grandiosen Aufstieg mit großem Interesse verfolgt. Ganz stolz bin ich zuweilen gewesen, dass es mir gelungen ist, dieses wertvolle Leben zu erhalten. Da Sie, wie ich weiß, genau orientiert sind, kann ich ja darüber sprechen.“

„Ja, Herr Doktor, Mister Stratter hat mir alles offenbart.“

„Er muss großes Vertrauen in Sie setzen.“

John Stratters Stirn rötete sich.

„Er weiß, dass er mir vertrauen kann“, sagte er.

Doktor Waldorf sah ihn wohlgefällig an.

„Nun, man braucht nur in Ihre Augen zu sehen, dann weiß man schon, dass Verlass auf Sie ist. Aber jetzt muss ich noch einmal in mein Sprechzimmer hinüber.“

Damit strich Doktor Waldorf Ruth über das Haar, nickte John Stratter noch einmal freundlich zu und ging hinaus.

Ruth blickte ihm mit leuchtenden Augen nach.

„Vater ist heute so froh, wie seit langer Zeit nicht mehr“, sagte sie bewegt.

John Stratter sah sie mit einem warmen Blick an.

„Sie lieben Ihren Vater sehr.“

„Ja, ich habe nichts auf der Welt als ihn. Und jahrelang war er mir fast völlig entfremdet durch seine zweite Heirat, das tat sehr weh. Aber dann haben wir uns wieder zusammengefunden und verstehen uns nun besser als je. Das macht mich glücklich. Denn er ist mir alles.“

„Bis eines Tages ein Mann kommen wird, der Ihnen noch mehr sein wird“, sagte er leise.

Sie zuckte leicht zusammen und erblasste. Zu ihm aufzusehen wagte sie nicht. Hastig griff sie ein anderes Thema auf. Sie fragte ihn über amerikanische Verhältnisse, und er wollte sie nicht beunruhigen und ging auf ihr Thema ein. Anschaulich und lebendig schilderte er ihr allerlei Interessantes von drüben. Aber dann brachte er sie unmerklich dazu, dass sie ihm aus ihrem Leben erzählte. Sie kamen sich durch diese ungestörte Plauderstunde näher, als es vielleicht im jahrelangen flüchtigen Verkehr geschehen wäre. Und so plauderten sie noch, als Doktor Waldorf seine Sprechstunde beendet hatte und wieder herüberkam.

Nun überließ Ruth den Gast dem Vater und ging in die Küche, um das Mittagessen zu bereiten. Als es fertig war, nahmen es die drei Menschen in schönster Eintracht ein.

Doktor Waldorf erklärte, dass er lange nicht so behagliche Stunden verlebt hätte, und Ruths und John Stratters Blicke verrieten, dass auch sie mit dem Ergebnis dieses Tages zufrieden waren.

Nach Tisch hatte Ruth einige Besorgungen in der Stadt zu erledigen, während ihr Vater Krankenbesuche machen musste.

„Wir müssen Sie nun leider Ihrem Schicksal überlassen, Mister Bernau“, sagte Ruth.

Er sah sie bittend an und sagte mit einem lächelnden Blick in ihre Augen:

„Muss das wirklich sein, gnädiges Fräulein? Dass ich Ihren Herrn Vater nicht auf seinen Krankenbesuchen begleiten kann, ist selbstverständlich, aber darf ich Sie nicht bei Ihren Einkäufen begleiten? Ich hätte dabei doch Gelegenheit, mir Düsseldorf ein wenig anzusehen. Ich weiß, ich bin schauderhaft aufdringlich, aber nach den behaglichen Stunden in Ihrer und Ihres Herrn Vaters Gesellschaft würde ich mir sehr vereinsamt vorkommen, wenn Sie mich jetzt meinem Schicksal überließen.“

Ruth musste lachen.

„Trotz Ihrer schauderhaften Aufdringlichkeit gestatte ich Ihnen großmütig, mich zu begleiten, und ich erbiete mich sogar, Ihnen alle Sehenswürdigkeiten von Düsseldorf zu zeigen, die mir unterwegs auffallen.“

Schnell zog er ihre Hand an seine Lippen.

„Sie sind sehr gütig, gnädiges Fräulein.“

Ruths Vater hatte lächelnd zugehört. Er verabschiedete sich nun herzlich von John Stratter, und dieser begleitete Ruth auf ihren Besorgungswegen. Den beiden jungen Menschen war zumute, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Sie plauderten wie gute alte Freunde miteinander.

Als Ruth mit ihren Besorgungen fertig war, begleitete John Stratter sie nach Hause, aber er verabschiedete sich an der Haustür von ihr, denn er nahm an, dass inzwischen Frau Helene mit ihren beiden Töchtern zurückgekommen war.

Sie schieden mit einem herzlichen Händedruck und einem frohen: Auf Wiedersehen!

***

Einige Wochen waren vergangen. Täglich war John Stratter in Ruths Gesellschaft, und mit Ralf Bernaus wirksamer Beihilfe gelang es ihm, noch öfter ein Alleinsein mit Ruth herbeizuführen.

Frau Helene geriet mehr und mehr in eine fieberhafte Ungeduld. Sie sah sehr wohl, dass der vermeintliche Mister Stratter ihre Töchter und auch sie selbst mit Aufmerksamkeiten überschüttete; es war unverkennbar, dass er Astas und Blandines Gesellschaft suchte und täglich neue Möglichkeiten ersann, sie zu amüsieren und zu unterhalten. Aber – er machte absolut keinen Unterschied zwischen ihnen. Nichts, gar nichts ließ darauf schließen, dass er eine von ihnen nur im geringsten bevorzugte.

Asta und Blandine suchten sich gegenseitig zu übertreffen in bezaubernden Koketterien, und sie ahnten beide nicht, dass der Gegenstand ihrer Bemühungen ihnen nur auf Befehl seines Chefs so viele Artigkeiten erwies und ein wirksames Mittel gegen all ihre Bezauberungen in seiner Brieftasche mit sich führte. Dort verwahrte Ralf Bernau die Briefe seiner Trude, die regelmäßig als Antwort auf seine Briefe an ihn eingingen und die er immer wieder mit Entzücken las, wenn er des Abends in seinem Hotelzimmer endlich allein war und sich von den Strapazen seines Dienstes erholen konnte. Denn eine Strapaze war es wirklich für ihn, immer so zu lavieren, dass ihm nicht unversehens eine der beiden Schwestern das Netz überwarf, in dem sie den vermeintlichen Goldfisch fangen wollte. Aber er wusste, dass er seinem Chef damit einen großen Gefallen tat, und was hätte er nicht freudig für John Stratter getan!

So führte er die drei Damen immer wieder ins Theater, in Kinos und Konzerte und machte Ausflüge im Auto mit ihnen. Er führte sie in elegante Konditoreien, lud sie wieder und wieder zum Mittagessen oder Souper ins Hotel ein und lauschte ihnen alle Wünsche ab, die sie meist sehr geschickt anzubringen wussten. Natürlich speisten die Herren auch einige Male im Haus des Arztes, aber Ruth war dann meist in der Küche beschäftigt, und das gefiel John Stratter nicht. Deshalb suchte er es möglichst so einzurichten, dass Waldorfs seine Gäste waren.

Wenn Doktor Waldorf zuweilen im Kreis seiner Familie seine Bedenken darüber äußerte, dass man zu viel Aufmerksamkeiten von Mister Stratter annahm, dann fielen seine Damen erregt über ihn her. Ob er ihnen auch diese kleinen Freuden missgönne, es sei doch wahrlich sonst schlimm darum bestellt und Mister Stratter tue man doch nur einen Gefallen, indem man ihm Gesellschaft leiste.

