Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil V) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 22
Der verhängnisvolle Brief
ОглавлениеHasso von Ried ging langsam den Kurfürstendamm entlang. Er hatte eben seine in einer Seitenstraße gelegene Junggesellenwohnung verlassen und hoffte, hier ein Taxi zu finden, das ihn an seinen Bestimmungsort bringen sollte. Suchend ließ er seine Blicke umherschweifen, aber alle Autos, die ihm begegneten, waren besetzt. Auch am nächsten Taxistand war keins zu sehen.
„Wieder einmal kein einziges Vehikel zu haben“, sagte er ärgerlich vor sich hin.
In diesem Augenblick näherte sich wieder ein Auto. Dicht vor ihm fuhr es an den Straßenrand und hielt vor dem Konfitürengeschäft Hamann an. Eine junge schlanke Dame stieg aus. Sie nahm ein Geldstück aus der Tasche ihrer Jacke und reichte es dem Chauffeur. Dann wollte sie sich abwenden. Dabei aber blieb sie mit der Schutzkette ihres Armbands am Türgriff hängen. Hasso von Ried bemerkte es und trat rasch und hilfsbereit heran. Er verneigte sich artig, und sie blickte, leicht errötend, zu ihm auf. Seine schlanke, sehnige Gestalt in der Uniform eines Berliner Garderegiments überragte die ihre um ein gutes Stück.
„Gestatten Gnädigste, dass ich behilflich bin?“, fragte er höflich und löste vorsichtig die Kette von dem Griff. Dabei bewunderte er erst die feine, schlanke Hand und dann betrachtete er interessiert eine kleine Münze, die als Anhänger an der Armbandkette hing. Sie war von Gold und zeigte ein Wappen mit einer Freiherrenkrone. Auf dem Wappen erkannte er einen springenden Eber und auf dem Spruchband die Worte „Treu und unverzagt.“
Notgedrungen war die junge Dame stehen geblieben, bis er sie befreit hatte. Nun war sie erlöst. Er trat mit einer Verbeugung zurück.
Einen Moment sahen sie sich in die Augen.
Dankend neigte die junge Dame das Haupt. Eine leise Röte war wieder in ihre Wangen gestiegen. Sie prägte sich seine aristokratischen Züge ein und wusste, dass sie dieses interessante Gesicht nicht wieder vergessen würde.
Aber sie wandte sich nun schnell ab und ging auf das Konfitürengeschäft zu.
Er blieb am Wagenschlag stehen und sah ihr nach. Seine Augen freuten sich an der ruhigen stolzen Haltung der jungen Dame, an ihren elastischen Bewegungen, die von Kraft und Grazie zugleich zeugten.
Als sie im Laden verschwunden war, rief Hasso dem Chauffeur zu, wohin er zu fahren wünschte. Dann stieg er ein und lehnte sich in die Polster zurück.
Das Auto fuhr davon.
Hasso von Ried warf keinen Blick mehr nach dem Laden zurück. Seine Gedanken wandten sich Dingen zu, die wichtiger für ihn waren als die flüchtige Begegnung mit einer schönen jungen Dame. So merkte er auch nicht, dass sie verstohlen durch die Konfitürenberge in der Auslage des Schaufensters dem davonfahrenden Auto nachsah.
Sie machte dann ihre Einkäufe und verließ mit einigen kleinen Paketen das Geschäft.
Mit schnellen, zielsicheren Schritten überquerte sie den Kurfürstendamm und bog in eine Nebenstraße ein. Nach kurzer Zeit hatte sie ihr Ziel, eine vornehme Fremdenpension, erreicht.
Eine Zofe nahm ihr im Vorzimmer Hut und Jacke ab.
„Ist Mama schon zurück, Franziska?“, fragte die junge Dame.
„Gnädige Frau ist vor wenigen Minuten zurückgekommen“, erwiderte die Zofe.
Die junge Dame ordnete vor dem Spiegel ein wenig ihr Haar, nahm ihre Pakete wieder auf und betrat einen hübschen kleinen Salon. Er machte einen wohnlichen Eindruck. Aber durch die Tür, die ins Nebenzimmer führte, sah man geöffnete und schon gepackte Koffer stehen.
In diesem Zimmer saß in einem Sessel am Fenster eine ältere Dame.
„Habe ich dich lange warten lassen, Mamascha?“, fragte die junge Dame.
„Nein, Carry, auch ich kam eben erst zurück von meinen Abschiedsbesuchen. Exzellenz Haukner hielt mich ziemlich lange auf. Sie sagte mir viel Schmeichelhaftes über meine reizende Tochter. Wirst du eitel werden?“
Lachend sahen sich Mutter und Tochter an.
„Ich soll dir ja sehr ähnlich sein, Mamascha. Wirst du nun eitel werden?“, neckte Carry.
Die Freifrau von Hartenfels machte eine abwehrende Geste. „Die Zeiten sind für mich vorbei, Carry. Eitel bin ich jetzt nur noch auf dich. Wie war es bei der Modistin? Sind deine Kleider fertig?“
„Bis auf Kleinigkeiten. Sie werden direkt nach Hartenfels geschickt.“
„Und was hast du da in diesen Paketen?“
„Hamann-Konfitüren, Mamascha. Den ganzen Rest meines Taschengeldes habe ich für Reisefutter ausgegeben und habe auch noch, deine gütige Einwilligung voraussetzend, eine größere Bestellung gemacht, die uns nachgesandt wird.“
„Die gütige Einwilligung erteile ich hiermit nachträglich. Im Übrigen habe ich uns einen Imbiss bestellt. Wir haben ja noch gut eine Stunde Zeit, ehe wir zum Bahnhof fahren müssen. Hast du noch irgendjemanden von unseren Berliner Bekannten getroffen?“
„Nein. Aber einen unbeschreiblich interessanten Gardeleutnant habe ich gesehen. Er bestieg dasselbe Auto, das ich bis zu Hamann benutzte, und da ich mit meiner Schutzkette am Armband hängen blieb, erlöste er mich. Du, Mamascha, er sah prachtvoll aus! Weißt du, so stelle ich mir den Drachentöter St. Georg vor.“
„In einer Gardeuniform?“, scherzte die Mutter.
Carry lachte. „Natürlich nicht.“ In diesem Moment trat die Zofe der beiden Damen ein. Sie trug ein Tablett mit dem bestellten Imbiss. Die Damen ließen sich auch hier in der Pension nur von ihrer eigenen Dienerschaft bedienen.
„Ist es recht so, gnädige Frau?“, fragte die Zofe, das Tablett vor Frau von Hartenfels niedersetzend.
Sie sah sich die Speisen an und nickte lächelnd. „Es genügt vollständig, Franziska. Nun lassen Sie für sich und Friedrich auch noch eine Mahlzeit richten. Dann, wenn Sie gegessen haben, fahren Sie beide mit dem Gepäck schon zum Bahnhof. Sie geben das Gepäck auf und belegen unsere Plätze.“
„Sehr wohl, gnädige Frau.“
„Und bestellen Sie an der Kasse, dass man mir die Rechnung vorlegt. Die Kassiererin wird sie wohl schon fertig haben.“
Franziska hatte den Imbiss zierlich auf einen kleinen runden Tisch geordnet, an dem die Damen sich nun niederließen, nachdem die Zofe das Zimmer verlassen hatte.
„Nun geht es also für neun Monate nach Hause, Carry, die schönen Tage von Berlin sind wieder einmal zu Ende.“
Carry nicke lächelnd. „Ich freue mich schon auf zu Hause.“
„Wirklich?“
„Wirklich.“
„Und ganz leichten Herzens verlässt du Berlin? Ist dir und deiner Herzensruhe keiner der glänzenden Kavaliere gefährlich geworden, die dich so eifrig umworben haben?“
„Nicht ein einziger. Ich bringe mein Herz heil und unversehrt wieder nach Hartenfels zurück.“
„Trotz des St. Georgs von der Garde?“, neckte die Mutter.
Carrys Blick flog einen Moment träumerisch ins Weite. Seltsamerweise schlug ihr Herz ein wenig schneller beim Gedanken an den jungen Offizier. Aber sie war darüber ärgerlich. Es war sonst nicht ihre Art, sich so leicht fesseln zu lassen. Aber obwohl sie gewohnt war, ihrer Mutter alles zu sagen, wollte sie doch nicht eingestehen, dass ihr der Gedanke an den jungen Herrn Herzklopfen machte.
„Auch trotz des St. Georgs, Mamascha.“
„Also hat niemand Gnade vor deinen Augen gefunden? Ich dachte einmal, du hättest Graf Soest ein wenig ausgezeichnet.“
Energisch schüttelte Carry den Kopf. „Ach nein, mit dem war ich nur öfters zusammen, weil seine Schwester von der Pension her mit mir befreundet ist. Er ist ja ein ganz amüsanter Gesellschafter, aber das ist auch alles. Es eilt mir durchaus nicht, unter die Haube zu kommen. Wenn ich mich einmal verheirate, dann tue ich es nur, wenn ich einen Mann von ganzem Herzen liebe und ebenso wiedergeliebt werde.“
„Nun, hoffentlich findest du so einen.“
„Eilt es dir denn so sehr, mich loszuwerden, Mamascha?“
Die Mutter fasste die Hand der Tochter und legte sie zärtlich an ihre Wange. „Ach, Carry, wenn es nach mir ginge, müsstest du immer bei mir bleiben. Aber Mütter müssen sich bescheiden. Über meinen eigenen Wünschen steht mir dein Glück.“
Carry küsste die Hand der Mutter. „Bin ich denn nicht glücklich bei dir, Mamascha?“
„Du sollst noch viel glücklicher werden, so glücklich, wie ich es mit deinem lieben Vater war.“
Carry seufzte leise. „Ich glaube, so ein inniges Verhältnis, wie es zwischen dir und Papa herrschte, gibt es nur alle hundert Jahre einmal zwischen Eheleuten.“
Die Mutter lächelte vor sich hin. „Und doch habe ich deinen Vater erst lieben gelernt, als wir verheiratet waren.“
Überrascht sah Carry auf. „Wirklich, Mama? Du liebtest ihn nicht schon, als du seine Braut wurdest?“
„Nein. Damals hatte ich mein dummes Herz an einen Mann verloren, der es gar nicht mochte.“
„Ach, das musst du mir erzählen, das ist ja sehr interessant.“
Die noch immer schöne Mutter sah lächelnd in die Augen ihres Kindes. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich schwärmte eben nach Jungmädchenart für ein Ideal. Und das sah ich in einem Mann, der mindestens fünfzehn Jahre älter war als ich. Ich lernte ihn zu derselben Zeit kennen wie deinen Vater. Sie waren im Manöver beide bei uns einquartiert. Mein Herz flog ihm beim ersten flüchtigen Begegnen zu. Und meine Verliebtheit wurde immer stärker, obwohl er sich wenig um mich kümmerte, viel weniger als dein Vater, der mir gleich eifrig den Hof machte. Und von deinem Vater erfuhr ich dann auch, dass mein angeschwärmtes Ideal schon seit zwölf Jahren verheiratet war und einen elfjährigen Sohn besaß. Da trug ich meine heimliche Liebe still zu Grabe. Es tat furchtbar weh damals, aber du siehst, ich bin nicht an gebrochenem Herzen gestorben.
Dein Vater mochte ahnen, was in mir vorging. Er war aber so zartfühlend und ritterlich und umgab mich mit so viel Aufmerksamkeiten, dass ich ihm herzlich gut sein musste. Und ich wurde schließlich seine Frau, obwohl mein Herz noch immer nicht ruhig schlug, wenn ich an den anderen dachte. Aber zu meiner eigenen Überraschung merkte ich bald, dass ich eigentlich sehr glücklich war an der Seite deines Vater. Und er ließ mir gar keine Wahl – ich musste ihn herzlich lieb gewinnen. Du weißt ja, welch ein goldener Mensch er war.“
Carry nickte mit leuchtenden Augen. „Ich weiß, er war ein Mensch von seltener Herzensgüte. Wir beide wissen sehr wohl, was wir an ihm verloren haben.“
Die Augen der Mutter wurden feucht. „O ja, das wissen wir. Aber du siehst, Carry, es sind nicht immer die Ehen die glücklichsten, die aus großer, leidenschaftlicher Liebe geschlossen werden.“
Ihre Bewegung in sich niederzwingend, sah Carry die Mutter schelmisch an. „Und die Nutzanwendung? Ich soll nicht auf die große Liebe warten. Meinst du das?“
„Ich meine, dass in dieser Frage jeder Mensch nach seinem eigenen Ermessen entscheiden muss. Eine Nutzanwendung beabsichtigte ich nicht.“
„Dann ist es gut. Vorläufig gefällt es mir bei dir noch viel zu gut, als dass ich wünschen würde, mich zu verändern. Dazu müsste mich mein Herz mit aller Macht drängen, und vorläufig fühle ich noch nicht das leiseste Zucken.“
Ob Carry jetzt ganz ehrlich war? Ob der St. Georg in der Gardeuniform nicht doch ein ganz klein wenig Unruhe in ihr junges Herz gezaubert hatte?
„Ich bin zufrieden“, sagte die Mutter lächelnd.
„Nun musst du mir aber noch sagen, Mamascha, ob du später dem Mann, den du liebtest, wieder begegnet bist.“
Frau von Hartenfels nickte lächelnd. „O ja, zuweilen. Und so ein ganz klein wenig habe ich noch lange für ihn geschwärmt. Ich brauche dir kein Geheimnis aus seinem Namen zu machen, es war der Freiherr von Ried.“
Carry zuckte betroffen zurück.