Dann war Doktor Waldorf bald wieder still und ließ die Dinge gehen.

Mutter und Töchter verheimlichten ihm manches wertvolle Präsent, das ihnen Ralf Bernau im Auftrag von John Stratter machte. Solche Präsente wurden eingeschmuggelt in harmlosen Bonbonnieren oder Blumenspenden. Aber Frau Helene war dies alles nicht genug. Sie war fest entschlossen, den möglichst größten Nutzen aus Mister Stratters Besuch zu ziehen. Noch hoffte sie, dass er sich von einer ihrer Töchter fürs ganze Leben einfangen lassen würde, und sie glaubte nur, er sei von ihren Töchtern so entzückt, dass er sich noch nicht entscheiden konnte, welche von beiden er zur Gattin erwählen würde. Aber sie wurde doch immer unruhiger und forschte immer schärfer, ob er nicht eine von ihnen ein wenig bevorzugte.

Es war nicht leicht für Ralf Bernau, genau im gleichen Ton mit den beiden Schwestern zu verkehren, und John Stratter sagte lächelnd zu ihm:

„Sie tun mir Leid, lieber Bernau, ich sehe, es ist eine Riesenaufgabe, die ich Ihnen gestellt habe, aber ich kann Sie noch nicht von Ihrer Rolle befreien. Sie müssen nach wie vor dafür sorgen, dass die beiden jungen Damen samt ihrer Mama durch Sie beschäftigt werden.“

„Ich bin ja so froh, Mister Stratter, dass ich Ihnen wirklich einen Dienst leisten kann. Je schwerer er ist, desto lieber ist er mir.“

„Well! Aber damit Ihre Braut dafür entschädigt wird, dass Sie in meiner Verkleidung mit anderen Damen schön tun müssen, kaufen sie morgen ein Schmuckstück und senden es ihr mit einem Gruß unbekannterweise von mir. Sie soll es als ein Zeichen dafür betrachten, wie sehr ich mit Ihnen zufrieden bin. Und schreiben Sie ihr, dass ich mein Versprechen halten werde – in spätestens Jahresfrist sollen Sie Ihre Braut heimholen. Geht aber durch Ihre wackere Beihilfe in Erfüllung, was ich mir von Herzen wünsche, dann kann es vielleicht noch eher so weit kommen.“

Ralf Bernaus Augen strahlten. Er fasste John Stratters Hand und sagte mit bebender Stimme:

„Meine Dankesschuld wird immer größer, so sehr ich mich auch bemühe, sie ein wenig kleiner zu machen.“

John Stratter klopfte ihm auf die Schulter.

„Lassen Sie es gut sein, lieber Bernau, Sie sind ein tüchtiger, intelligenter Mensch, und es wäre ein Jammer gewesen, wenn ich Sie nicht zum Sekretär bekommen hätte!“

Diese ganze Unterredung teilte Ralf Bernau seiner Trude im nächsten Brief mit, der dem Paketchen beigelegt war, indem sich das Schmuckstück befand.

So beschenkte John Stratter durch Ralf Bernau alle Menschen, mit denen sie jetzt zusammenkamen – nur Ruth bekam nie etwas anderes als Blumen.

Getreulich berichtete Ralf Bernau seinem Herrn, was die drei Damen ihm alles anvertrauten, wenn sie mit ihm allein waren. Und er musste immer wieder berichten, dass Frau Helene ihm wieder und wieder mehr oder minder deutlich zu verstehen gab, dass sie es ganz in der Ordnung fände, wenn Mister Stratter seine Dankschuld abzutragen versuche. Auch berichtete er, in welcher lieblosen und gleichgültigen Art die Damen von Doktor Waldorf und Ruth sprachen. Sie schilderten ihn und Ruth als langweilig und missgünstig, behaupteten, dass sie den Vater gegen sie beeinflusse. Und ihren Gatten beschuldigte Frau Helene, er sei leichtsinnig mit seinem Vermögen umgegangen und habe es nicht wie ein sorgsamer Familienvater angelegt, dadurch seien sie in Not geraten.

Wie es John Stratter wünschte, hörte sich das Ralf Bernau alles an, ohne etwas darüber zu sagen.

Jedenfalls ahnten Mutter und Töchter nicht, in welch unvorteilhaftem Licht sie sich selber zeigten durch solche Worte.

Es wurde John Stratter nicht schwer, immer wieder ein Alleinsein mit Ruth herbeizuführen, denn erstens war es ihrer Stiefmutter sehr gleichgültig, was Ruth tat, so weit sie ihren Schwestern nicht ins Gehege kam, und zweitens wurde er von Ralf Bernau wirksam unterstützt. Zuweilen fragte John Ruth, ob sie schon mit ihrem Vater über die Darlehensangelegenheit gesprochen habe. Dann bekam Ruth aber immer einen gequälten Ausdruck und bat ihn, noch zu warten. Ein leises Tasten ihrem Vater gegenüber in dieser Angelegenheit hatte eine schroffe Abwehr im Gefolge gehabt. Das sagte sie John Stratter sehr bekümmert.

Und dabei merkte sie mit sorgender Seele, dass des Vaters Augen immer schlimmer wurden. Sie schmerzten ihn oft unerträglich, und der Augenarzt, den er zuweilen konsultierte, riet immer energischer zu einem völligen Ausspannen. Er müsse ins Gebirge oder an die See, sich kräftige Kost verschaffen und täglich sein Glas Wein trinken. Sein Augenleiden sei eine Folge von Blutarmut und Unterernährung, und es würde durch eine Besserung des Allgemeinbefindens sicher behoben werden.

Ruth schwankte in diesen Wochen zwischen einer großen Sorge um den Vater und einem beseligenden Gefühl, das immer mehr Besitz von ihr ergriff. Sie war sich mit Bangen und heißem Freuen darüber klar geworden, dass sie den Sekretär John Stratters liebte. Und sie hätte keine Frau sein müssen, wenn sie nicht immer deutlicher gemerkt hätte, dass ihre Liebe erwidert wurde.

Wieder waren so einige Wochen vergangen, und eines Tages kam es dann zu einer Aussprache zwischen Ruth und John Stratter.

Eines Vormittags hatte Ralf Bernau die drei Damen zu einer Autotour längs des Rheinufers abgeholt. Sie wollten unterwegs zu Mittag speisen und erst mit einbrechender Dunkelheit zurückkommen. Und kaum waren die Herrschaften fortgefahren, als John Stratter wieder in der Wohnung Doktor Waldorfs erschien. Er traf Ruth, wie er wusste, allein an, da ihr Vater Sprechstunde hatte, und sie empfing ihn mit der etwas unsicheren Freundlichkeit, die sie jetzt immer zeigte, wenn sie ihm allein gegenüberstand. Zunächst sprach er noch einmal mit ihr über die so nötige Kur ihres Vaters.

„Merken Sie nicht, gnädiges Fräulein, dass sich das Befinden Ihres Vaters immer mehr verschlimmert?“, fragte er dringlich.

Sie krampfte die Hände zusammen.

„Ich weiß, oh, ich weiß alles, was Sie mir sagen wollen. Und ich habe auch endlich ganz energisch mit Vater gesprochen. Aber er ist nicht zu bewegen, von Mister Stratter ein Darlehen anzunehmen. Er behauptet, es nie zurückzahlen zu können. Ich sorge mich grenzenlos um ihn.“

Und dabei kamen ihr plötzlich die Tränen in die Augen. Das konnte John Stratter nicht ruhig mit ansehen. Er fasste ihre Hand und zog sie an sich heran.