„Wie? Unser bärbeißiger, unliebenswürdiger Nachbar, der Majoratsherr auf Marwedel?“
Die Mutter lachte herzlich. „O nein, so einen schlechten Geschmack wirst du mir doch nicht zutrauen. Nicht ihn meine ich, sondern seinen Cousin Hein von Ried.“
„Den kenne ich ja gar nicht.“
„Er ist schon seit Jahren tot, und er war nur selten im Schloss Marwedel. Die Cousins waren sich nicht sehr sympathisch.“
„Kein Wunder, wer soll denn mit dem alten Isegrim sympathisieren? Also er ist tot, dein Schwarm?“
„Ja, auch seine Gattin ist tot. Nur sein Sohn Hasso ist noch am Leben.“
„Ach – Hasso von Ried? Von dem hat mir Kurt von Ried zuweilen erzählt. Er hält viel von diesem Cousin, obwohl sein Vater allerlei an ihm auszusetzen hat. Nun ja, wer soll auch die Zufriedenheit des alten Marwedeler erringen? Das müsste ja ein Phänomen sein! Dieser Hasso von Ried scheint auch nicht viel Sehnsucht nach seinen Verwandten auf Marwedel zu haben. Ich habe ihn nie dort gesehen.“
„Früher war er mit seinen Eltern einige Male dort. Aber da warst du noch ein Kind und bist nicht nach Marwedel hinübergekommen. Und das letzte Mal war er dort, als du in der Pension weiltest. Seitdem habe ich ihn auch nicht wieder gesehen. Seltsamerweise sind wir ihm auch nie in Berlin begegnet.“
„Ach, richtig, Kurt sagte mir ja, sein Cousin Hasso lebe in Berlin. Er ist Offizier.“
„Ganz recht. Also, Kurt von Ried hält viel von seinem Cousin Hasso?“
„Ja, obwohl sein Vater sehr unzufrieden mit ihm ist, weil er nach seiner Meinung zu viel Geld ausgibt.“
„Nun, man muss noch kein Verschwender sein, um bei Herrn von Ried diese Meinung zu erwecken.“
„Da hast du Recht, Mamascha, der alte Herr von Ried ist, unter uns, ein Geizkragen, und Kurt hat auch nicht gerade das angenehmste Leben, obwohl er der Erbe eines großen Majorats sein wird.“
„Kurt von Ried plaudert gern mit dir. Ich glaube, du brauchtest ihm nur eine leise Hoffnung zu machen, dann würde er um deine Hand anhalten. Sein Vater sähe es sicher auch gern, wenn du eines Tages seine Schwiegertochter sein würdest, weil dann Hartenfels, das ja gottlob nicht Majorat ist, an die Rieds fallen würde.“
Carry schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Mama! Kurt ist ein lieber, netter Mensch und mein guter Freund, aber nichts weiter. Das ist kein Mann für mich, um Gottes willen nicht. Der würde bei mir rettungslos unter den Pantoffel kommen.“
„Meinst du?“
„Ganz sicher. Das habe ich ihm auch schon ganz unverblümt gesagt.“
Frau von Hartenfels horchte auf. „Wie? Du hast mit ihm darüber gesprochen?“
„Ja, er fragte mich kurz vor unserer Abreise nach Berlin – es war halb ernst und halb scherzhaft gemeint –, ob ich nicht Lust habe, Majoratsherrin von Marwedel zu werden. Da habe ich ganz entschieden abgewinkt.“
„Wie denn, Carry?“
„Oh, ich habe ihm einfach gesagt: ‚Lieber Kurt, Sie und ich, wir sind viel zu gute Freunde, kennen uns viel zu genau, als dass wir als Eheleute zusammenpassten. Sie sind viel zu gut und zu sanftmütig für mich. Ich würde Sie sehr unglücklich machen’.“
„Und was sagte er darauf?“
„Er meinte, deshalb hätte er keine Angst, und er glaube das Gegenteil. Ich sagte ihm darauf, dass ich desto mehr Angst habe, und bat ihn, nie mehr davon zu reden, damit wir gute Freunde bleiben könnten.“
Frau von Hartenfels sah nachdenklich vor sich hin. „Also, da war ich mit meinen Mutmaßungen auf dem Holzweg“, sagte sie seufzend.
„Mit welchen Mutmaßungen?“, forschte Carry.
„Ich glaubte, du verhieltest dich nur deshalb so ablehnend gegen all deine hiesigen Bewerber, weil du im Geheimen Kurt von Ried zugetan seiest.“
Energisch schüttelte Carry den Kopf. „Nein, nein, Mamascha, da warst du wirklich auf dem Holzweg. Daran ist nicht zu denken.“
„Schade! Ich hätte es mir so schön gedacht, dich in meiner Nähe zu behalten, wenn du dich einmal verheiratest. Marwedel und Hartenfels liegen so hübsch dicht beieinander.“
Carry schob ihren Teller zurück und sprang auf. Sie umfasste die Mutter und küsste sie. „Meine goldene Mamascha, selbst die Aussicht, in deiner Nähe bleiben zu können, würde mich nicht dazu veranlassen, Kurt von Rieds Gattin zu werden.“
Auch die Mutter erhob sich nun. Sie zog ihre Tochter in ihre Arme. „Die Hauptsache ist, dass du glücklich wirst, Carry.“
Hier wurden die Damen durch die Kassiererin der Pension gestört, die Frau von Hartenfels die Rechnung vorlegte.
Kurze Zeit darauf machten sich die beiden Damen fertig zur Abreise.
***
Hasso von Ried war inzwischen im Auto durch die belebten Straßen des Berliner Westens gefahren. Er sah mit düsteren Augen und finster zusammengezogener Stirn in das lebhafte Treiben dieses Vorfrühlingstages.
Und das soll man nun alles aufgeben! Aus dieser sprudelnden Berliner Luft soll man direkt in die Wildnis verpflanzt werden. Mein Herr Onkel ist ein Tyrann, dachte er.
Mit einem resignierten Aufatmen lehnte er sich zurück in die Lederpolster des Autos.
Während er gedankenverloren vor sich hin starrte, wurden seine Augen plötzlich durch einen blitzenden Gegenstand gefesselt, der sich zwischen dem Rücksitz und der Autowand eingeklemmt hatte. Er reckte sich empor, sah genauer hin und fasste mit der Hand danach.
Es war eine goldene Handtasche. Der Bügel stellte den gekrümmten Leib eines Elefanten dar. Schwanz und Beine hingen zu beiden Seiten der Tasche herab. Am Rücken des Elefanten waren an den Gurten, die seinen Leib wie goldenes Sattelzeug umspannten, goldene Ringe angebracht, und daran war eine starke goldene Kette als Henkel für die Tasche befestigt. Die Gurte waren mit Brillantsplittern besetzt, und die Augen des Elefanten bildeten zwei schöne Saphire.
Keinen Moment bezweifelte Hasso von Ried, dass diese Elefantentasche der jungen Dame gehörte, die vor ihm das Auto benutzt hatte. Es erschien ihm selbstverständlich, dass er sofort versuchen musste, den sicher schon schmerzlich vermissten Wertgegenstand in die Hände der jungen Dame zurückzulegen.
Sofort rief er den Chauffeur an, er möge an die Stelle zurückfahren, wo er das Auto bestiegen hatte.
Aber als das Auto vor Hamann hielt, war die junge Dame nicht mehr zu sehen. Hasso betrat den Laden und forschte nach ihrem Verbleib, aber es waren inzwischen schon so viele andere Käuferinnen in dunkelblauen Kleidern dort gewesen, dass die Verkäuferinnen nicht wussten, welche er meinte. Es hatte auch keine der Damen etwas von einer verlorenen Handtasche verlauten lassen.
Für alle Fälle ließ er seine Adresse zurück. Falls die junge Dame hier nach ihrem Eigentum forschen sollte. Dann kehrte er ins Auto zurück. Er gab abermals die Adresse an, die er schon vorher genannt hatte. Während der Wagen davonrollte, öffnete er die Tasche, in der Hoffnung, aus dem Inhalt vielleicht die Adresse. oder den Namen der Besitzerin ermitteln zu können. Innen im Bügel entdeckte er ein kleines Monogramm: „C. H.“. Aber das konnte ihm keinen Aufschluss geben. Er musste den Inhalt der Tasche durchsehen.
Da war eine kleine goldene Geldbörse, in der sich, fest zusammengelegt, einige Banknoten befanden. Außerdem ein kleiner Schlüsselbund mit vier zierlichen Schlüsseln, ein feines Spitzentaschentuch, dem ein leiser, diskreter Duft entstieg – und ein zusammengefalteter Brief, ohne Kuvert.
Einen Moment zögerte er. Da er aber aus dem anderen Inhalt der Tasche die Eigentümerin nicht ermitteln konnte, entfaltete er schließlich den Brief in der Hoffnung, darin einen Namen zu entdecken. Gern beging er diese Indiskretion nicht, aber hier half kein Zögern.
Anrede und Unterschrift des Briefes gaben auch keinen Aufschluss – er musste also denn ganzen Brief lesen. Er war ziemlich kurz. Und als er ihn gelesen hatte, machte er ein Gesicht, als sei er äußerst peinlich berührt worden.
Der Brief lautete:
Süße – Liebe!
Heißen, innigen Dank für deinen Opfermut. Ich kann dir nie genug danken, dass du gestern Abend zu mir kamst und allem zum Trotz vor Gott mein Weib wurdest. Nun wird uns deine Mutter ihre Einwilligung nicht mehr versagen. Du hast es ihr durch deinen Opfermut unmöglich gemacht. Bitte, teile mir mit, wann ich kommen darf, um nochmals um deine Hand anzuhalten. Werden wir glücklich sein dürfen? Ich küsse deine lieben Hände.
Dein treu ergebener R.
Hasso war das Blut jäh in die Stirn getreten. Mit einem unsagbar peinvollen Gefühl faltete er den Brief zusammen. Der Inhalt war ausgesprochen – kompromittierend für die junge Dame, und zwar mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig ließ. Es war ihm sehr unangenehm, dass er den Brief hatte lesen müssen, der ganz sicher nicht für fremde Augen bestimmt war.
Er rief sich das Bild der jungen Dame ins Gedächtnis zurück, aber es hatte sich bereits verwischt. Er wusste nur, dass sie einen vornehmen eleganten Eindruck gemacht hatte, wie eine Dame aus guter Familie, und dass ihre Augen rein und stolz geblickt hatten. Ja, an den stolzen, wahrhaften Ausdruck konnte er sich noch erinnern – sie blickte wahrhaftig nicht, wie Sünderinnen blickten. An die Farbe dieser Augen konnte er sich nicht mehr erinnern, nur an ihr helles, strahlendes Leuchten.
Und dann dachte er an die kleine Münze am Armband, die eine Freiherrenkrone und ein Wappen gezeigt hatte mit dem Wahlspruch: „Treu und unverzagt.“ Also eine Dame von Adel.
Wie peinlich musste es ihr sein, dass sie die Tasche verloren hatte! Ganz abgesehen von ihrem Wert barg sie doch nichts weniger in sich als den guten Ruf der Besitzerin. Fiel dieser Brief in unrechte Hände, war sie unrettbar kompromittiert. Und das musste er verhüten.
Hastig legte er den Brief mit den anderen Sachen in die Handtasche zurück und steckte sie zu sich.
Als bald danach der Chauffeur vor einem der hohen eleganten Mietshäuser des Westens hielt, stieg Hasso aus und entlohnte ihn. Dabei sagte er: „Ich habe in Ihrem Wagen eine Damenhandtasche gefunden. Kannten Sie die junge Dame, die vor mir das Auto benutzte und die sicher die Besitzerin ist?“
„Nein, Herr Oberleutnant, ich kenne die Dame nicht“, erwiderte der Chauffeur.
„Nun, falls die Dame sich Ihre Autonummer gemerkt hat und bei Ihnen nachforschen sollte, sagen Sie ihr, dass ich die Tasche gefunden und in Verwahrung genommen habe. Hier ist meine Adresse.“
Er gab dem Chauffeur seine Visitenkarte.
„Sehr wohl, Herr Oberleutnant“, sagte der Mann und steckte die Karte zu sich.
Hasso betrat das Haus und fuhr im Lift in die dritte Etage. Drei Wohnungstüren mündeten auf den Vorplatz. Der mittelsten wandte sich Hasso zu.
Er zog die Klingel. Ein Dienstmädchen mit weißer Schürze erschien.
„Ist Herr von Kronau zu Hause?“, fragte Hasso.
Die Dienerin ließ ihn eintreten. „Ja, Herr von Kronau ist daheim“, sagte sie, und dann rief sie in den Korridor hinein: „Kretschmar! Kretschmar! Der Herr Oberleutnant bekommt Besuch!“
Auf diesen Ruf erschien ein Bursche in Uniformhosen und einer blau und weiß gestreiften Leinenjacke. Er stand stramm. Hasso winkte ab und ging nach dem hinteren Teil des Korridors.
Der Bursche öffnete eine Tür und meldete hinein: „Herr Oberleutnant von Ried!“
Dann ließ er Hasso eintreten.
In diesem Zimmer saß ein junger Offizier am Schreibtisch und las in einem militärischen Werk. Er sprang auf, als Hasso eintrat. „Tag, Hasso! Ich habe schon auf dich gewartet.“
Hasso gab dem Burschen Mantel und Mütze und ließ sich, nachdem er Kronau die Hand geschüttelt hatte, in einen Sessel nieder.