„Ruth, liebe, teure Ruth, ich kann Sie nicht weinen sehen, kann es nicht länger ertragen, wie Sie sich um Ihren Vater sorgen. Ruth, Sie müssen mir gestatten, Ihnen alle Sorgen abzunehmen. Ich liebe Sie, Ruth, das müssen Sie ja längst wissen – wie ich weiß, mein geliebtes Mädchen, dass du mich wiederliebst. Habe ich mich geirrt, Ruth?“

Sie war sehr blass geworden; ihre Tränen versiegten. Sie sah ihn mit großen Augen an. Jetzt konnte sie an nichts denken, als dass sie diesen Mann liebte mit der ganzen Inbrunst ihres Herzens. Und in ihren Augen las er deutlich, was er wissen wollte, und er zog sie an sich mit einem befreienden Aufatmen.

„Nein, ich brauche deine Antwort gar nicht abzuwarten, süßes Herz, deine Augen sagen mir alles. Ahnst du denn, wie sehr ich dich liebe, meine Ruth?“

Ein zitternder Atemzug hob ihre Brust.

„Ich kann es nur ermessen an meinem eigenen Empfinden. Ja, tausendmal ja, ich liebe dich, ich liebe dich“, sagte sie mit hinreißender Zärtlichkeit.

Ihre Lippen fanden sich im ersten süßen Kuss der Liebe. Und so standen sie lange, innig umschlungen, und vergaßen eine Weile die Welt um sich her.

Endlich löste sich Ruth aus seinen Armen und sah ihn mit einem Lächeln an.

„Ich weiß nicht einmal, welchen Vornamen du hast. Jetzt kann ich dich doch nicht mehr Mister Bernau nennen.“

„Das darfst du überhaupt nie wieder tun“, sagte ernst. „Nun muss es erst eine große Beichte geben, meine stolze Ruth. Aber komm, dazu muss ich dich wieder in meine Arme nehmen, dich ganz fest an meinem Herzen halten.“

Als er sie in seinen Armen hielt, sah sie bang zu ihm auf. Sein ernster Ton beunruhigte sie.

„Was hast du mir zu beichten?“

Er strich sanft über ihr Haar, mit einer tiefen, sorgenden Zärtlichkeit in ihre Augen sehend.

„Mein liebes Herz, ich heiße John – John Stratter. Oh, wie mein Lieb da erschrickt! Willst du mich weniger lieb haben, weil ich nicht mein Sekretär, sondern John Stratter selber bin?“

Sie wollte sich erschrocken aus seinen Armen lösen, aber er hielt sie fest und sah in ihr tief erblasstes Gesicht.

„Du? Du? John Stratter? Das kann doch nicht sein!“, sagte sie heiser.

„Es ist aber so, meine Ruth.“

„Warum? Warum hast du uns dann in der Annahme gelassen, dass du sein Sekretär bist?“

„Mein süßes Herz, nun sieh mich doch nicht mit so erschreckten Augen an! Ich wählte dieses Inkognito, weil ich so besser auszukundschaften hoffte, wie ich deinem Vater helfen könnte, ohne seinen Stolz zu verletzen. Sieh, ich habe meinem Vater in seiner Sterbestunde das feste Versprechen gegeben, dass ich deinem Vater um jeden Preis helfen würde. Aus seiner energischen Abwehr sah ich, dass er es mir sehr schwer, wenn nicht unmöglich machen würde, etwas für ihn zu tun. Deshalb kam ich als mein eigener Sekretär hierher, um ungestört sondieren zu können. Deine Schwestern, meine süße Ruth, bemühen sich seit unserer Ankunft, mit deiner Stiefmutter zusammen, um die Gunst meines Sekretärs. Er hat von mir den Auftrag erhalten, die drei Damen zu beschäftigen und abzulenken, denn siehst du, mein liebes Herz, wenn deine Stiefmutter eine Ahnung gehabt hätte, dass ich John Stratter bin, dann hätte sie dich mir fern gehalten, und – ich hätte vielleicht nie den Weg zu dir finden können. Wie froh ich war, dass ich unter einer Maske hier herkam! So konnte ich dich kennen lernen in deiner ganzen lieben und vornehmen Art. Mein Herz gehörte dir schon vom ersten Tag an, da ich dich kennen lernte, und ich hätte dir schon lange gern meine Liebe erklärt, aber ich wollte dich nicht zu früh bestürmen. Wie schwer es mir geworden ist, zu warten, das ahnst du nicht, meine Ruth. Ich habe dich so unsagbar lieb, mein stolzes Mädchen. Aber wenn du nicht eben in deiner Hilflosigkeit in Tränen ausgebrochen wärst, dann hätte ich vielleicht auch heute noch nicht gesprochen, obwohl ich mich mit dir um deinen Vater sorge. Er muss fort, Ruth, so schnell wie möglich. Und seinem Sohn wird er doch wohl gestatten, dass er ihm zu seiner Gesundheit verhilft. Meinst du nicht auch?“

Ruth barg den Kopf an seiner Brust.

„Ach, du lieber, gutherziger Mensch, wer du auch bist, ich hab dich lieb und ich danke dir für deine große Liebe, die mich so glücklich macht. Und mein Vater – ach John, lieber John, wie froh bin ich, dass du ihm helfen willst. Ja, jetzt muss er deine Hilfe annehmen, ich werde ihn so lange bitten, bis er es tut.“

Sie schmiegte sich in seine Arme, und er küsste sich erst einmal satt an ihren roten Lippen.

In dieser angenehmen Beschäftigung wurde er durch Doktor Waldorf gestört, der eben eintrat, ohne gleich von den Liebenden bemerkt zu werden. Betroffen stand er auf der Schwelle.

„Ruth!“, rief er erschrocken.

Sie löste sich aus John Stratters Armen und flog auf den Vater zu.

„Vater, lieber Vater – ich hab ihn so lieb!“

Doktor Waldorf sah ernst und forschend in Johns Gesicht.

„Mister Bernau, was soll ich davon denken? Ich hoffe, Sie sind sich bewusst, dass meine Tochter sich nur von dem Mann küssen lässt, dessen Namen sie einmal führen wird.“

John Stratter richtete sich straff auf.

„Herr Doktor, ich bitte um die Hand Ihrer Tochter Ruth. Aber – ehe Sie mir eine Antwort geben, muss ich auch Ihnen, wie eben Ihrer Tochter, eine Beichte ablegen. Ich bin nicht der Sekretär Bernau, sondern John Stratter selbst.“

Der alte Herr kam mit unsicheren Schritten auf ihn zu, rückte an seiner Brille und sah ihn scharf an.

„John Stratter? Sie sind John Stratter?“

„Ja, Herr Doktor.“

Tief atmete der alte Herr auf.

„Also deshalb – deshalb erschienen Sie mir so viel bekannter und vertrauter als der andere? Aber warum – warum sind Sie unter falschem Namen in mein Haus gekommen?“

„Ich muss Sie herzlich um Verzeihung bitten. Eben habe ich Ruth schon erklärt, dass mein Vater es mir zur Pflicht gemacht hatte, Ihnen um jeden Preis zu helfen. Ich wollte unter einem Inkognito ergründen, wie ich das tun konnte. Und mein Vater sprach mir auch davon, dass Sie drei Töchter haben und wie lieb es ihm sein würde, wenn ich eine von ihnen als Gattin heimführen würde. Er machte es mir nicht zur Bedingung, sagte mir nur, wie sehr es ihm erwünscht sei, weil er dann bestimmt seine Dankesschuld abtragen könnte. Und – vielleicht war es ein stärkerer Wille als der meine, der mich bestimmte, als schlichter Sekretär in Ihr Haus zu kommen. Habe ich doch dadurch die Gewissheit erlangt, dass ich von Ruth nur um meiner selbst willen geliebt werde. Ich werde meines Reichtums halber viel belästigt, deshalb tausche ich zuweilen mit meinem Sekretär die Rolle. Ich tat es auch in diesem Fall – und gewiss nicht in böser Absicht, sondern nur von dem Wunsch durchdrungen, das Vermächtnis, das mir mein Vater hinterließ, zu erfüllen. Und nun bitte ich Sie herzlich und innig, nehmen Sie mich auf als Ihren Sohn, geben Sie mir die Hand Ihrer Tochter Ruth – wir lieben uns beide. Ruth hat dem schlichten Sekretär ihr großes, gutes Herz geschenkt, während ihre Schwestern mich kaum beachteten und nur Augen hatten für den vermeintlichen John Stratter. Ich bin so namenlos glücklich, eine Frau gefunden zu haben, die nur den Menschen in mir liebt. Mein lieber, hoch verehrter Herr Doktor, werden Sie mich als Sohn willkommen heißen?“

Doktor Waldorf war ganz fassungslos. Er sah in John Stratters erregtes Gesicht.

„Mein lieber John, das alles kommt mir so unerwartet, so überraschend, und in meinem Alter besitzt man nicht mehr die Elastizität, sich schnell solchen neuen Situationen anzupassen. Aber ich sehe die Augen meiner Ruth im glücklichen Glanz leuchten, sehe, dass in Ihren Augen die Liebe zu meinem Kind strahlt, was soll ich da anderes tun, als eure Hände ineinander legen und dem lieben Gott danken, dass er für mein bestes Kind ein so herrliches Glück vom Himmel herabgeschickt hat.“

Und mit bebenden Händen fügte er die Hände der beiden Glücklichen zusammen.

Ruth und John umschlangen ihn zugleich, und John sagte ernst und bewegt:

„Lass mich dein Sohn sein, da mein Vater nicht mehr lebt!“

Der alte Herr zog ihn in seine Arme.

„Mein lieber Sohn, Gott segne dich und meine Ruth.“

Ruth umfasste ihren Vater.

„Vater, lieber Vater, jetzt musst du John auch gestatten, dass er dir zu deiner Gesundheit verhilft, jetzt darfst du dich nicht mehr wehren! Sieh, ich könnte ja doch nicht glücklich sein, wenn ich dich leidend wüsste.“

„Ich schließe mich Ruths Bitte an, lieber Vater. Du musst etwas für dich tun, mindestens ein halbes Jahr musst du ganz ausspannen und nur deiner Gesundheit leben.“

Der alte Herr strich erregt über seine Stirn.

„Kinder, liebe Kinder, es ist so lieb von euch, in all eurem Glück auch an mich zu denken. Aber wenn ich ein halbes Jahr aus meiner Praxis ausscheide, dann hat mir die Konkurrenz auch noch meine letzten Patienten genommen. Was soll dann werden?“

„Wenn du ein wirklich guter, lieber Vater bist, darfst du deinen Kindern keine unnützen Sorgen machen“, sagte John. „Und wenn du in Sorge bist, dass dir deine letzten Patienten verloren gehen, dann verschaffe ich dir neue. Glaubst du denn, ich würde zugeben, dass Ruth für immer von dir getrennt wird? Sie hängt doch mit ihrem ganzen Herzen an dir. Gib deine spärliche Praxis hier auf! Wenn du wieder ganz gesund bist, stelle ich dich drüben in meinem großen Betrieb als Arzt für meine Arbeiter an. Da kannst du viel Segen stiften, hast ein weites Feld für dein Können und ein Einkommen, das es dir ermöglicht, ein lebenswertes Dasein zu führen. Nicht wahr, Ruth zuliebe wirst du dich entschließen, mit nach drüben zu gehen?“

Der alte Herr sank in einen Sessel.

„Kinder, Kinder, nur langsam, das geht nicht so schnell in meinen alten Kopf hinein! Solche glänzenden Aussichten noch auf meine alten Tage! Herrgott, da kann man doch nicht Nein sagen. Ich bin es ja meiner Frau und meinen Töchtern schuldig, so ein Anerbieten nicht von der Hand zu weisen. Wie aber, wenn meine Augen nicht wieder heil werden?“

„Sie werden heil!“

„Wenn aber nicht?“, beharrte der alte Herr.

„Dann findet sich in meinem Betrieb sicher irgendeine Tätigkeit für dich. Sei nur ein wenig zuversichtlich und lege vorläufig all deine Sorgen auf meine breiten Schultern! Ich habe nicht eher Ruhe, bis ich dich ganz entlastet habe, jetzt nicht nur meines Vaters wegen, sondern vor allen Dingen, um meiner Ruth ihre Herzensruhe wiederzugeben. Sie wird ja doch nur glücklich sein, wenn sie dich ganz geborgen weiß. Und das ist doch ein schlechter Vater, der dem Glück seines Kindes nicht willig jedes Opfer bringt.“

Der alte Herr war in einen Stuhl gesunken. Er legte die Arme auf den Tisch und barg seinen Kopf darin. Ein Beben ging durch seinen Körper.

Ruth kniete neben ihm nieder und umfasste ihn.

„Vater, lieber Vater, nun beruhige dich doch! John meint es so gut mit uns. Und er hat Recht. Lass dir von ihm helfen, damit du wieder der alte, frohe, schaffenskräftige Mensch wirst! Alles wird gut werden, wenn du nur willst.“

Der Vater richtete sich auf, tastete über das Haupt seiner Tochter und reichte John die Hand.

„So will ich all meinen Stolz begraben, will nicht mehr fragen, ob ich Wohltaten von dir, mein Sohn, annehmen kann. Vielleicht – vielleicht werden meine Augen doch wieder gesund und – wenn ich mir dann drüben einen neuen Wirkungskreis schaffen kann – ich habe doch etwas gelernt und habe es bewiesen. Freilich, mit meiner Frau und meinen Töchtern werde ich erst sprechen müssen, es wird ja auch für sie ein völlig neues Leben werden, wenn sie mit mir übersiedeln sollen nach Amerika. Und – das wird ein schweres Stück Arbeit für mich werden.“

„Darf ich dir einen Vorschlag machen, lieber Vater?“, fragte John.

Der alte Herr sah zu der kraftvollen Erscheinung des jungen Mannes empor.

„Sprich, mein Sohn!“

John fasste seine Hand.

„Du bist jetzt solchen Aufregungen nicht gewachsen, und wir, Ruth und ich, leiden nicht, dass du deinen Zustand noch verschlimmerst. Deshalb darfst du dich jetzt nicht mit deiner Frau auseinander setzen. Du musst so schnell wie möglich in andere Luft, in ein Sanatorium, wo du gute Pflege hast. Und Ruth soll dich begleiten. Auch für sie ist es gut, wenn sie einmal herauskommt aus den Lasten und Sorgen des Haushalts. Ich folge euch einige Tage später – wenn ich hier alles ins Reine gebracht habe. Deiner Frau und deinen Töchtern sagen wir jetzt nichts weiter, als dass dich John Stratter in ein Sanatorium schickt und dass Ruth dich begleiten soll. Alle weiteren Auseinandersetzungen verschieben wir, bis ihr fort seid.