„Tag, Rudi! Verzeih die Verspätung! Natürlich war mal wieder kein Auto zu haben.“
„Und deshalb bist du so verstimmt? Du siehst nämlich verstimmt aus, Hasso.“
„Bin ich auch. Aber natürlich nicht wegen des Autos. Diesen Komfort werde ich mir, wie allen übrigen, baldigst abgewöhnen müssen.“
„So wird es also wirklich ernst – du gehst nach Afrika, nach Südwest?“
„Ja, es lässt sich nicht ändern – ich muss.“
„Dein Onkel hat sich also nicht erweichen lassen?“
„Nein, Rudi. Ich war selbst noch einmal in Marwedel – alles vergebens. Er bleibt dabei, dass ich ein Verschwender bin, dem der Brotkorb höher gehängt werden muss. Und er will nur dann meine Schulden bezahlen, wenn ich mindestens auf zwei Jahre zur Schutztruppe in die Kolonien gehe, um den Ernst des Lebens kennen zu lernen.“
„Na, ich denke, den hast du schon ohnedies weidlich kennen gelernt.“
„Das ist deine Ansicht, aber nicht die meines Onkels. Lieber Gott, wenn der alte Herr nur mal ein Jahr mit meinem knappen Wechsel bei dem teuren Regiment auskommen müsste, hier auf dem Berliner Pflaster, mit der Notwendigkeit, einem alten Namen Ehre zu machen, dann würde er einsehen, dass dies gar nicht so erheiternd ist und dass man auch mit der ernstesten Veranlagung Schulden machen muss.“
„Wem sagst du das? Mir geht es ja genau wie dir. Hättest dem alten Herrn mal vorrechnen müssen, wo der Mammon bleibt.“
„Habe ich getan, aber ohne Erfolg. Der alte Herr weiß das alles besser, wenn er auch tagaus, tagein in seinem feudalen Schloss sitzt und keine Ahnung vom Leben hat. Natürlich hat er mir seinen Sohn, den braven Kurt, wieder als Musterbeispiel vorgeritten. Der sitzt, obwohl er Majoratserbe ist, treu und bieder zu Hause, tanzt ganz nach seines Vaters Pfeife und gönnt sich nicht den kleinsten Luxus. Vater und Sohn sorgen dafür, dass die Batzen hübsch zusammengehalten werden. Geld wie Heu sitzt in Marwedel, und ich werde wegen ein paar lumpiger Tausend als Verschwender nach Südwest verbannt. Vielleicht hofft der Alte, dass mir dort das Lebenslicht ausgeblasen wird, damit er nichts mehr für mich ausgeben muss.“
„Da siehst du wohl zu schwarz, Hasso.“
Der zuckte die Achseln. „Möglich, dass ich ihm Unrecht tue. Aber bitter ist es ihm, dass er in seinen Säckel greifen muss. Übrigens, meinen Cousin Kurt spreche ich unbedingt von solchen Gedanken frei. Ich ärgere mich nur, dass er mir immer als Vorbild hingestellt wird. Um keinen Preis möchte ich ihm gleichen. Er ist ja ein lieber, guter Kerl, aber vom Leben weiß er so wenig wie sein Vater, und ich glaube, er betrachtet mich mit stillem Entsetzen, weil ich es fertig gebracht habe, Schulden zu machen. Na, lassen wir ihn! Aber wenn ich nun nicht meine Gläubiger um ihr Geld bringen will, muss ich schon in den sauren Apfel beißen und nach Südwest gehen – um den Ernst des Lebens kennen zu lernen.“
Kronau legte ihm die Hand auf die Schulter. „Nicht so bitter, Hasso! Du hattest doch im Grunde schon immer Lust, mal nach Südwest zu gehen.“
„Ja doch, Rudi, aber freiwillig. Das ist ganz etwas anderes, als so quasi als Verbrecher auf den Schub gebracht zu werden. Ich vertrage Zwang so schlecht, er weckt in mir entschieden die Lust am Bösen.“
Kronau lachte. „So siehst du aus.“
Auch Hasso musste lachen, aber er wurde gleich wieder ernst. „Nein, Rudi, es ist nicht zum Lachen. Gegen Zwang revoltiere ich immer. Und wenn mich meine Gläubiger nicht dauerten, dann sagte ich dem alten Marwedeler rundweg: ‚Bedaure, ich gehe nicht!’ So aber – man will doch ein anständiger Kerl bleiben, und ich nehme es ernst mit der Devise: ‚Adel verpflichtet!’ Also, ich habe meine obstinaten Nacken gebeugt; wie du mich hier siehst, bin ich marschfertig nach Südwest. Nun bin ich zu dir gekommen, um zu hören, ob du mich wirklich begleiten willst, wie du es mir halb und halb in Aussicht stelltest.“
Rudolf von Kronau atmete tief auf und sah mit seltsamen Augen auf den Freund.
„Nein, Hasso, ich bleibe hier!“
Hasso sah ihn forschend an. „Nicht? Also hast du dich eines anderen besonnen?“
„Mein lieber Hasso, in diesen Tagen hat sich so viel, so unendlich viel für mich geändert. Ich will dir kein Geheimnis daraus machen, du sollst es zuerst erfahren – ich hoffe, mich dieser Tage zu verloben.“
Hasso blickte überrascht in sein Gesicht. „Hallo! So plötzlich ist das gekommen?“
Kronau schüttelte den Kopf. „Nein, das spielt schon lange. Ich sprach nur nicht davon, da die Sache bisher hoffnungslos schien. Die junge Dame, die ich liebe, ist eine reiche Erbin. Du kennst mich genug, um zu wissen, dass für mich dieser Umstand nicht maßgebend war. Aber die Angehörigen der jungen Dame waren bisher dagegen, und unsere Sache schien aussichtslos. Deshalb wollte ich mit dir nach Südwest. Ich sagte das der jungen Dame, und sie war außer sich. Wir wagten noch einen Sturm, ich glaube, mit Erfolg. Hasso, ich glaube, das Schicksal will mir ein großes, großes Glück in den Schoß werfen. Und deshalb muss ich dich allein ziehen lassen.“
Mit einem festen Druck schüttelte Hasso die Hand des Freundes. „Man soll nicht voreilig Glück wünschen, Rudi, aber weiß Gott – ich gönne es dir von Herzen.“
„Das weiß ich. Und wenn du aus Südwest zurückkommst, dann findest du immer einen warmen Platz an meinem häuslichen Herd.“
„Danke dir, mein Junge. Damit wäre ja der Zweck meines Besuches bei dir erledigt. Ich wollte nur wissen, ob du mitkommst nach Südwest. Nächsten Sonnabend verlasse ich Berlin.“
„So bald schon?“
„Ja, ich habe mir noch einige Wochen Urlaub genommen. Die will ich bei unserem gemeinsamen Freund Norbert in seinem Taunusschloss verbringen. Du weißt, er hat uns so dringend eingeladen, und sein letzter Brief an mich war seltsam bedrückt. Will doch mal nach ihm sehen.“
„Du musst ihn herzlich von mir grüßen, Hasso. So geht nun einer nach dem anderen. Weißt du noch, wie vergnügt wir vier als junge Dachse zusammen waren, als wir die ersten Leutnantstiefel abliefen, du, Norbert Platen, Leo Holms und ich? Es war doch eine herrliche Zeit, obgleich wir, außer Norbert, alle höllisch knapp bei Kasse waren. Norbert hatte ja immer eine offene Hand für uns, der Prachtkerl. Leo war dann der erste, der fortging – auch nach Südwest. Der sitzt nun dort auf seiner Farm.“
„Ich hoffe, ihn wiederzusehen.“
„Das wirst du sicher. Wie ist es – hast du für heute Abend schon etwas vor?“
„Nein!“
„Dann lass uns zusammen sein.“
„Gern. Wo treffen wir uns?“
„Ich hole dich in deiner Wohnung ab. Du bist doch zu Hause?“
„Wenn ich dich erwarten darf, sicher.“
Sie reichten sich die Hände, und Hasso entfernte sich.
Als er die Treppe hinabschritt und eine Zigarette aus seinem Etui nahm, fühlte er in seinem Waffenrock die goldene Handtasche. Da fiel ihm ein, dass er etwas tun müsse, um die Besitzerin zu ermitteln.
Er begab sich zunächst in das Inseratenbüro einer viel gelesenen Zeitung und gab folgendes Inserat auf:
Goldene Handtasche im Auto gefunden. Abzuholen Fasanenstraße 11, zwei Treppen.
Er bat dringend darum, dass dieses Inserat schon am nächsten Tag in der Zeitung erscheinen sollte. Man versprach es ihm.
***
Am nächsten Morgen ließ sich Hasso, als er sein Frühstück einnahm, von seinem Burschen die Zeitung bringen. Er wollte sich überzeugen, ob das Inserat auch wirklich schon eingerückt war.
Er fand es sogleich. Dann flogen seine Augen über die Inserate unter der Rubrik „Verloren“. Und auch hier fand er, was er suchte. Seine Augen hatten schnell folgendes Inserat entdeckt.
Goldene Handtasche, Bügel in Form eines Elefanten, mit Inhalt, wahrscheinlich in einem Auto verloren. Dem ehrlichen Finder wird hohe Belohnung zugesichert. Nachricht unter C. H. in der Expedition dieses Blattes erbeten.
Obwohl sich Hasso nun sagte, dass die junge Dame auch sein Inserat lesen würde, schrieb er sogleich einige Zeilen.
Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!
Die von Ihnen verlorene Handtasche befindet sich in meinem Besitz. Ich fand sie im Auto zwischen Rücksitz und Wand eingeklemmt. Ich bitte, die Tasche bei mir selbst abzuholen oder durch einen sicheren Boten abholen zu lassen. Ich werde sie im versiegelten Kuvert übergeben. Ergebenst
Hasso von Ried, Fasanenstr. 11
So, nun wusste die junge Dame, wenn sie den Brief erhielt, dass er die Angelegenheit diskret behandeln würde. Das würde sie hoffentlich ein wenig beruhigen.
Er schickte den Brief mit seinem Burschen in die Expedition. Er selbst steckte die Handtasche mit ihrem Inhalt in ein festes großes Kuvert und versiegelte es sorgfältig. Falls die junge Dame selbst kam, um die Tasche abzuholen, und das war wahrscheinlich, wollte er ihr nicht persönlich gegenübertreten. Das hielt er nicht für ritterlich und diskret. Er würde ihr das versiegelte Kuvert durch seinen Burschen aushändigen lassen, nachdem sie sich durch genaue Beschreibung der Tasche und des Inhalts legitimiert hatte.
Nun wartete er, was geschehen würde. Der Tag verging aber, ohne dass sie erschien. Es wurde Abend, und er wollte gerade ausgehen, als er unten vor seinem Haus ein Auto vorfahren hörte.
Wenige Minuten später klingelte es an seiner Wohnung.
Sein Bursche war instruiert. Hasso hörte ihn die Tür öffnen und mit jemanden reden.
Nach einer Weile trat der Bursche ein.
„Herr Oberleutnant, es ist eine Dame draußen, in einem Pelzmantel und ganz dicht verschleiert. Sie sagt, sie kommt wegen der Handtasche, die sie verloren hat.“
Hasso nickte. „Es ist gut, Treumann. Bitten Sie die Dame um eine genaue Beschreibung der Tasche und ihres Inhalts.“
Treumann schnarrte sein: „Zu Befehl, Herr Oberleutnant!“ und verschwand.
Mit leiser Erregung lauschte Hasso. Aber er vernahm nichts.
Treumann trat wieder ein.
„Die goldene Handtasche soll aussehen wie ein Elefant mit Augen von Saphiren und Gurten von Brillantsplittern.“
„Stimmt. Und der Inhalt?“
Treumann zählte an seinen Fingern her: „Ein Schlüsselbund mit vier Schlüsseln, ein Spitzentaschentuch, eine goldene Börse mit verschiedenen Banknoten.“
„Auch das stimmt. Hier, Treumann, geben Sie das der Dame.“
Er überreichte dem Burschen das versiegelte Kuvert mit der Tasche.
Treumann ging hinaus. Hasso vernahm ein leises Geräusch und dann das Rauschen seidener Frauenkleider und leise Schritte. Dann klappte die Tür ins Schloss.
Gleich darauf stürzte Treumann fassungslos ins Zimmer.
„Herr Oberleutnant, die Dame hat mir Papiergeld in die Hand gedrückt und hat gesagt, ich soll es behalten. Und sie hat geweint, so richtig aufgeschluchzt, als sie die Tasche aus dem Kuvert nahm und hineingesehen hatte, ob alles noch drin war. Und wie sie fort war, sehe ich mir erst das Geld an – und hier –, es ist viel zu viel. Da wird sich die Dame wohl geirrt haben.“
Lächelnd schüttelte Hasso den Kopf. „Sie hat sich sicher nicht geirrt. So viel wird ihr die Tasche schon wert gewesen sein. Behalten Sie das Geld ruhig.“
Ganz benommen ging Treumann hinaus.
Sein Herr trat rasch ans Fenster.
Da sah er gerade die junge Dame in dem dunklen Pelzmantel aus dem Haus treten. Es war nichts von ihr zu erkennen. Sie stieg in das Auto und fuhr davon.
Er atmete auf, wie von einer Last befreit. Später machte er sich mit Treumanns Hilfe zum Ausgehen fertig.
Auch heute Abend wollte er mit Rudolf von Kronau zusammentreffen. Sie hatten verabredet, bei Hiller zusammen zu speisen.
Hasso kam eine Viertelstunde nach der verabredeten Zeit in dem Lokal an. Zu seinem Erstaunen fand er Kronau noch nicht vor. Er erschien erst eine halbe Stunde später, und er sah aus, als habe er eine große Erregung hinter sich.
„Entschuldige, dass ich dich so lange warten ließ, Hasso. Ich erwartete zu Hause noch einen Anruf der jungen Dame, von der ich dir erzählte, und konnte nicht eher fort.“
Hasso begrüßte ihn lächelnd. „Minnedienst geht vor, Rudi. Hoffentlich hast du eine gute Nachricht erhalten?“
Kronau zuckte zusammen. „Wie meinst du das?“, fragte er nervös.
Hasso lachte harmlos. „Ist das so schwer zu verstehen? Ich hoffe, dass dir deine zukünftige Frau etwas recht Liebes gesagt hat. Aber – du scheinst ein wenig zerstreut zu sein. Du hast doch nichts Unangenehmes erfahren, mein Alter?“
Die letzten Worte Hassos klangen ehrlich besorgt.
Seine harmlose Unbefangenheit musste beruhigend auf Kronau wirken. Er strich sich aufatmend über die Stirn, und in sein Gesicht kam die normale Farbe wieder.
„Du hast Recht, ich bin ein wenig zerstreut.“
„Bei einem Verliebten kein Wunder“, neckte Hasso.
Kronau schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich habe wirklich einen sorgenvollen Tag hinter mir. Aber nun bin ich dieser Sorge gottlob ledig, ich erhielt gute Nachricht. Und du? Was hast du heute vorgenommen?“
„Nicht viel. Am Vormittag hatte ich einige dienstliche Wege. Nachmittags bin ich zu Hause geblieben und habe Briefe geschrieben.“
Kronau wurde nun sichtlich ruhiger, und die Freunde plauderten zusammen über alles, was ihre Herzen bewegte. Nur von der gefundenen Handtasche erwähnte Hasso kein Wort, und Kronau verriet nichts von dem, was ihn heute so erregt hatte.