Die Damen erfahren auch jetzt nicht, dass ich John Stratter bin. Damit würden sie dir nur den Kopf schwer machen. Es müssen dir alle Anstrengungen ferngehalten werden, die dein Leiden verschlimmern könnten. Weiß ich dich erst in Sicherheit, dann spreche ich mit deiner Frau und Ruths Schwestern, gebe mich in meiner wahren Gestalt zu erkennen und regle alles mit ihnen, so dass du gar keine Aufregungen hast. Willst du mir das alles vertrauensvoll überlassen?“

Doktor Waldorf seufzte tief auf.

„Mein lieber John, ich fühle ich wirklich nicht stark genug, dein Anerbieten abzulehnen – du bist so jung und stark, mein Sohn.“

„So stütze dich auf mich, mein lieber Vater!“, sagte John bewegt.

Der alte Herr drückte seine Hand und zog Ruth in seine Arme.

„Durch dich kommt so viel Glück über mich, mein Kind.“

„Vater, lieber Vater, ich bin so froh, dass du dich ausruhen und gesund pflegen wirst.“

Und dann warf sie sich in Johns Arme.

„Du Lieber, wie soll ich dir nur danken, dass du mein Herz so frei und leicht machst?“

Er zog sie fest an sich.

„Muss ich dir das erst noch sagen, meine Ruth?“

Sie sahen einander innig in die Augen und küssten sich. Und so wurde beschlossen, dass Doktor Waldorf mit Ruth in den nächsten Tagen nach Oberbayern in ein Sanatorium, das Doktor Waldorf empfohlen worden war, ging. Sobald sie abgereist waren, wollte John alles ordnen und ihnen folgen. Johns und Ruths Hochzeit sollte in aller Stille in dem Bergdorf stattfinden, das in der Nähe des Sanatoriums lag. Dort wollte das junge Paar seine Flitterwochen verbringen. Wenn dann John Stratter mit seiner jungen Frau nach Amerika zurückreiste, würde sich das Befinden des alten Herrn so weit gebessert haben, dass ihn John beruhigt verlassen konnte. Sobald seine Kur beendet war, sollte er mit seiner Gattin und seinen Töchtern nach New York übersiedeln, wo dann alles zu ihrem Empfang bereit sein würde. Die Seereise würde den alten Herrn dann vollständig für seinen neuen Pflichtenkreis stärken.

Doktor Waldorf pflichtete willenlos allem bei, und auch Ruth hatte keinen Widerspruch. Es war für diese beiden Menschen ein so wundervolles Gefühl, einmal aller Sorgen enthoben zu sein und alles in eine starke Hand zu legen.

Viel hatten sie sich noch zu sagen, und sie saßen noch beieinander, als Frau Helene mit ihren Töchtern von der Autotour zurückkam. Sie waren in sehr angeregter Stimmung, schwärmten von dem Ausflug in den erwachenden Frühling hinein und zeigten sich dem Herrn Sekretär gegenüber sehr huldvoll. Dieser hatte sich erhoben, und als die Damen mit ihrem Bericht fertig waren, verneigte er sich vor Frau Helene und sagte höflich:

„Meine sehr verehrte gnädige Frau, ich erlaube mir, Ihnen mitzuteilen, dass ich mich mit Ihrer Stieftochter Ruth verlobt habe. Ich hoffe, auch Ihre Zustimmung zu erhalten.“

Die drei Damen sahen erstaunt auf das Brautpaar, und endlich sagte Frau Helene:

„Da Ihnen mein Mann anscheinend schon sein Jawort gegeben hat, bleibt auch mir nichts anderes übrig. Nur – Sie sind sich doch hoffentlich klar, dass Ruth ganz arm ist und nicht einmal eine Aussteuer zu erwarten hat?“

John verneigte sich ruhig.

„Gewiss, gnädige Frau, darüber bin ich orientiert.“

„Und Sie können es sich in Ihrer Stellung leisten, eine arme Frau heimzuführen?“

„Ich bin imstande, für meine Frau zu sorgen.“

„Aber was wird Mister Stratter dazu sagen? Wird er damit einverstanden sein, dass Sie heiraten?“

„Mister Stratter wird ganz gewiss nichts dagegen haben, dass sein Sekretär heiratet. Ich weiß, dass er die Heirat seines Sekretärs sogar begünstigen wird. Die Dienstwohnung des Sekretärs Mister Stratters ist groß und bequem genug, dass sich auch seine junge Frau darin wohl fühlen kann“, sagte John Stratter der Wahrheit gemäß.

Frau Helene staunte. Dieser Sekretär schien doch eine ganz gute Partie zu sein.

„Nun, dann ist ja wohl alles in schönster Ordnung“, sagte sie ein wenig konsterniert.

John Stratter bat nun die Herrschaften, sie möchten ihm die Ehre geben, heute Abend zu einer kleinen Verlobungsfeier ins Hotel zu kommen.

Asta und Blandine rümpften ein wenig das Näschen. Da sie jetzt so oft Gelegenheit hatten, von dem Dollarmillionär eingeladen zu sein, mussten sie sich gewissermaßen herablassen, wenn sie eine Einladung seines Sekretärs annahmen. Aber ein Blick ihrer Mutter belehrte sie, dass man unter allen Umständen annehmen musste. Frau Helene kalkulierte, dass die Verlobung seines Sekretärs vielleicht auch Mister Stratter den Entschluss zu einer Verlobung eingeben könnte, und überhaupt, man durfte keine Gelegenheit zu einem Zusammensein vorübergehen lassen. Und so nahmen sie die Einladung an.

Die Schwestern neideten Ruth diese Partie durchaus nicht. Lieber Gott, ein sehr fürstliches Einkommen hatte Mister Bernau wohl nicht, und wenn man hoffen konnte, John Stratter selbst zu erobern, dann reizte so ein schlichter Sekretär natürlich nicht.

Und so fielen die Glückwünsche ziemlich aufrichtig aus. Für Ruth war es ja ein Glück, dass sie überhaupt einen Mann gefunden hatte; mit ihren vierundzwanzig Jahren war es ohnedies Zeit, dass sie unter die Haube kam.

Doktor Waldorf war ganz still. Er fühlte sich fast schuldbewusst seiner Frau und seinen beiden jüngsten Töchtern gegenüber, weil er sie nicht aufklärte über Johns Persönlichkeit und über alles, was geschehen war. Aber er fürchtete mehr, als er John eingestehen wollte, dass es eine große Szene geben würde, wenn die Damen erfuhren, dass Ruths Bräutigam nicht der Sekretär John Stratters war, sondern Stratter selbst. Und er fühlte sich jetzt wirklich großen Aufregungen nicht gewachsen. Gerade weil er auch im Interesse seiner Frau und seiner Töchter wieder gesund werden musste, wollte er sich Aufregungen und Szenen ersparen.

Huldvoll gab Frau Helene dem Brautpaar noch Gelegenheit zu einem kurzen Alleinsein. John zog seine Braut in die Arme.

„Ist nun alles gut, mein liebes Herz, bist du ganz froh und glücklich?“

Sie schmiegte sich an ihn.

„Ach, mein John, wie danke ich dir für all deine Liebe und deine Güte meinem Vater gegenüber! So hell und schön ist nun mit einem Mal mein Leben geworden. Alle Schatten sind verscheucht von deiner lieben starken Hand. Und dass du mich nicht von meinem Vater trennen willst, danke ich dir besonders. Immer nur auf Mama und meine Schwestern angewiesen, wäre sein Leben so kalt und leer geworden.“

Er küsste sie innig.

„Das wusste ich, meine Ruth, und dazu habe ich deinen Vater zu lieb gewonnen. Auch meinetwegen will ich ihn in unserer Nähe haben.“

***

John Stratter war ins Hotel zurückgekehrt. Dort wartete Ralf Bernau auf ihn.

„Mein lieber Bernau, ich will Ihnen gleich mitteilen, dass ich mich heute mit Fräulein Ruth Waldorf verlobt habe.“

Ralf Bernaus Blick leuchtete auf.

„Dann darf ich Ihnen von ganzem Herzen Glück wünschen, Mister Stratter. Möge Ihnen der Himmel ein so reiches Glück bescheren, wie Sie es schon allein an mir verdient haben! Und ich glaube bestimmt annehmen zu können, dass Sie eine sehr gute Wahl getroffen haben.“

„Davon bin ich überzeugt, lieber Bernau. Und wenn ich so recht Gelegenheit fand, diesen Edelstein in seinem ganzen Wert zu erkennen, so danke ich es nicht zum wenigsten Ihrer Beihilfe. Meine Braut hat in mir den armen Sekretär geliebt. Wir sind quitt, lieber Bernau. Und weil ich so glücklich bin, will ich auch Sie glücklich machen. Schreiben Sie Ihrer Braut, dass sie sich zur Hochzeit rüsten soll. Noch ehe wir uns nach New York einschiffen, werde ich Hochzeit halten, und während meiner Flitterwochen werde ich Sie beurlauben, damit auch Sie Hochzeit halten können. Sagen Sie Ihren Schwiegereltern, dass Sie eine völlig eingerichtete Dienstwohnung drüben zu Ihrer Verfügung haben werden, wo für Sie und Ihre junge Frau genügend Platz ist. Wenn Sie Vorschuss brauchen, sagen Sie es mir. Nein, nein, nicht danken, ich muss heute so viele glückliche Menschen um mich sehen, wie ich schaffen kann. Wir sprechen morgen noch weiter darüber. Wie ist der heutige Nachmittag verlaufen?“

Ralf Bernau zwang seine glückliche Erregung nieder und berichtete nun sachlich:

„Oh, Mister Stratter, Reichtum schafft wirklich einen goldenen Hintergrund für eine Persönlichkeit. Was ich heute wieder für Elogen habe anhören müssen! Frau Doktor Waldorf und ihre schönen Töchter werden sehr böse auf mich sein, wenn sie erfahren, dass sie all diese Liebenswürdigkeiten an die falsche Adresse verschwendet haben. Ist Ihr Inkognito den Herrschaften gegenüber nun gelüftet?“

„Nur meiner Braut und meinem Schwiegervater gegenüber, lieber Bernau.“

Und John weihte nun Ralf Bernau in seine weiteren Pläne ein und schloss seinen Bericht mit den Worten:

„Wenn meine Braut und mein Schwiegervater erst in Sicherheit sind, dann werde ich den drei Damen beichten und – dann wird es wohl zu einer kleinen Katastrophe kommen.“

Ralf Bernau seufzte ein wenig, musste aber lachen.

„Das fürchte ich auch. Es wird mir sehr schlecht gehen.“

„Oh, das Schlimmste werde ich auf mich nehmen.“

„Kann ich das nicht für Sie tun? Ich bin so froh, wenn ich Ihnen nützen kann.“

„Nein, nein, lassen Sie nur, ich bin nicht wehr- und waffenlos den Damen gegenüber, wie Sie es sein werden, wenn Sie erst den Millionennimbus verloren haben. Ich werde Ihrer Dienste noch genug anderweitig bedürfen. Und das eine muss ich Ihnen sagen, kein anderer hätte mich in dieser ganzen Angelegenheit so wirksam unterstützen können wie Sie, ganz abgesehen davon, dass Sie sich immer mehr zu einem erstklassigen Sekretär ausbilden. Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen.“

Ralf konnte nicht anders, er musste John Stratters Hand fassen und sie im Übermaß seines Empfindens an seine Lippen drücken. John Stratter zog sie erschrocken zurück, klopfte aber dann Ralf Bernau gutmütig lächelnd auf die Schultern. Dann gab er Ralf weitere Direktiven für seine Verlobungsfeier.

Sie verlief für alle Teilnehmer sehr angenehm. Frau Helene hatte Gelegenheit, sich zu wundern, dass die Feier so glänzend war, aber sie beruhigte sich, als sie vernahm, dass Mister Stratter sie ausgerichtet hatte.

Ralf Bernau übernahm es auch heute Abend, die Aufmerksamkeit Frau Helenes und ihrer Töchter auf sich zu konzentrieren. Und der Weisung John Stratters folgend, erklärte er im Lauf des Abends, dass er es für seine Pflicht halte, etwas für Doktor Waldorfs Gesundheit zu tun. Er müsse unbedingt ausspannen und für einige Monate nach Oberbayern in ein Sanatorium gehen.

Frau Helene horchte auf, und auch Asta und Blandine machten große Augen.

„Und damit bist du einverstanden, Georg?“, fragte Frau Helene.

Der alte Herr neigte das Haupt.

„Ja, Helene, ich muss etwas für meine Gesundheit tun und habe ein Darlehen von Mister Stratter zu diesem Zweck angenommen. Ich will ein halbes Jahr ganz ausspannen.“

Auf Frau Helenes Gesicht kämpften die widerstreitendsten Empfindungen.

„Ein halbes Jahr? Und so lange willst du in ein Sanatorium gehen?“

„Ja, Helene.“

„Mein Gott, das wird doch furchtbar teuer.“

„Du hörst es ja, Helene, Mister Stratter will mir das Geld dazu leihen.“

„Aber ich bitte dich, Georg, für dieses Geld könnte man so viel Notwendiges anschaffen. Du könntest doch ebenso gut zu Hause ausspannen und dich pflegen, und es würde dann viel billiger sein.“

Dass das Darlehen nie zurückgezahlt wurde, dafür wollte Frau Helene sorgen, aber sie wollte es lieber für sich verwenden.

Auf einen verstohlenen Wink von John Stratter, der seinem Schwiegervater nicht selbst zu Hilfe kommen konnte, griff hier Ralf Bernau ein.

„Gestatten Sie mir zu bemerken, gnädige Frau, dass für Ihren Herrn Gemahl eine Luftveränderung dringend notwendig ist. Die See oder die Berge, hat der Arzt Ihrem Herrn Gemahl verordnet. Und danach wollen wir handeln. Es ist sehr wichtig, auch für Sie, dass Ihr Herr Gemahl wieder ganz gesund und leistungsfähig wird. Wenn er das Sanatorium in einem halben Jahr als gesunder Mann verlässt, dann werden Sie einsehen, dass dieses Geld gut angelegt war und Zinsen bringen wird.“

Frau Helene biss sich auf die Lippen.

„Aber was wird aus uns?“, fragte sie heiser.

„Sie, verehrte gnädige Frau, und Ihre beiden Fräulein Töchter bleiben in Düsseldorf zurück. Fräulein Ruth aber begleitet ihren Vater ins Sanatorium.“

Frau Helene fuhr auf.

„Ruth? In das teure Sanatorium?“

Hier griff John Stratter selber ein.

„Beruhigen Sie sich, gnädige Frau! Den Aufenthalt im Sanatorium für meine Braut bezahle ich selbst. Ich finde, dass Ruth sehr wohl auch eine Erholung brauchen kann. Sie hat anstrengende und sorgenvolle Jahre hinter sich.“

Ärgerlich fuhr Frau Helene nach ihm herum.