Es war ziemlich spät, als sich die Freunde trennten. Hasso begleitete Kronau noch bis vor seine Wohnung. Dann verabschiedeten sie sich herzlich.
Hasso fuhr in einem Auto nach seiner Wohnung, und Kronau eilte die Treppe hinauf.
In seinem Zimmer angekommen, warf er die Jacke ab und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er schrieb eilig einen Brief:
Liebe, Süße!
Sei ganz ruhig! Mein Freund Hasso von Ried wird keinem Menschen etwas von der gefundenen Handtasche und ihrem Inhalt erzählen, denn er hat selbst mir nicht die leiseste Andeutung gemacht. Du kannst seiner absoluten Diskretion sicher sein, dafür kenne ich ihn. Wie ich dir schon sagte, kennt er meine Handschrift kaum, da ich für alle Briefe, außer denen, die ich an dich schreibe, seit Jahren eine Schreibmaschine benutze. Er kennt höchstens meinen Namenszug, und der fehlte ja gottlob unter meinem Brief an dich. Du kannst also ganz ruhig sein, meine süße Lotte. Da dich Hasso von Ried überhaupt nicht gesehen hat und dir die Tasche durch seinen Burschen im versiegelten Kuvert übergeben ließ, bin ich außer Sorge. Und nun kann ich mich doch wieder von Herzen freuen, dass deine Mutter ihren Widerstand wirklich aufgeben will. Es war ein gewagtes Spiel, mein tapferes Herz, aber wir haben es gewonnen. Morgen Früh, bald nach diesem Brief, werde ich bei dir sein und nochmals bei deiner Mutter meine Werbung anbringen. Und dann wird alles, alles gut sein. Ich küsse deine lieben Hände in heißer Innigkeit und Anbetung
dein Rudi
Kronau machte den Brief postfertig und trug ihn hinunter zum Postkasten.
***
Hasso von Ried reichte seinem Freund Kronau die Hand aus dem Fenster seines Wagenabteils. Kronau war in diesem Moment erst auf den Bahnsteig gekommen.
„Ich wollte dir doch noch ein letztes Lebewohl sagen, mein lieber Alter und dir gleich selbst noch mitteilen, dass ich mich gestern mit Fräulein Lotte Harder verlobt habe“, sagte er.
Hasso drückte ihm herzlich die Hand.
„Alles Glück der Welt für dich, Rudi – für dich und deine Braut. Also hast du dein Ziel erreicht?“
Kronaus Augen strahlten. „Ja, gottlob, der Widerstand der Angehörigen ist besiegt, und in wenigen Monaten wird unsere Hochzeit sein. Leider kannst du nicht daran teilnehmen, Hasso, wahrscheinlich keiner meiner drei besten Freunde, denn du und Leo, ihr seid dann in Südwest, und ob Norbert sein Taunusschloss wird verlassen wollen, um an meiner Hochzeit teilzunehmen, ist zum mindesten fraglich. Du könntest ihn aber fragen, ob er es tun wird.“
„Das will ich gern tun, Rudi.“
Gleich darauf ertönte das Abfahrtssignal. Die Freunde schüttelten sich noch einmal die Hände und sahen sich herzlich an.
„Leb wohl, Rudi!“
„Auf Wiedersehen, Hasso! Glück auf den Weg!“
Der Zug rollte davon, und die Freunde winkten sich zu, bis sie einander nicht mehr erkennen konnten.
Dann wandte sich Kronau um und ging die Bahnhofstreppe hinab. Vor dem Bahnhof warf er sich in ein Auto und fuhr nach der Villa, die seine Braut mit ihrer Mutter in Grunewald bewohnte. Als er dort ankam, führte ihn ein Diener in einen Salon, wo er seine Braut in Gesellschaft ihrer Mutter fand.
Lotte eilte ihm entgegen und fiel ihm um den Hals, trotz der missbilligenden Blicke ihrer Mutter. Er küsste sie innig und führte fast ehrfurchtsvoll ihre Hand an seine Lippen. Sie sah ihn errötend, mit leuchtenden Augen an.
Es waren sehr schöne braune Augen, die aus dem reizenden Mädchengesicht leuchteten. Man konnte Rudolf von Kronau sehr wohl nachfühlen, dass er dieser jungen Dame sein Herz geschenkt hatte.
Nun begrüßte Kronau auch die Mutter seiner Braut. Sie zeigte ihm ein abwehrendes Gesicht und reichte ihm nur die Fingerspitzen, die er an die Lippen führte. Sogleich zog sie die Hand wieder zurück.
Er sah sie bittend an. „Sind Sie uns noch immer böse, verehrte gnädige Frau?“, fragte er.
Sie blickte grollend auf das Brautpaar. „Was liegt Ihnen daran, Herr von Kronau? Sie haben sich mit ziemlich gewagten Mitteln die Hand meiner Tochter ertrotzt. Lotte hat mir durch ihr Verhalten leider keine andere Wahl gelassen, obwohl ich ihre Hand schon halb und halb Graf Lötzow zugesagt hatte.“
„Aber Mama, Graf Lötzow ist fast doppelt so alt wie ich und, unter uns gesagt, ein Ekel“, bemerkte Lotte energisch.
„Er ist ein vornehmer sympathischer Mann, wenn du das auch nicht einsehen willst. Seine Familie wäre dir sehr freundlich entgegengekommen, du wärest bei Hof vorgestellt worden …“
„Und wäre bei alledem mordsunglücklich geworden, liebste Mama. Gilt dir das gar nichts?“
„Nun, wir werden es ja erleben, ob du in der von dir ertrotzten Verbindung glücklicher wirst.“
„Das hoffe ich bestimmt, Mama“, sagte Lotte, mit strahlenden Augen zu Kronau hinübersehend. „Und glaube mir, Papa hätte mir seine Einwilligung zu einer Verbindung mit Rudi nicht versagt, wenn er gewusst hätte, wie sehr ich ihn liebe.“
Kalt und streng blickte die Mutter ihre Tochter an. „Ich weiß nicht, was dein Vater getan hätte, wenn er hätte erfahren müssen, wie ehrvergessen du gehandelt hast. Es ist besser, dass er das nicht erleben musste.“
Lottes Gesicht wurde ernst. „Liebe Mama, du hast uns ja keine andere Wahl gelassen. Du wiesest Rudi mit seiner ehrlichen Werbung ab und verlangtest von mir, dass ich meine Hand einem ungeliebten Mann geben sollte. Rudi wollte deshalb mit seinem Freund nach Südwest gehen. Das hätte ich nicht ertragen, denn ich liebe ihn über alles.“
Mit einem bitteren, gramerfüllten Ausdruck sah die Mutter sie an. „Der Preis, den du dafür bezahlt hast, ist allerdings der höchste, den eine Frau zahlen kann. Mich hast du damit bis ins tiefste Herz getroffen.“
Da richtete sich Lotte plötzlich auf. Sie nahm Rudis Hand und trat mit ihm vor die Mutter hin. „Nun denn, liebe Mama, unsere Verlobung ist publiziert, ein Teil der Verlobungsanzeigen ist schon unterwegs, und Rudi hat deine Einwilligung. So will ich dir die Eröffnung machen, dass der Brief, den ich dir zeigte und durch den ich endlich deinen Widerstand besiegte, fingiert war.“
Frau Kommerzienrat Harder fuhr auf. „Was willst du damit sagen?“
Lotte atmete auf. „Ich will damit sagen, dass nicht wahr ist, was in diesem Brief steht. Ich habe mir Rudi gegenüber nichts vergeben. Er hätte solch ein Opfer gar nicht angenommen, dazu hat er mich viel zu lieb. Er wollte doch nicht einmal den Brief schreiben. Ich habe ihn lange darum bitten müssen. Rein und unbescholten stehe ich vor dir. Rudi und ich sind niemals ohne Zeugen zusammen gewesen, ich habe ihn nur einige Male in einer kleinen Konditorei getroffen. Und da habe ich ihn, weil du uns deine Einwilligung nicht geben wolltest, eines Tages gebeten, er möge den Brief an mich schreiben, den ich ihm aufgesetzt hatte und der dich überzeugen sollte, dass ich durch ihn kompromittiert sei. Diesen Brief habe ich aus einem Roman abgeschrieben. Rudi war erst außer sich, er wollte es nicht tun – bis ich weinte und ihm sagte, er könne sich doch denken, dass ich so etwas nicht von ihm verlangen würde, wenn eine andere Möglichkeit bliebe, deinen Widerstand zu besiegen. Da hat er endlich eingewilligt. Und so habe ich dich dann mit dem, Brief überlistet, liebe Mama. Bitte sei nicht böse, dass ich dich so im tiefsten Herzen gekränkt habe! Du solltest ja später, wenn wir unser Ziel erreicht hatten, die Wahrheit erfahren.“
Frau Kommerzienrat Harder sah das Brautpaar zweifelnd an.
„Ist das auch wahr, Lotte?“
„Gnädige Frau, ich verbürge mich mit meinem Ehrenwort als Offizier für die Wahrheit dieser Worte. Glauben Sie Lotte. Ich war tief gerührt durch ihren beispiellosen Opfermut, den sie ihrem reinen Herzen abgerungen hat. Sie ist mir dadurch noch viel inniger ans Herz gewachsen. Glauben Sie mir, ich hätte dieses Heiligtum nie entweiht. Lotte ist mir so teuer, wie ein geliebtes Mädchen einem Mann nur lieb sein kann. Bitte, verzeihen Sie auch mir, dass ich in die kleine Komödie gewilligt habe!“
Frau Kommerzienrat Harder sah noch immer unruhig auf das Brautpaar. Da lief Lotte plötzlich aus dem Zimmer, kam nach wenigen Minuten wieder herein und trug ein Buch und einen Brief in der Hand. Sie schlug das Buch auf und legte den entfalteten Brief darauf und sagte: „Bitte, liebe Mama, vergleiche das! Hier, aus diesem Buch, schrieb ich den Brief ab. Es stimmt Wort für Wort.“ Die Mutter las. Und in ihrem Gesicht zuckte es seltsam. Unsicher sah sie empor zu den beiden jungen Menschen, die Hand in Hand vor ihr standen. Und da sanken ihre Zweifel zusammen. Härte und Strenge schmolzen dahin.
„Gottlob, ach gottlob! Nun habe ich doch mein Kind wieder, wie ich es immer gekannt habe, rein und stolz. Ich verzeihe euch die Täuschung – nun seid in Gottes Namen glücklich!“
Kronau musste zu Tisch bleiben, und seine erst so böse Schwiegermutter hatte sich plötzlich in eine gute Mutter verwandelt.
Das Brautpaar strahlte vor Glückseligkeit.
Kurz vor Tisch zog sich die Mutter auf ein Weilchen zurück und ließ das Brautpaar allein. Da warf sich Lotte in Kronaus Arme.
„Ach, Rudi, wie bin ich froh, dass diese Last nun von meinem Herzen ist. Diese letzten Tage waren furchtbar. Als ich Mutter den Brief zeigte, zitterte ich an allen Gliedern. Du glaubst nicht, wie entsetzt sie war. Und dann mein fürchterlicher Schrecken, als ich zu meiner Modistin kam und merkte, dass ich meine Handtasche verloren hatte.“
„Meine arme Lotte!“, sagte Kronau zärtlich.
Sie lächelte zu ihm auf. „Nun ist ja alles gut. Weißt du, ich ahnte gleich, dass ich die Tasche im Auto hatte liegen lassen. Aber wie sie dein Freund Ried darin gefunden hat, ist mir ein Rätsel. Ich sah doch, wie vor dem Haus meiner Modistin eine andere Dame das Auto bestieg.“
„Nun, diese, Dame wird eben die Handtasche nicht bemerkt haben. Wie ich durch vorsichtiges Forschen von Hasso erfuhr, hat er das Auto, das ihn an jenem Tag zur mir brachte, am Kurfürstendamm bestiegen. Bis dorthin hat es wahrscheinlich die Dame benutzt.“
„So wird es sein. Du kannst dir denken, welche Angst ich ausgestanden habe, als ich den Verlust der Tasche bemerkte. Und dann die Aufregung, als ich abends zu deinem Freund, Herrn von Ried, ging, um mir die Tasche abzuholen. Ich wusste doch nicht, dass er so ritterlich sein würde, mir gar nicht gegenüberzutreten.“
„Meine arme Lotti! Nie vergesse ich dir, was du für mich getan hast. Ein Glück war ja auch, dass Hasso dich noch gar nicht kannte, sonst hättest du trotz des Schleiers nicht zu ihm gehen können. Aber die Stunde, da ich dich auf diesem Weg wusste, möchte ich nicht noch einmal erleben. Ich war noch am Abend, als ich mit Hasso zusammen war, ganz aufgeregt, obwohl du mir mitgeteilt hattest, dass alles gut abgelaufen sei.“
Er nahm das Buch, das Lotte vorhin mit dem Brief herbeigeholt hatte. „Das musst du mir schenken. Immer wieder will ich lesen, was du aus diesem Buch für mich aufgeschrieben hattest. Aber den Brief, Lotti, wollen wir vernichten.“
Sie nickte, und er steckte das Buch zu sich und verbrannte den Brief an seinem Feuerzeug zu Asche.
***
Hasso von Ried war bei seinem Freund, Norbert Baron Platen, auf Schloss Neuhalden eingetroffen. Dies war eines der schönsten Schlösser im Taunus, und es war von herrlichen alten Waldungen umgeben.
Seinem Onkel hatte Hasso mitgeteilt, dass er sich am 16. April nach Südwest einschiffen und bis dahin als Gast bei seinem Freund Platen weilen würde.
Darauf hatte ihm der alte Herr in seiner knorrigen, unliebenswürdigen Weise geantwortet, dass seine Schulden gleich nach seiner Abreise bezahlt würden.
„Er will sicher gehen, dass ich auch wirklich abdampfe, sonst zahlt er nicht“, sagte Hasso, als sie an einem der ersten Abende bei einer Flasche Wein zusammensaßen.
Baron Platen blickte den Freund nachdenklich an. Langsam sagte er: „Ich will dir einen Vorschlag machen: Schreib deinem Onkel Isegrim, er soll sein Geld behalten und dir die Freiheit deines Tuns lassen.“
Hasso zuckte die Achseln. „Und wie kommen meine Gläubiger dann zu ihrem Geld?“
„Sehr einfach, ich strecke dir die Summe vor.“
„Und wann und wie soll ich sie dir zurückzahlen, mein lieber Norbert?“
„Wann und wie du willst. Vielleicht, wenn du eine gute Partie machst. Ein Mensch wie du, der braucht doch nur die Hand auszustrecken.“
Ernsthaft schüttelte Hasso den Kopf.
„Nee, nee, mein Lieber, da ist nichts zu machen. Lieber drille ich da unten schwarze Rekruten, als dass ich mich mit Leib und Seele verkaufe.“
„Du kannst dich aber doch auch regelrecht in eine Millionärin verlieben, wie es unser Freund Rudi getan hast.“
Hasso leerte das Glas. „Das galt Rudis Glück! Siehst du, Norbert, solche Glücksfälle kommen alle hundert Jahre nur einmal vor. Und für dieses Jahrhundert hat Rudi nun schon den Vogel abgeschossen.“
„Er scheint allerdings, seinen Briefen nach zu urteilen, in jeder Beziehung das große Los gewonnen zu haben.“
„Das scheint mir auch so.“
Platen seufzte und starrte in sein Glas, das er frisch gefüllt hatte. „Er ist ja auch in der beneidenswerten Lage, nicht danach fragen zu müssen, ob seine zukünftige Frau auch die nötige Ahnenzahl aufzuweisen hat. Ich darf zum Beispiel keine Bürgerliche heimführen, weil ich Majoratsherr bin und unser Hausgesetz eine bestimmte Ahnenzahl vorschreibt.“
„Du sagst das so seltsam schwerblütig, Norbert.“
Baron Platen sah starr vor sich hin. „Du wolltest ja schon immer wissen, warum ich voriges Jahr so plötzlich meinen Abschied nahm. Ich will es dir sagen: Weil ich hier in der Nähe von Wiesbaden leben und so oft wie möglich hinüberfahren wollte.“
„Nach Wiesbaden? Und warum das?“
„Weil da drüben in Wiesbaden ein liebes, reizendes Mädchen lebte, so ganz geschaffen, mich glücklich zu machen. Voriges Jahr im Mai lernte ich sie bei einer Reunion im Kurhaus kennen. Aber sie hieß schlichtweg Greta Keller und schien deshalb unerreichbar für mich zu sein. Trotzdem fuhr ich immer wieder hinüber. Wochenlang zerbrach ich mir den Kopf, was ich tun könnte, um sie dennoch zu meiner Frau zu machen. Ich musste eine Möglichkeit finden, die Majoratsgesetze zu umgehen. Ich liebte sie doch, und ich war sicher, dass auch sie mich lieben und geduldig auf mich warten würde. Aber ich habe mich geirrt. Eines Morgens las ich in der Zeitung, dass sie sich verlobt hatte – mit einem Dr. Alvensleben. Ich war wie vernichtet. Wie hatte ich mir den Kopf zergrübelt, um einen Weg zu finden, der uns dennoch zusammenführen könnte! Und ich glaubte, sie strebe diesem Ziel mit gleicher Sehnsucht zu. Stattdessen ging es ihr nur um eine baldige sichere Versorgung. Das kostet Herzblut, glaube mir.“
Hasso von Ried hatte dem Freund aufmerksam zugehört. Nun sah er ihn voll warmer Anteilnahme an.
„Armer Kerl! Nun verstehe ich dein gedrücktes Wesen, das auch durch deinen letzten Brief klang. Wenn ich dir nur helfen könnte!“
„Nein, nein, mir kann niemand helfen. Ich sitze hier und grüble und grüble und finde doch keine Antwort auf die Frage, warum sie mir das angetan hat. Ich gehe kaum noch aus meinem Schloss heraus und bin schon ganz menschenscheu geworden.“
„Das ist aber verkehrt, Norbert, du müsstest dich ablenken. Geh auf Reisen! Das lenkt ab.“
„Was soll ich draußen in der Welt unter lauter gleichgültigen Menschen?“
Hasso blickte den Freund besorgt an. „Du gefällst mir nicht, Norbert, du musst hier heraus. Komm doch mit nach Südwest! Du hast hier tüchtige Beamte, so weit ich es beurteilen kann. Hier wird inzwischen alles am Schnürchen gehen, und du kommst draußen auf andere Gedanken.“
Platen strich sich über die Stirn. „Die lange Seereise mit dir, die könnte mich schon locken. Ja, vielleicht wäre das eine Möglichkeit. Ich will es mir überlegen. Morgen Früh sollst du meine Entscheidung erfahren.“
Am nächsten Morgen erschien Platen wesentlich frischer beim Frühstück. Ein Lächeln lag sogar auf seinem Gesicht, als er Hasso begrüßte.
„Ich habe mir deinen Vorschlag überlegt, mein lieber Freund“, sagte er, „ich begleite dich nach Südwest.“
Hasso drückte ihm herzlich die Hand. „Das freut mich für dich und für mich.“
Die Freunde besprachen nun noch allerlei wegen der Reise und schrieben dann an Kronau, um ihm zu melden, dass Norbert nicht an seiner Hochzeitsfeier teilnehmen könne, weil er mit Hasso nach Südwest reise.
***
Am 16. April stach der Dampfer, der die beiden Freunde an Bord hatte, in See.
Am Morgen vor der Abfahrt war plötzlich Hassos Vetter Kurt an Bord gekommen, um Hasso noch einmal zu sehen. Er hatte ihm kräftig die Hand geschüttelt, und seine gutmütigen hellblauen Augen hatten ihn wie um Verzeihung flehend angesehen.
„Ich wollte dich nicht abreisen lassen, ohne dir Lebewohl zu sagen, Hasso. Mein alter Herr hat mir Urlaub geben müssen, obwohl er über die Reisekosten brummte. Du weißt ja, wie er ist. Das Sparen ist eine Marotte von ihm. Er meint es aber wahrhaftig nicht böse, lieber Vetter.“
Hasso lachte. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen Kurt, er hat das Recht, mit seinem Geld anzufangen, was ihm beliebt.“
„Ja, doch, aber manchmal ist es schon ein bisschen arg. Und siehst du, Hasso, ich habe da so einen kleinen Überschuss, ich brauche doch in Marwedel so gut wie nichts, weil ich einfach gar keine Gelegenheit habe, Geld auszugeben. Als mein Vater mich dir immer wieder als Muster eines sparsamen Wirtschafters hinstellte, habe ich mir gedacht, dass ich dir im Grunde durch diese unbeabsichtigte Sparsamkeit schaden könnte. So ganz langsam habe ich mir dann von Vater immer ein wenig mehr geben lassen und mir den Anschein gegeben, als verbrauche ich alles. In Wirklichkeit habe ich’s zurückgelegt, und – sei mir nicht böse – nun möchte ich, dass du die paar braunen Lappen von mir annimmst.“
Bei diesen Worten sah Kurt seinem Vetter treuherzig in die Augen. Wider Willen gerührt, blickte Hasso in das frische gutmütige Gesicht. „Lieber Kurt, du beschämst mich. Ich kann das wirklich nicht annehmen.“
Kurt sah ganz unglücklich aus. „Du wirst mich doch nicht beleidigen wollen, Hasso? Tu mir die Liebe an und nimm das Geld! Ich kann es nicht brauchen, und dir fehlt es an allen Ecken.“
Wieder musste Hasso lachen. „Wenn das dein Vater wüsste, Kurt!“
„Um Gottes willen! Vater darf natürlich nichts erfahren. Es tut mir bitter Leid, dass er dich wegen der verhältnismäßig kleinen Summe nach Südwest schickt.“
Hasso legte ihm die Hand auf die Schulter. „Guter Kerl! Aber sei ruhig, ich gehe im Grunde ganz gern nach Südwest, vielleicht wäre ich auch freiwillig einige Jahre hinuntergegangen. Also – gib den Mammon her! Und sei bedankt. Du bist wirklich ein grundguter Mensch. Ich glaube, ich habe dir in Gedanken manches abzubitten.“
Erfreut steckte Kurt ihm das Geld zu. „Wie froh bin ich, dass du es annimmst! Ich habe mich schwer herumgeplagt, bis ich mich damit herauswagte.“
Hasso rüttelte ihn ein wenig an der Schulter. „Ein Mann muss alles wagen, Kurt“, scherzte er.
„Ach ja, du hast gut reden, du kannst nicht begreifen, dass so ein baumstarker Kerl wie ich so verzagt sein kann. Aber du bist seit deiner frühesten Jugend immer selbstständig gewesen. Ich aber lebe unentwegt unter der Fuchtel meines Vaters. Da bin ich eben keine sehr energische Natur geworden.“
„Nein, das bist du wirklich nicht. Dein Vater behandelt dich noch heute wie einen unmündigen Jungen.“
Kurt lächelte verlegen. „Ich kann eben nicht ankommen gegen meinen alten Herrn. Na, lassen wir das! Um darüber zu jammern, bin ich nicht hier hergekommen. Ich wollte dir nur Lebewohl sagen und dir das Geld geben. Also, nicht wahr, in Zukunft darf ich dir schicken, was ich erübrige, und du erwähnst in deinen Briefen nie etwas davon?“
Gerührt drückte ihm Hasso die Hand. „Ich danke dir, Kurt.“
Die beiden Vettern wurden hier durch Platen gestört, mit dem sie nun plauderten, bis Kurt von Ried den Dampfer verlassen musste.
Die Vettern schüttelten sich nochmals die Hand. „Auf glückliche Wiederkehr, Hasso!“
„Alles Gute, Kurt. Und grüße deinen Vater und melde ihm, dass ich wirklich und wahrhaftig abgefahren bin.“
Noch ein letzter Händedruck, und die Vettern waren getrennt.
Nun fuhr der Dampfer schon auf hoher See dahin.
Lange hatten die Freunde an der Reling gestanden und auf das entschwindende Land hinübergesehen.
An einer abgelegenen Stelle sahen sie eine junge Dame stehen. Sie trug Trauerkleider und blickte gedankenverloren über das Meer.
Als Hasso die junge Dame erblickte, stutzte er und blieb stehen. Die Dame richtete in diesem Augenblick ihre schlanke Gestalt empor und wandte sich um. Hassos Augen weiteten sich in Erstaunen. Er trat schnell mit einer Verbeugung an sie heran.
„Mein gnädiges Fräulein, täuschen mich meine Augen nicht? Sie sehen mich überrascht, Ihnen an Bord dieses Dampfers zu begegnen.“
„Sie täuschen sich nicht, Herr von Ried. Ich bin aber ebenso erstaunt, Sie hier zu sehen.“
„Auf der Fahrt nach Südwest, mein gnädiges Fräulein. Aber Sie – ich sehe, Sie sind in Trauer. Haben Sie einen Verlust gehabt?“
Es zuckte leise um den Mund der jungen Dame. „Einen sehr schweren, Herr von Ried – meine Mutter starb vor einigen Wochen. Ich bin auch auf der Fahrt nach Südwest. Mein Bruder erwartet mich auf seiner Farm.“
„Gestatten Sie mir, Ihnen meine innige Teilnahme auszudrücken. Ich habe nichts vom Tod Ihrer Frau Mutter gehört, da ich seit Wochen von Berlin fort bin. Also, Sie wollen zu Leo reisen?“
„Ja.“
„Also haben wir ein Reiseziel. Aber nun gestatten Sie mir, Ihnen meinen Freund, Baron Platen, vorzustellen, der zugleich ein Freund und früherer Regimentskamerad Ihres Herrn Bruders war.“
Damit rief Hasso Norbert herbei, der abseits stehen geblieben war und die Dame in Trauer mit Interesse betrachtet hatte.
„Lieber Norbert, diese junge Dame ist die Freiin von Holms, die Schwester unseres Freundes Leo, die auch nach Südwest reist.“
Platen verneigte sich artig.
Lena von Holms lächelte. „Ihr Name ist mir nicht fremd, Baron Platen, mein Bruder hat ihn oft genannt und Sie als seinen Freund bezeichnet wie Herrn von Ried und Herrn von Kronau, die ich schon länger persönlich kenne.“
„Es freut mich, dass auch ich nun die Ehre und das Vergnügen habe, Sie kennen zu lernen. Wir haben in diesen Tagen viel von Leo gesprochen, hoffen wir doch, ihn wiederzusehen.“
Während dieser Worte betrachtete Platen voll Interesse das feine, liebliche Mädchengesicht. Der herbe Schmerzenszug um den jungen Mund und die traurigen Augen fesselten ihn.
„Oh, Leo wird sich sehr freuen, seine Freunde wiederzusehen. Sie werden doch wohl längere Zeit in Südwest bleiben, denn sicher sind Sie beide zur Schutztruppe kommandiert.“
„Nur mein Freund Ried. Ich selbst gehe sozusagen nur zum Vergnügen dorthin.“
Lena von Holms sah ihn erstaunt an. „Zum Vergnügen … nach Südwest?“, fragte sie ungläubig.
„Ist das so erstaunlich?“
Sie strich sich über die Stirn. „Für mich ist es erstaunlich. Ich – ich fürchte mich vor Südwest.“
Sie schauerte leise zusammen, und ihre sanften Augen blickten wie in Furcht.
„Und doch gehen Sie hin?“
„Es bleibt mir keine Wahl. Wenn mein Bruder nicht dort wäre, ginge ich freilich nicht hinunter. Aber besser in Südwest mit ihm als in Deutschland ganz allein. Ich bin eine schrecklich zaghafte Natur.“
Ihre Hilflosigkeit rührte Platen, und auch Hassos ritterliches Wesen erwachte.
„Sie müssen uns gestatten, Sie auf dieser Reise unter unseren Schutz zu nehmen, gnädiges Fräulein“, sagte er warm.