„Oh, Herr Sekretär, Sie müssen ein sehr gutes Einkommen haben, dass Sie sich solche Ausgaben gestatten können. Wäre das Geld nicht besser angebracht für eine Aussteuer für Ruth?“

John sah, wie blass Ruth geworden war und wie es erregt im Gesicht seines Schwiegervaters zuckte. Beruhigend legte er seine Hand auf Ruths Arm und sagte:

„Ich bin gottlob so gestellt, dass ich solche Ausgaben nicht zu scheuen brauche. Auch über Ruths Aussteuer machen Sie sich bitte keine Sorgen. Sie braucht vorläufig nur eine Reiseausrüstung, alles andere kaufen wir drüben.“

Frau Helene sah ganz konsterniert ihre Töchter an. Dieser Sekretär schien ja eine ganz gute Partie zu sein, er musste ein glänzendes Einkommen haben. Schade, dass man ihn so gar nicht beachtet hatte! Schließlich konnte Mister Stratter doch nur eine von ihren Töchtern heiraten. Man hätte für die andere den Sekretär in Betracht ziehen können. Aber dazu war es nun zu spät. Und nun überlegte sie, wie sie einen Vorteil auch für sich aus dieser Angelegenheit ziehen könne. Sie sah den vermeintlichen Mister Stratter hilflos an.

„Aber wovon sollen wir leben, wenn mein Mann nichts verdient?“

Ralf Bernau verneigte sich.

„Das lassen Sie bitte meine Sorge sein, gnädige Frau! Sobald Ihr Herr Gemahl mit Fräulein Ruth abgereist ist, werde ich mir erlauben, Sie aufzusuchen und alles Nötige mit Ihnen zu besprechen. Wir werden uns noch mancherlei zu sagen haben. Jedenfalls beunruhigen Sie sich nicht um Ihr und Ihrer Fräulein Töchter Schicksal.“

Das klang wie Musik in Frau Helenes Ohren. Sie wusste, Mister Stratter war ein reicher Mann, und bei ihm spielte Geld keine Rolle. Sie lächelte huldvoll und reichte Ralf Bernau die Hand.

„Meine ganze Hoffnung steht bei Ihnen, Mister Stratter. Ohne Sie sind wir verloren“, sagte sie seufzend.

„Sie brauchen nicht in Sorge zu sein, gnädige Frau. Und nun wollen wir recht froh und vergnügt sein und nicht mehr an solche Dinge denken. Wir wollen jetzt ein Hoch ausbringen auf das Wohl des Brautpaars.“

Und so nahm die Verlobungsfeier ihren ungestörten Fortgang, und Doktor Waldorf und Ruth atmeten erleichtert auf.

***

Drei Tage später reiste Ruth mit ihrem Vater ab. John Stratter hatte darauf gedrungen, dass sie sich für die Reise genügend ausstatteten. Er war selbst mit ihnen von einem Geschäft zum anderen gefahren, und für Ruth war ihm nichts schön und fein genug. Die Schwestern staunten neidisch Ruths elegante Reiseausrüstung an, und Frau Helene machte bissige Bemerkungen darüber. Wenn sie geahnt hätten, dass Ruth von ihrem Verlobten ein wunderbares Halsband in Brillanten und Perlen als Verlobungsgeschenk bekommen hatte, wären sie wohl sprachlos gewesen, aber das zeigte ihnen Ruth gar nicht.

John Stratter brachte seine Braut und seinen Schwiegervater auch selbst zur Bahn. Der Abschied war nicht schwer, wussten sie doch, dass sie sich in wenigen Tagen wiedersehen würden.

Am nächsten Vormittag saß Frau Helene mit ihren Töchtern im Wohnzimmer. Sie hatte die ganze Zeit darüber gescholten, dass ihr Gatte sich eine so unsinnige Geldverschwendung zuschulden kommen ließ, und ihre Töchter stimmten ihr eifrig bei.

„Ich bin nur neugierig, wie sich Mister Stratter nun uns gegenüber benehmen wird. Wenn er jetzt nicht endlich eine von euch besonders auszeichnet, dann müssen wir überlegen, ob es nicht klüger ist, wenn immer nur eine von euch seine Gesellschaft genießt und die andere unter einem Vorwand zu Hause bleibt.“

Die beiden jungen Damen sahen sich an, als habe keine von ihnen Lust, der anderen den Vortritt zu lassen, aber ehe sie etwas erwidern konnten, klingelte es draußen, und gleich darauf trat das Dienstmädchen ein und überreichte Frau Helene eine Karte.

John Stratter!

„Schnell, schnell, führen Sie den Herrn herein!“, gebot Frau Helene und zeigte ein liebenswürdiges Gesicht. Auch ihre Töchter sahen sofort strahlend liebenswürdig aus.

Zu ihrem Erstaunen trat der vermeintliche Sekretär ein.

„Ah, Sie sind es, Herr Sekretär? Sie kommen wohl im Auftrag Mister Stratters? Bitte nehmen Sie Platz! Was haben Sie uns zu melden?“

John Stratter nahm den Damen gegenüber Platz.

„Meine verehrte gnädige Frau, ich bin gekommen, um mit Ihnen über Ihre pekuniäre Lage zu reden.“

Stolz hob Frau Helene das Haupt.

„Sie, Herr Sekretär? Das ist doch wohl ein Irrtum. Mister Stratter wollte doch selbst mit mir darüber reden.“

John verneigte sich.

„Ganz recht, Mister Stratter selbst. Und ich muss nun mein Inkognito lüften, gnädige Frau, und zugleich um Verzeihung bitten, dass ich es nicht eher tat. Ich selbst bin John Stratter, und der, den Sie bisher dafür hielten, ist mein Sekretär Ralf Bernau.“

Die drei Damen fuhren auf und starrten ihn entgeistert an.

„Sie – Sie sind Mister Stratter?“, rief Frau Helene mit greller Stimme.

Er verneigte sich ruhig.

„So ist es, gnädige Frau.“

„Das ist ja – Sie sehen uns ganz konsterniert. Warum haben Sie uns so düpiert?“

John Stratter konnte es sich nicht versagen, ihr mit einer Erklärung, wie er sie für gut fand, zugleich eine kleine Lektion zu geben.

„Das will ich Ihnen erklären, gnädige Frau, Ihnen und Ihren Fräulein Töchtern. Der Wunsch meines sterbenden Vaters war, dass ich, um seine Dankesschuld abzutragen, eine der drei Töchter seines Freundes Waldorf heiraten möge. Ich habe immer die Furcht gehabt, nur meines Geldes wegen geheiratet zu werden, und deshalb nahm ich mir vor, in Ihrem Haus unter der schlichten Maske meines Sekretärs aufzutreten. Ich sagte mir, wenn du einer der jungen Damen als armer Mann begehrenswert erscheinst, dann ist es die Rechte. Gleich am ersten Tag musste ich die Bemerkung machen, dass ich weder auf Fräulein Blandine noch auf Fräulein Asta den geringsten Eindruck machte. Aber Ruth, ja, Ruths Augen verrieten mir gleich ein warmes Interesse an meiner Person und – ich verlor gleich am ersten Tag mein Herz an sie. Ihre liebe, schlichte und doch vornehme Art nahm mich immer mehr gefangen, und wenn ich ihr und mir auch erst noch eine Prüfungszeit auferlegte, so wusste ich doch gleich, dass nur Ruth meine Frau werden würde. Und so verlobte ich mich endlich mit ihr. Aber erst, nachdem ich ihr Jawort hatte, gab ich mich ihr zu erkennen. Danach sagte ich auch Ruths Vater, als ich ihn um seine Einwilligung zu unserer Verlobung bat, wer ich war.“

Hier fuhr Frau Helene, blass vor Zorn, auf.