Sie neigte mit einem dankbaren Lächeln das Haupt. „Oh, wie gern! Ich habe mich vor der weiten Reise gefürchtet. Und mein Bruder wird sich freuen und Ihnen sehr dankbar sein. Er ist in großer Sorge, weil ich allein reisen muss. Aber er konnte mich nicht abholen. Abgesehen davon, dass er seine Farm nicht allein lassen darf, konnten wir uns auch nicht den Luxus doppelter Reisekosten leisten. Ich brauche ja kein Geheimnis daraus zu machen, dass wir in sehr bescheidenen Verhältnissen sind seit meines Vaters Tod. Sie wissen ja, dass Leo den Abschied nehmen musste, weil nach Vaters Tod der Zuschuss für ihn wegfiel. Zum Glück erbte Leo in jener Zeit gerade das kleine Kapital von einem Vetter meines Vaters, wofür er, um sich eine Existenz zu gründen, die Farm in Südwest kaufte.“
„Wir wissen das alles von Leo selbst, mein gnädiges Fräulein, und aus seinen letzten Nachrichten wissen wir auch, dass er jetzt anfängt, Erfolge zu verzeichnen. Jedenfalls freuen wir uns sehr, ihn wiederzusehen“, bemerkte Hasso. „Aber nun, glaube ich, ist es Zeit, zu Tisch zu gehen. Ich hoffe, Sie geben uns die Ehre, in unserer Gesellschaft zu Mittag zu speisen?“
Unschlüssig sah Lena die Herren an. „Meinen Sie, dass ich das ohne Ehrendame tun kann?“
„Sie stehen unter dem Schutz der Freunde und Regimentskameraden Ihres Bruders. Sicherer können Sie in keiner Gesellschaft sein“, erwiderte Hasso.
Sie richtete sich entschlossen auf. „Sie haben Recht, Herr von Ried, und ich begebe mich bedingungslos in Ihren Schutz.“
„Wir danken Ihnen für diese Auszeichnung, der wir uns würdig zeigen werden“, versicherte Platen mit einer Verbeugung. „Ich werde dem Steward gleich Order geben.“ Er verneigte sich und ging davon.
Hasso begleitete die junge Dame bis zu ihrer Kabine. Dort verabschiedete er sich mit einem: „Auf Wiedersehen bei Tisch!“
Im großen Speisesaal des Dampfers hatte Platen an einem günstigen Platz einen Tisch für drei Personen reservieren lassen. Am Eingang des Saales erwarteten die beiden Freunde Lena von Holms. Baron Platen hielt einen Blumenstrauß in der Hand, den ihm der Steward besorgt hatte.
Als Lena erschien, überreichte er ihr artig die Blumen. Sie nahm sie dankend, aber ein wenig verlegen, und sagte befangen: „Solche Galanterien müssen aber aus unserem Verkehr ausscheiden, Baron.“
Er sah sie bittend an. „Nur heute zur Einleitung unseres hoffentlich freundschaftlichen Verkehrs habe ich mir erlaubt, diesen Begrüßungsstrauß zu überreichen. Unsere kleine Tafel soll doch nicht ganz des Blumenschmucks entbehren.“
Sie reichte ihm die Hand. „Ich weiß schon, dass es gut gemeint ist, und ich danke Ihnen.“
Die beiden Herren führten Lena zu dem reservierten Tisch hinüber. Der größte Teil der Passagiere hatte schon im Speisesaal Platz genommen. Man sah interessiert den drei Personen nach, und die Damen beneideten Lena um ihre beiden Kavaliere, die entschieden die interessantesten Erscheinungen an Bord waren. Hauptsächlich Hasso von Ried wurde von sehnsüchtigen Frauenaugen verfolgt.
Aber weder er noch die beiden anderen an seinem Tisch nahmen vorläufig sonderlich Notiz von ihrer Umgebung. Sie plauderten angeregt miteinander.
Lena Augen belebten sich unter den Bemühungen der beiden Herren, sie aufzuheitern. Und zuweilen huschte sogar ein Lächeln um ihren ausdrucksvollen Mund, sodass die Leidenslinie verwischt wurde.
Platen gefiel dieses Lächeln sehr. Er freute sich, wenn es erschien, und suchte es immer wieder hervorzurufen. Dabei wurde er von seinem eigenen Herzweh wohltätig abgelenkt. Überhaupt – Lena erschien ihm reizend in ihrer sanften Hilflosigkeit. Und er wich im Verlauf des Tages kaum von ihrer Seite. Zwar bemühte sich auch Hasso eifrig um Lenas Wohl, aber er überließ doch dem Freund willig den Hauptanteil an ihrer Gesellschaft.
Im Verlauf der Reise änderte sich das nicht, die beiden kamen sich von Tag zu Tag näher. Sie fanden viele gemeinsame Berührungspunkte, harmonierten hervorragend in ihren Ansichten und Lebensanschauungen und wussten einander zu fesseln und zu interessieren.
Mit innigem Vergnügen sah Hasso, dass sich Norberts Miene mehr und mehr aufhellte. Er sah, dass der Freund sehnsüchtig nach Lena Ausschau hielt und wie er ihr erfreut entgegeneilte, wenn sie erschien. Und mit großer Genugtuung bemerkte er, dass Lena errötete, wenn ihre Augen mit denen Norberts zusammentrafen.
Natürlich schloss man im Verlauf der Reise noch allerlei Bekanntschaften mit den anderen Passagieren des Schiffes. Es war nicht durchweg gute Gesellschaft, und eine gewisse Zurückhaltung schien geboten.
Die auffallendsten Erscheinungen der Reisegesellschaft waren der Sohn eines millionenschweren Kommerzienrats mit seiner Frau. Herr Deckmann hieß er und erzählte jedem, der es hören wollte, dass er in Südwest die schönste und größte Luxusfarm besaß.
Er war ein wohlgenährter Herr mit lebhaften Bewegungen und einem beängstigend funktionierenden Mundwerk.
Auf seine Frau war er sehr stolz. Sie war auch tatsächlich eine blendend schöne Erscheinung von lebhaftem, rassigem Temperament.
Sie kokettierte mit großer Leidenschaft und verschoss vornehmlich ihr Pfeile auf Hasso, der es ihr angetan zu haben schien.
Aus Langeweile ging Hasso am Anfang ein wenig auf das Spiel ein. Aber als er merkte, dass die temperamentvolle Frau aufs Ganze ging, wurde er vorsichtig und hielt sich von ihr zurück. In seiner Arglosigkeit sorgte aber Herr Deckmann selbst immer wieder dafür, dass Hasso mit seiner Frau zusammentraf.
Auch ließ er Hasso und Baron Platen nicht eher in Ruhe, bis sie ihm versprachen, ihn auf seiner Farm zu besuchen.
Schließlich setzte es Herr Deckmann auch durch, dass er und seine Frau mit Lena von Holms bekannt gemacht wurden. Dabei stellte sich heraus, dass die Ilonafarm in nächster Nachbarschaft von Holmseck lag. Herr Deckmann kannte Herrn von Holms sogar persönlich und hatte nachbarliche Geschäfte mit ihm. Natürlich vergaß Herr Deckmann nicht zu bemerken, dass sich Holmseck in keiner Weise mit der Ilonafarm messen könne, es sei ja nur eine kleine Farm, aber sie schiebe sich wie ein Keil in seine eigenen Besitzungen, und er habe ein scharfes Auge darauf, falls Herr von Holms eines Tages verkaufen wolle.
Immerhin hatte Herr Deckmann noch so viel Takt, dass er dies nur in Lenas Abwesenheit Hasso gegenüber bemerkte.
Im Übrigen attackierte er Lena ebenfalls mit einer Vertraulichkeit, als sei er der intimste Duzfreund ihres Bruders. Lena war ihm gegenüber ganz hilflos und sah Platen oft an, als wollte sie sagen: „Erlöse mich von dem Übel.“
***
Die Freifrau von Hartenfels lebte nun schon seit Monaten mit ihrer Tochter Carry wieder auf ihrem Gut. Wenn sie ihren Mutterpflichten genügt und ihre Tochter im Winter in Berlin in Gesellschaft geführt hatte, fühlte sie sich jedes Mal umso behaglicher, wenn sie wieder heimgekehrt war.
Und Carry hatte dasselbe Empfinden. Es war ja immer ganz unterhaltsam und interessant in Berlin, man lernte eine Menge interessanter Menschen kennen; aber dafür kam man auch die ganze Zeit nicht zur Besinnung auf sich selbst.
So war auch Carry zufrieden, dass sie wieder in ihrer Heimat war, die in einer der herrlichsten Gegenden des deutschen Landes lag – im Harz.
Gleich nach ihrer Heimkehr nahm Carry ihre Morgenritte wieder auf. Ganz allein streifte sie dann auf ihrem Goldfuchs durch den herrlichen Wald, der sich zwischen Hartenfels und Marwedel erstreckte.
Zwischen den beiden Besitzungen lag ein hoher bewaldeter Berg, der gleichsam eine natürliche Grenze bildete. Die Waldungen an der nördlichen und östlichen Bergseite gehörten zu Marwedel und die an der südlichen und westlichen Seite zu Hartenfels. Vom Plateau dieses Berges aus sah man Schloss Marwedel mit seinen sieben Türmen liegen und auch das lang gestreckte Herrenhaus von Hartenfels mit seiner hübschen, blumengeschmückten Fassade, seiner breiten Terrasse und den hohen Glastüren, die auf die Terrasse mündeten.
Schloss Marwedel machte keinen so freundlichen Eindruck, obwohl es ein imposanter, malerischer Bau war. Es sah aus, als wohnten keine frohen Menschen hier. Die meisten Fensterläden waren geschlossen – man sparte in Marwedel auch mit der Dienerschaft.
In Marwedel führte an Stelle der längst verstorbenen Schlossherrin Frau Wohlgemut, eine etwas mürrische, wenn auch überaus tüchtige Haushälterin, das Regiment, so weit es Herr von Ried zuließ.
Frau Wohlgemut und Herr von Ried lebten permanent auf dem Kriegsfuß.
Zwischen diesen beiden Gewitterelementen stand Kurt von Ried als gutmütiger Vermittler, immer nach beiden Seiten begütigend und dafür von hüben und drüben nur Grobheiten erntend.
Am Tag nach seiner Rückkehr von Hamburg, wo er seinem Cousin Hasso Lebewohl gesagt hatte, ritt Kurt in früher Morgenstunde aufs Feld hinaus. Da gab es jetzt alle Hände voll zu tun. Sein Vater, dessen einzige Lebensfreude der Genuss guter Weine und schwerer Importen war, hatte wieder einmal das Zipperlein und konnte nicht ausreiten.
Nachdem er seine Pflichten erfüllt und die Leute auf den Feldern inspiziert hatte, machte er sich wieder auf den Heimweg. Mitten im Wald sah er eine schlanke Reiterin auf einem Goldfuchs auf sich zukommen. Sein Herz jauchzte auf. Er erkannte Carry von Hartenfels.
Schnell war er an ihrer Seite und zog die Reitmütze von dem blonden Haarschopf. „Guten Morgen, Fräulein Carry! Habe ich heute ein Glück!“
„Guten Morgen, Herr von Ried. Was macht Sie denn so glücklich?“, sagte sie lächelnd.
„Natürlich, die Begegnung mit Ihnen. Wie geht es Ihnen?“
„Famos, wie immer.“
„Haben Sie sich nun wieder ein wenig an unsere ländliche Stille gewöhnt nach den Berliner Tagen?“
„Mir ist, als sei ich nie fort gewesen.“
„Wirklich? Sind Sie gar kein bisschen anders wiedergekommen, als Sie fortgegangen sind?“
Es erging Carry bei dieser Frage seltsam. Auch jetzt musste sie an den jungen Offizier denken, der ihr Armband vom Türgriff gelöst hatte und dessen Erscheinung einen so nachhaltigen Eindruck auf sie gemacht hatte, ohne dass sie ihn kannte. Sie zürnte sich selbst, dass sie so viel an ihn denken musste. Immer wieder sah sie sein energisches, charakteristisches Gesicht vor sich und fühlte den Blick seiner Augen, die unter der kantigen Stirn hervorgesehen hatten. So deutlich erinnerte sie sich seiner, dass sie sein Gesicht hätte malen können.
Sie sagte trotz dieser Erinnerung ruhig: „Genauso bin ich wiedergekommen.“
Er atmete auf. „Gottlob! Ich hatte große Angst, dass Sie sich in Berlin verloben würden. Nun kann ich doch wieder einige Monate in Ruhe leben.“
Carrys Gesicht rötete sich unwillig. „Lieber Freund, wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass dieses Thema zwischen uns nicht mehr berührt werden soll.“
„Aber Fräulein Carry, ich will ja nur ganz im Stillen hoffen, dass Sie eines Tages Ihren Widerstand aufgeben werden.“
„Sie sollen sich aber keine Hoffnungen machen, ich habe es Ihnen ausdrücklich gesagt.“
Er sah sie mit seinen hellblauen Augen treuherzig an.
„Ja, ja, gesagt haben Sie es mir ganz deutlich. Aber ohne diese stille Hoffnung könnte ich gar nicht leben. Und ich weiß, trotz Ihrer Abwehr, dass sie sich doch eines Tages erfüllen wird. Sie wissen doch, liebes Fräulein Carry, was uns vorigen Sommer die Zigeunerin gewahrsagt hat, die auf dem Mieritzer Jahrmarkt war.“
Carry schnippte mit ihrer Reitpeitsche nach einem Zweig, der über ihr hing. „Aber Herr von Ried, solchen Humbug werden Sie doch nicht glauben!“
„Doch, ich glaube daran, es war ganz seltsam und wunderbar.“
„Ach, Unsinn, es war eine schlaue Gauklerin, die sich hier in der Gegend umgesehen hatte.“
„Vielleicht. Vielleicht aber besaß sie auch wirklich die Gabe des Hellsehens. Und weil sie uns etwas wahrsagte, was mich sehr glücklich machte, warum soll ich nicht daran glauben? Wissen Sie noch den Wortlaut der Prophezeiung?“
Unwillig schüttelte Carry den Kopf.
„Nein, wozu sich so etwas merken?“
„Ich habe es mir wörtlich gemerkt. Darf ich es Ihnen wiederholen?“
„Meinetwegen, wenn es Ihnen Vergnügen macht.“
„Sehr großes Vergnügen. Also Ihnen hat sie prophezeit: Ihr Schicksalsweg wird Sie führen über einen Berg in das große Schloss mit den sieben Türmen. Dort werden Sie Herrin sein und glücklich leben bis ans ferne Ende Ihrer Tage.“
„Wie tiefsinnig! Sicher hat sie ganz genau gewusst, wer wir sind, und sich die Szenerie genau angesehen – und ihre Leute auch“, spottete sie.
Er lächelte und sah sie voll Entzücken an. „Spotten Sie nur. Ich glaube daran. Über dem Berg liegt Schloss Marwedel, und es hat sieben Türme. Und eines Tages werden Sie dort als Herrin einziehen, liebe Carry. Die Zigeunerin hat ja auch mir prophezeit. Sie hat mir gesagt: Bis zu Ihrer Todesstunde wird die Frau bei Ihnen sein, die Sie lieben, und sie wird Sie küssen und Ihre Hände halten und wird über Ihren Tod weinen. – Sehen Sie wohl, Carry, Sie werden bestimmt eines Tages meine Frau werden.“
Sie zuckte die Achseln und seufzte tief auf.
Sie ritten nebeneinander dahin. Kurt von Ried bot nie eine elegante Erscheinung, aber neben der schlanken vornehmen Reiterin wirkte er doppelt unvorteilhaft.
„Sie waren in Hamburg?“, fragte Carry, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
„Ja, ich habe meinem Cousin Lebewohl gesagt.“
Carry dachte daran, dass ihre Mutter für den Vater dieses Cousins geschwärmt hatte. „Er ist also wirklich nach Südwest abgereist?“
„Ja. Vater hat ihm leider keine Wahl gelassen.“
„Ist es ihn sehr schwer angekommen?“
„Ich weiß es nicht.“
„Schade, dass ich ihn nicht kennen lernte.“
Kurt sah eine Weile nachdenklich in Carrys Antlitz. Er musste plötzlich denken, dass Carry in ihrer vornehmen, stolzen Art viel besser zu Hasso passen würde als zu ihm. Und bei aller Gutmütigkeit atmete er auf bei dem Gedanken, dass der Cousin jetzt auf zwei Jahre verbannt war. In dieser Zeit konnte ihn Carry unmöglich kennen lernen. Und das war gut so.
Er war aber eine viel zu offene und ehrliche Natur, um damit hinter dem Berg zu halten. Er rückte die Mütze aus seiner Stirn, als sei ihm zu heiß, und sagte: „Wissen Sie, Fräulein Carry, mein Cousin ist der einzige Mann, der Ihnen meiner Ansicht nach gefährlich werden könnte, und deshalb bin ich froh, dass Sie ihm noch nicht begegnet sind und ihm jetzt nicht mehr begegnen können.“
Sie lachte hell auf. „Vielleicht missfällt er mir gründlich, wenn ich ihn eines Tages kennen lerne.“
„Hoffentlich! Ich gönne meinem Cousin alles, meinetwegen das ganze Majorat – nur eines nicht. Sie wissen, was ich meine.“
„Fangen Sie schon wieder damit an?“
„Ich bin ja schon still. Darf ich heute Nachmittag eine Tasse Tee in Hartenfels trinken?“
„Mama wird sich freuen.“
„Und Sie?“
„Ich mich natürlich auch, wenn Sie als guter Freund kommen.“
„Ich werde mich bemühen.“
„Gut. Dann sage ich Ihnen jetzt ‚Auf Wiedersehen!’, denn hier trennen sich unsere Wege.“
„Sie schicken mich schon fort?“
Carry lachte. „Ich bin der Ansicht, dass Sie sich als guter Sohn einmal nach Ihrem kranken Vater umsehen müssen. Wenn Sie mich noch weiter begleiten, müssen Sie einen zu großen Umweg machen.“
„Aber, das ist nicht schlimm, ich könnte ja über den Berg reiten“, sagte er halb ernst, halb scherzend.
„Dann würde mir Ihr armes Pferd Leid tun.“
„Also dann muss ich Ihnen ‚Lebewohl’ sagen und ‚Auf Wiedersehen’!“
Sie reichte ihm die Hand. „Auf Wiedersehen. Bitte, grüßen Sie Ihren Herrn Vater!“
„Das will ich tun.“
***
Der Dampfer, den Hasso von Ried mit seinem Freund Platen benutzt hatte, war fahrplangemäß in Swakopmund eingelaufen. Lena von Holms wurde hier von ihrem Bruder erwartet. Die Geschwister begrüßten sich mit großer Herzlichkeit. Sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen.
Hasso und Platen sahen dieser Begrüßung zu, hielten sich aber vorläufig zurück, um dieses Wiedersehen nicht zu stören.
Lena machte den Bruder dann erst lächelnd auf die beiden Herren aufmerksam. Er stutzte, und dann gab es ein frohes Begrüßen.
Leo von Holms war eine sympathische schlanke Erscheinung mit einem gebräunten Gesicht, dessen markante Züge zähe Willenskraft verrieten.
Er sorgte nun umsichtig für die Weiterbeförderung des Gepäcks, dirigierte Treumann und führte die Schwester und die Freunde in ein Hotel, wo sie alle bis zum nächsten Tag bleiben wollten. Lena begab sich gleich in ihr Zimmer, um sich umzukleiden, während sich Hasso telefonisch bei der Schutztruppe in Windhuk meldete. Baron Platen und Leo blieben allein im Hotelsalon zurück.
Während sich Platen eine Zigarette anzündete, sagte Leo: „Ich habe von Lena gehört, wie nett ihr euch ihrer auf der Überfahrt angenommen habt. Hasso habe ich schon meinen Dank dafür ausgesprochen. Nun lass du ihn dir auch gefallen.“
„Aber ich bitte dich, Leo, wir haben doch zu danken. Die Gesellschaft des gnädigen Fräuleins hat uns die Reise sehr angenehm gemacht. Wir haben herrliche Tage auf dem Dampfer verlebt.“
„Das behauptet meine Schwester auch; nun wird es ihr desto weniger auf meiner einsamen Farm gefallen.“
„War es nicht ein wenig gewagt, sie in diese neuen und sicher sehr schwierigen Verhältnisse zu verpflanzen?“
Leo seufzte auf. „Leichten Herzens habe ich sie nicht hierher kommen lassen, Norbert, das kannst du mir glauben. Aber was sollte ich tun? Ich konnte sie doch nicht in Deutschland lassen, arm und schutzlos, wie sie ist. Da habe ich von zwei Übeln das kleinere gewählt. Es macht mir schwere Sorge, wie sie sich hier eingewöhnen wird. Sie ist mit ihrem weichen, sensitiven Gemüt so gar nicht für dieses strapaziöse Leben geschaffen.“
Platen atmete schwer. „Armes Kind! Sag mal, Leo, seid ihr auf deiner Farm wenigstens vor Überfällen sicher?“
„Unbedingt. Allerdings gibt es immer mal Unannehmlichkeiten mit der schwarzen Dienerschaft. Die Leute sind faul und müssen immer streng gehalten werden. Und das wird Lena nie lernen. Sie ist viel zu weichmütig, und infolgedessen werden ihr die schwarzen Kerle viel zu schaffen machen. Da werde ich überall nachhelfen müssen.“
„Alles in allem habt ihr also hier ein schweres Leben.“
Leos Augen leuchtete aus dem schmalen, sehnigen Gesicht. „Leicht ist es nicht, aber ich bin zufrieden, weil ich weiß, dass ich von Tag zu Tag vorwärts komme. Und ich bin Herr auf meiner Scholle. In Deutschland hätte ich es mit meinen paar tausend Mark nicht so weit gebracht.“
„Und gedenkst du, nun immer hier zu bleiben?“
Gedankenverloren sah Leo vor sich hin. „Mein Ziel ist, meine Farm so zur Blüte zu bringen, dass ich sie in einigen Jahren gut verkaufen kann. Und dann kehre ich nach Deutschland zurück und kaufe mir eine idyllische Klitsche, auf der ich meinen Kohl bauen kann. Das ist mein Ideal! Für immer, nein, für immer möchte ich hier nicht bleiben.“
Platen sah ihm voll Wärme in die Augen. „Du imponierst mir, Leo, bist doch ein ganzer Kerl! Und wenn du dein Ziel erreicht hast und nach Deutschland zurückkehrst, dann klopfe doch zuerst mal bei mir an. Ich habe da von mütterlicher Seite her ein Gütchen geerbt, das wohl gerade für dich passen würde. Ich möchte es gelegentlich verkaufen, weil es von meinen anderen Besitzungen zu entfernt liegt. Das sollst du aus alter Freundschaft billig haben. Es liegt im schönsten Teil des Thüringer Waldes. Ein tüchtiger Wirtschafter, der seine Augen selbst überall hat, kann daraus etwas machen.“
Leo sah ihn mit strahlenden Augen an. „Das will ich mir merken – und verwahre es mir so lange! Aber nun mal auf das Zunächstliegende. Hasso sagte mir, dass du kein festes Reiseziel hast. Willst du nicht mit uns nach Holmseck kommen? Viel Komfort kann ich dir nicht bieten, aber vielleicht gefällt es dir doch bei uns. Du bekommst jedenfalls ein getreueres Bild von Südwest in Holmseck als hier.“
Platen zögerte. Dann aber richtete er sich entschlossen auf. „Gut, Leo, ich komme mit nach Holmseck und nehme deine Gastfreundschaft an.“
Sie plauderten nun über andere Dinge, bis Lena herunterkam. Beide Herren erhoben sich.
Baron Platen beugte sich über ihre Hand und küsste sie. „Mein gnädiges Fräulein, Leo hat mich eingeladen, längere Zeit in Holmseck zu verweilen. Ich habe zugesagt. Darf ich hoffen, dass ich Ihnen nicht ungelegen komme?“
Er sah, dass sie leise zusammenzuckte und dass eine jähe Röte in ihr Gesicht stieg. Goldene Lichter zuckten in ihren Augen auf.
„Sie dürfen nicht zweifeln, Baron Platen, dass ich mich, gleich meinem Bruder, herzlich über Ihren Besuch freuen werde“, sagte sie mit verhaltener Stimme, durch die eine leise Erregung zitterte.
„Wirklich? Tun Sie das?“, fragte er, und es wurde ihm warm ums Herz.
Sie nickte. „Es ist allerdings viel Egoismus in meiner Freude. Wenn Sie in Holmseck sind, werde ich zwei Beschützer haben. Ich bin ein großer Angsthase.“
„Ich bin stolz und froh, dass Sie mich als Beschützer akzeptieren“, erwiderte Platen lächelnd.
Kurz vor der Abendmahlzeit erschien auch Hasso wieder bei den Freunden. In kurzen Worten berichtete er, was ihm der Kommandeur der Schutztruppe mitgeteilt hatte. Der wilde Stamm der Bergdamaras hatte vor zwei Tagen im Inneren des Landes eine Missionsstation überfallen, sie geplündert, in Brand gesteckt und die Bewohner gefangen genommen. Ein Teil der Schutztruppe sei mobilisiert worden, um morgen zu einer Strafexpedition aufzubrechen.
Hasso hatte sich sofort freiwillig dazu gemeldet.
„Und dein Bursche Treumann?“, fragte Baron Platen.
„Geht mit mir.“
„Hoffentlich kehrt ihr beide gesund wieder.“
„Wie es das Schicksal will, Norbert.“
***
Über drei Monate war Hasso mit seinen Kameraden schon auf dem Kriegspfad. Die räuberischen Bergdamaras hatten es lange verstanden, die Truppe auf Irrpfade zu locken. Unsagbare Strapazen hatten die Leute zu erdulden. Am meisten litten sie unter dem quälenden Durst.
Auch die Nahrungsmittel wurden knapp. Demzufolge herrschte eine ernste Stimmung bei der Truppe.
Die Leute sahen alle mager und abgezehrt aus, und aus den fieberglänzenden Augen leuchtete das Elend. Aber als endlich der Feind aufgespürt war, wurde auch der alte Siegeswille wieder wach.
Die Bergdamaras hatten sich verrechnet, als sie sich endlich dem Gegner stellten. Sie glaubten, eine ermattete, willenlose Mannschaft vor sich zu haben. Stattdessen sahen sie sich zielbewussten Männern gegenüber. Es kam zu einem regelrechten Kampf, der nach kurzer Zeit den Sieg in die Hände der Soldaten brachte.
Zum Glück fand man bei dem räuberischen Stamm im Lager genügend Trinkwasser und Nahrungsmittel. Die erschöpften Mannschaften konnten sich erquicken.
Und nun konnte man endlich an die Rückkehr denken.
Hasso richtete es so ein, dass sie auf ihrem Rückmarsch nach Windhuk in Holmseck vorüberkamen. Er wollte die Freunde wiedersehen und auch seinen Kameraden einen Rastplatz nach den überstandenen Strapazen gönnen.
Es war Mitte Oktober, als sie Holmseck erreichten.
Hasso von Ried war mit seinem Burschen und einigen Leuten vorausgeritten, um in Holmseck Verpflegung zu erbitten, denn die erbeuteten Vorräte waren wieder aufgezehrt. Hasso hatte sich, wie alle seine Kameraden, sehr verändert. Er war, schlanker und sehniger geworden, und die Züge seines Gesichts hatten sich verschärft.
Nun brannten seine Augen erwartungsvoll aus dem schmalen Gesicht. Wie würde er die Freunde wiederfinden? War Norbert noch in Holmseck? Als er mit seinen Leuten am Wohnhaus hielt, kam eine schwarze Dienerin aus der Tür.
„Ist dein Herr zu Hause?“, fragte Hasso.
Die Dienerin nickte und sagte in gebrochenem Deutsch, dass die Herrschaften gerade bei Tisch säßen.