„Ah, mein Mann hat davon gewusst? Und er hat mich nicht aufgeklärt über das falsche Spiel, das Sie mit mir getrieben haben? Das ist unerhört, ganz unerhört! Ich bin außer mir! So eine …“

John Stratter hob die Hand. Mit großen, ernsten Augen sah er auf die erregten Gesichter vor sich.

„Meine gnädige Frau, das geschah nur auf meinen ausdrücklichen Wunsch. Ich nahm als sicher an, dass Sie sich über meine kleine Maskerade sehr erzürnen würden und – Ihr Herr Gemahl durfte um keinen Preis aufgeregt werden. Wenn er wieder hergestellt werden soll, war größte Schonung nötig. Auch Ruth wollte ich eine unnötige Aufregung ersparen, und deshalb drang ich darauf, dass Ruth mit ihrem Vater erst abreiste, ehe ich Ihnen alles enthüllte. Schon morgen werde ich ihnen folgen. Meine Hochzeit mit Ruth wird in aller Stille in dem bayerischen Dorf stattfinden, wo das Sanatorium liegt, und wir werden noch einige Monate bei Ruths Vater bleiben, bis wir sicher sind, dass sich sein Zustand erheblich gebessert hat. Drüben in New York werde ich ohnedies noch eine offizielle Nachfeier meiner Vermählung abhalten müssen. Ich hoffe, gnädige Frau, dass Sie es verständlich finden, dass die Sorge um die Gesundheit Ihres Gatten uns zwang, Sie noch bis nach seiner Abreise im Unklaren über meine Person zu halten.“

Aber nun war es vorbei mit Frau Helenes Fassung. Auch ihre Töchter verloren die Haltung. Es gab eine recht hässliche Szene, und John war froh, dass er die seiner Ruth und ihrem Vater erspart hatte, er wunderte sich nur, dass Damen mit einer guten Erziehung sich so gehen lassen konnten. Erst nachdem die drei Damen erschöpft von ihren Ausbrüchen in ihre Sessel zurücksanken, fragte er ganz ruhig:

„Weshalb haben Sie sich eigentlich so aufgeregt, meine Damen?“

Wieder fuhr Frau Helene auf.

„Das fragen Sie noch? Es ist ein schändliches Spiel mit uns getrieben worden. Sie haben sich unverantwortlich benommen, Mister Stratter.“

Er bleib ganz ruhig.

„Und ich meinte, ich hätte Ihnen durch meinen Sekretär so viele freundliche Aufmerksamkeiten erweisen lassen, wie ich nur ersinnen konnte. Waren Sie irgendwie unzufrieden mit ihm?“

„Er hat uns genauso düpiert wie Sie.“

„Das dürfen Sie ihm nicht nachtragen, er handelte in meinem Auftrag. Alle Schuld trifft mich.“

„Was soll nur aus uns werden!“, jammerte Frau Helene, sich fassend und auf ein neues Ziel zusteuernd.

„Das eben wollte ich mit Ihnen besprechen. Wollen Sie mich nun ruhig anhören?“

„So sprechen Sie, Sie sind uns eine Genugtuung schuldig!“

„Nun wohl, die soll Ihnen werden.“

Er berichtete nun, welche Pläne er mit seinem Schwiegervater hatte und fuhr fort:

„Wenn Sie sich entschließen können, Deutschland zu verlassen, werden Sie drüben alle Behaglichkeit haben. Ihr Gemahl wird ein festes, sicheres Einkommen haben, Sie werden ein hübsches Haus bewohnen, und alle Not wird ein Ende haben. Bis Ihr Herr Gemahl aus dem Sanatorium kommt, können Sie hier alles zur Übersiedlung geordnet haben. Dass Sie bis dahin ein entsprechendes Einkommen haben, dafür werde ich Sorge tragen. Und nun seien Sie mir nicht mehr böse! Ich bin überzeugt, Ihre schönen Töchter werden drüben genügend Bewunderer finden und sicher gute Partien machen. Es wird alles besser werden als bisher.“

Frau Helene und ihre klugen Töchter sahen ein, dass es besser war, sich gut mit John Stratter zu stellen, und deshalb zwangen sie sich zu einem Lächeln und willigten in alles, was er anordnete, ohne Vorbehalt.

John Stratter konnte am nächsten Tag beruhigt abreisen und Ruth und ihrem Vater die frohe Botschaft bringen, dass alles auf das Beste geordnet war. Die unbeherrschten Zornesausbrüche der drei Damen verschwieg er ihnen.

Und so verlebte John Stratter mit seiner Braut eine herrliche Brautzeit im Frühlingszauber der Berge.

Doktor Waldorf lebte auf in der neuen Umgebung und im Glück seiner Kinder. Er erholte sich schneller, als er es gehofft hatte, und seine Augen besserten sich von Tag zu Tag. Ruth war sehr glücklich darüber.

Ralf Bernau hatte John Stratter in das stille Bergdorf begleitet und bei der Hochzeit als Trauzeuge fungiert. Gleich danach hatte er von seinem Herrn einen vierzehntägigen Urlaub erhalten, den er benutzte, um nun selbst mit seiner Trude Hochzeit zu halten.

Anfang Juli begab sich dann John Stratter mit seiner jungen Frau in Begleitung Ralf Bernaus und seiner Frau sowie seines Dieners an Bord eines Dampfers, um die Überfahrt nach New York anzutreten.

Ruth hatte an Frau Bernau großen Gefallen gefunden. Die tapfere Trude hatte viel Ähnlichkeit in ihrer ganzen Art mit Ruth, und John Stratter fand sie sehr sympathisch und sah sie gern in Ruths Gesellschaft. Es war ihm lieb, dass seine junge Frau in Trude Bernau eine sympathische Gesellschafterin fand, denn er wusste, dass Ruth sich drüben erst würde einleben müssen und dass sie manchmal einsam sein würde, wenn ihn Geschäfte von zu Hause fortführten.

Es war eine wundervolle Überfahrt, die vom herrlichsten Wetter begleitet war. Ralf Bernau und seine junge Frau waren ganz erfüllt von Dankbarkeit gegen John Stratter. Dieser aber hatte in seiner Ruth das höchste Glück gefunden, das ein Mann sich nur erringen kann. Und als sie beide an einem wundervollen Abend an der Reling standen und zu dem herrlichen Sternenhimmel aufsahen, schlang John Stratter seinen Arm um Ruths Schultern und sagte zärtlich:

„Als ich hinüber fuhr nach Deutschland, wollte ich eine Pflicht erfüllen. Dass mir die Erfüllung dieser Pflicht ein so großes Glück bescheren würde, ahnte ich nicht. Wie gut, meine Ruth, dass du dein großes Herz dem armen Sekretär zuwandtest!“

Sie sah mit leuchtenden Augen zu ihm auf.

„Ich konnte ja nicht anders, mein John. Es zog mich gleich mit Zaubermacht zu dir.“

„Und wirst du drüben niemals Heimweh bekommen, meine Ruth?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, John, ganz gewiss nicht. Ich werde ja alles bei mir haben, was mir lieb und teuer ist. Mein lieber Vater wird drüben einen neuen, segensreichen Pflichtenkreis haben, den er in voller Gesundheit ausfüllen kann, dank deiner gütigen Hilfe. Alles ist so licht und klar in mir und um mich geworden, seit du in mein Leben tratest. Ich habe fortan nur eine wirkliche Heimat, die an deinem Herzen, mein geliebter John.“

Sie sahen sich tief in die Augen und ihre Lippen fanden sich im seligen Kuss der Liebe.

Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil V)

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