Inzwischen waren aber die Geschwister auf die ungewöhnliche Unruhe vor dem Haus aufmerksam geworden und kamen, gefolgt von Baron Platen, vor das Haus.
Sie stutzten und sahen einen Moment zweifelnd auf den überschlanken Offizier in der ziemlich mitgenommenen Uniform. Dann erkannten sie ihn und stürzten auf ihn zu.
„Hasso!“
„Herr von Ried!“
„Bist du es wirklich, Hasso?“
So riefen sie durcheinander. Platen riss den Freund vom Pferd herab in seine Arme. Auch Leo umarmte ihn, und aus Lenas Augen stürzten Tränen.
Sie umringten alle drei den Zurückgekehrten und führten ihn ins Haus.
Hasso entledigte sich, der Kameraden gedenkend, seines Auftrages. Leo gab sofort Befehl, eine gute kräftige Mahlzeit zu bereiten.
Während die Dienerin davoneilte, um den Befehl auszuführen, musste sich Hasso mit zu Tisch setzen. Lena legte ihm die besten Bissen vor, und er schmauste mit Behagen. Seine Begleiter erhielten ebenfalls Speise und Trank.
Nachdem Hasso den ersten Hunger gestillt hatte, musste er erzählen. Die Freunde folgten seinem Bericht mit großer Aufmerksamkeit.
Als die Kameraden in Holmseck eintrafen, war alles zu ihrer Bewirtung bereit. Mannschaften und Pferde sollten Rast halten bis zum nächsten Tag.
Gleich nach der Mahlzeit warfen sich die Leute zur Ruhe nieder, sofern sie nicht über die Gefangenen zu wachen hatten. Die Offiziere saßen mit den Geschwistern und Platen im Wohnzimmer. Nach dem Essen zog sich Lena zurück, um die Herren allein zu lassen.
Sie setzte sich draußen auf die Veranda. Die Sonne schien hell und warm herab. Lena nahm ihre Handarbeit. Aber ihre Gedanken flogen wie unruhige Vögel umher. Sie war schon lange Zeit aus ihrem seelischen Gleichgewicht. Platen war ihrer Herzensruhe sehr gefährlich geworden. Sie liebte ihn mit großer Innigkeit und hätte kein Weib sein müssen, wenn sie nicht gemerkt hätte, dass auch er ihr innig zugetan war.
Und als sie nun über ihre Handarbeit gebeugt saß, öffnete sich die Tür, die auf die Veranda hinausführte, und der, an den sie eben so intensiv gedacht hatte, trat heraus. Er blickte sich suchend um, und als er sie erblickte, kam er schnell herbei.
„Störe ich, Fräulein Lena?“, fragte er.
Sie schüttelte errötend den Kopf. „Nein, Sie stören nicht, Baron.“
„Darf ich Ihnen ein Weilchen Gesellschaft leisten?“
„Wenn Sie es nicht vorziehen, in Gesellschaft Ihrer Freunde zu bleiben.“
„Nein“, sagte er und setzte sich zu ihr. „Es drängt mich, Ihnen etwas zu sagen, was ich Ihnen gern schon lange gesagt hätte. Ich habe es nur noch nicht getan, weil ich nicht an mein eigenes Glück denken wollte, solange ich meinen Freund Hasso in Gefahr wusste. Und – noch etwas hat mich so lange zögern lassen – ich wollte Gewissheit, haben, dass meine Empfindungen tief und stark genug sind, um für ein ganzes Leben auszureichen. Darf ich Sie ganz offen sprechen?“
Unsicher und fragend sah sie ihn an. „Sprechen Sie“, bat sie leise.
Da nahm er ihre Arbeit sanft aus ihren Händen und hielt ihre Rechte in der seinen fest.
„Sie müssen mich dabei ansehen, Lena. Als ich nach Südwest ging, geschah es, um den Erinnerungen an ein schmerzliches Herzenserlebnis zu entfliehen. Dann lernte ich Sie kennen, und Ihre liebe, feine, stille Art heilte meine Schmerzen wie durch ein Wunder. Schon auf der Reise wurden Sie mir teuer, aber ich misstraute meinem Gefühl und wollte ihm nicht vorzeitig Worte geben. Nun weiß ich längst, Lena, dass Sie das Andenken an die andere völlig verwischt haben, weiß, dass ich Sie von ganzem Herzen liebe. So frage ich Sie nun: ‚Wollen Sie meine Frau werden, wollen Sie mit mir nach Deutschland zurückkehren?’ Nicht wahr, Lena, ich habe mich nicht getäuscht – Sie haben mich auch lieb?“
Ihre Hand ruhte bebend in der seinen. Sie sah mit großen Augen ernst und innig in die seinen.
„Sie haben sich nicht getäuscht. Ich habe Sie von Herzen lieb, lange schon, ich glaube vom ersten Tag an, da ich Sie kennen ernte.“
Er sprang auf und zog sie zu sich empor in seine Arme. „Lena! Meine Lena!“
Glückselig presste er seine Lippen auf die ihren. So standen sie lange Zeit beieinander und sahen sich an und küssten sich – bis plötzlich die schwarze Dienerin vor ihnen stand, als sei sie aus dem Boden gewachsen. Sie grinste die beiden jungen Menschen vergnügt an.
Lena schrak zusammen. Sie wollte im ersten Schrecken einfach davonlaufen. Norbert hielt sie fest.
„Hier geblieben, Herzensschatz, jetzt musst du dich vor aller Welt zu mir bekennen. Ich will dich da drin als meine Braut vorstellen. Unsere Verlobung soll gebührend gefeiert werden.“
Lena zögerte und strich sich verwirrt das Haar aus der Stirn. „Liebster, geh du allein zu ihnen hinein. Ich fürchte mich ein wenig vor den fragenden Augen der fremden Herren. Du weißt ja, was ich für ein Hasenfuß bin.“
Er küsste sie noch einmal, und sie lief schnell davon in ihr Zimmer, um ein Weilchen mit sich und ihrem Glück allein zu sein.
Norbert trat ins Wohnzimmer zu den anderen, die noch bei Wein und Zigaretten saßen. Still setzte er sich zu ihnen.
Nach einer Weile erhob sich einer der Offiziere. „Verzeihung, Herrschaften, aber ich muss jetzt ein paar Stunden schlafen, ich bin todmüde.“
Die anderen, außer Hasso, erhoben sich ebenfalls.
Hasso blieb noch bei den Freunden zurück. „Nun erzählt mir, was ihr inzwischen getrieben habt“, bat er.
Norbert erhob sich. „Lasst mich euch erst eine Eröffnung machen. Ich wollte vor den anderen nicht damit herauskommen. Ich habe mich vorhin mit deiner Schwester Lena verlobt, Leo.“
Leo schmunzelte. „Als ob ich nicht längst so etwas erwartet hätte. Ich hätte ja blind sein müssen!“ Fest drückte er Norberts Hand. „Mach sie glücklich, alter Junge! Sie verdient es.“
Herzlich beglückwünschte nun auch Hasso den Freund.
„Und wo ist Lena?“, fragte der Bruder.
Norbert erzählte lächelnd von ihrer Scheu, sich den Fremden als neu verlobte Braut zu zeigen.
Lebhaft plauderten die drei Herren über das frohe Ereignis. Und währenddem trat Lena schüchtern ein. Sie hatte vernommen, dass die anderen Herren sich zurückgezogen hatten.
Leo umarmte seine Schwester. „Meine liebe alte Deern, nun wirst du mich bald wieder verlassen. Für dich freut es mich – aber für mich tut es mir Leid.“
Sie streichelte seine Hand. „Lieber Bruder, wenn du doch gleich mit uns zurückkommen könntest.“
„Lena hat Recht“, bemerkte Norbert, „komm doch mit uns zurück in die Heimat! Du kannst mein Gut schon jetzt übernehmen und zahlst es mir ab, wie es dir passt. Deine Farm kannst du doch durch einen Agenten verkaufen.“
Leo schüttelte den Kopf. „Nein, so geht das nicht. Es würde hier alles drunter und drüber gehen, und in kurzer Zeit wäre die Farm verloddert und meine jahrelange Arbeit zunichte gemacht. Ich bleibe, bis ich mein Ziel erreicht und Holmseck für den von mir erstrebten Preis verkauft habe.“
Nun trat Hasso an Lena heran und fasste ihre Hand, um sie an die Lippen zu ziehen. „Mein gnädiges Fräulein, ich hatte schon auf unserer gemeinsamen Reise eine leise Ahnung, dass Sie vom Schicksal bestimmt seien, Baronin Platen zu werden. Es freut mich herzlich, dass sich meine Ahnung erfüllt hat. Gestatten Sie mir, Ihnen von ganzem Herzen Glück zu wünschen.“
„Ich danke Ihnen, Herr von Ried. Im Grunde sind Sie der Gründer unseres Glücks.“
Fragend sah er sie an. „Ich?“
Sie nickte lächelnd. „Ja, Sie. Wären Sie nicht auf dem Dampfer gewesen, dann wäre auch Norbert nicht damit gereist. Also sind Sie der Gründer unseres Glücks.“
„Gut, ich akzeptiere diesen Ehrentitel und hoffe und wünsche, dass ich ein recht dauerhaftes Glück gegründet habe. Genauer genommen ist aber eigentlich mein Onkel, der mich in Verbannung schickte, der Gründer Ihres Glücks.“
„Oh, Ihr Onkel ist mir unbekannt – und unsympathisch, weil er so unfreundlich zu Ihnen war. Ich halte mich doch lieber mit meiner Dankbarkeit an Sie.“
Sie nahmen nun wieder Platz und besprachen, was weiter geschehen sollte.
Platen wünschte, dass seine Hochzeit mit Lena nicht lange hinausgeschoben werden sollte. Und es wurde beschlossen, dass das junge Paar sich in Windhuk vermählen sollte. Dann konnte Lena als Platens Frau mit ihm die Rückkehr nach Deutschland antreten, und Leo konnte bei der Hochzeit dabei sein.
Platen wollte gleich morgen mit Hasso und seinen Kameraden nach Windhuk zurückkehren, um das Aufgebot zu bestellen und alles zur Hochzeit vorzubereiten.
Lena sollte dann mit dem Bruder nachkommen, wenn es an der Zeit war.
***
Am nächsten Morgen ritt Platen neben den Offizieren nach Windhuk. Er hielt sich an Hassos Seite. Die Freunde hatten sich viel zu erzählen.
In Windhuk fand Hasso einen ganzen Stoß Briefschaften vor, die inzwischen eingegangen waren, darunter die Quittungen über seine Schulden. Sein Onkel hatte Wort gehalten und alles bezahlt. Dann befand sich auch ein Brief seines Cousins Kurt unter den Postsendungen. Er schrieb:
Mein lieber Cousin Hasso!
Es ist mir ein Herzensbedürfnis, mich nach deinem Befinden zu erkundigen. Du würdest mich sehr erfreuen, wolltest du ausführlich von dir hören lassen. Vater hat alle deine Angelegenheiten geregelt, und ich hoffe, ihn noch völlig zu überzeugen, dass du nicht so leichtsinnig gewesen bist, wie er angenommen hat.
Noch immer ist er der Ansicht, dass dir der Aufenthalt in Südwest von Nutzen sei. Aber als ich ihn gestern fragte: „Und wenn Hasso da unten, was Gott verhüten möge, etwas zustößt? Dann hast du zeitlebens ein schweres Herz“. Da wurde er ein wenig blass. Aber er fasste sich schnell und antwortete in seiner schroffen Art: „Ein Ziegelstein hätte ihm auch in Berlin auf den Kopf fallen können.“ Aber ich merke doch, es geht ihm nah.
Im Übrigen gefällt mir Vater seit einigen Wochen gar nicht mehr; er zankt nicht einmal mehr mit unserer Haushälterin. Frau Wohlgemut ist über diese Tatsache ganz fassungslos. Sie behauptet, Vater müsse schwer krank sein, weil er jetzt so sanftmütig ist.
Ich habe gegen seinen Willen heute den Arzt herausbitten lassen. Wenn deshalb auch ein Mordsdonnerwetter auf mich herabprasseln sollte, es wird mich doch beruhigen.
Ich kann natürlich nicht von dir verlangen, dass du meine Sorge teilst. Vater hat dafür gesorgt, dass du ihm nicht sehr viel Sympathie entgegenbringen kannst. Hat er mir doch selbst durch seine despotische Art oft genug das Herz schwer gemacht, aber ich habe ihn trotzdem lieb und wünsche sehr, er wäre wieder der Alte. Da er schon über siebzig Jahre alt ist, muss man seinen Zustand immerhin ernst nehmen.
Doch nun genug davon. Falls du etwas brauchst, mache mir nur ein kleines Kreuz hinter das Datum deines Briefes, dann schicke ich dir, was ich entbehren kann. Und lass es dir recht gut gehen, mein lieber Hasso. Ich grüße dich herzlichst als dein getreuer Cousin
Kurt
Hasso legte den Brief zusammen.
„Guter Kerl, er ist wirklich eine ehrliche Haut. Ich werde ihm gleich schreiben“, sagte er.
Aber ehe er am nächsten Tag dazu kam, seinen Vorsatz auszuführen, bekam er abermals ein Schreiben seines Cousins. Es trug einen Trauerrand und lautete:
Mein lieber Cousin Hasso!
Hierdurch teile ich dir mit, dass mein Vater gestern Nacht sanft entschlafen ist. Zugleich sollst du wissen, dass dich mein Vater vor seinem Ende des Versprechens entbunden hat, zwei Jahre in Südwest zu bleiben. Es steht dir also frei, sofort zurückzukehren. Ich soll dich ein letztes Mal von ihm grüßen und dir sagen, er habe es gut mit dir gemeint, wenn es auch nicht so ausgesehen habe.
Außerdem will ich dir mitteilen, dass meine erste selbstständige Handlung als Majoratsherr von Marwedel deinem Wohl gelten soll. Ich verdopple hiermit deinen Zuschuss, der dir aus den Majoratseinkünften zufloss, damit du es in Zukunft nicht nötig hast, Schulden zu machen. Solltest du auch damit nicht auskommen – ich kann das nicht beurteilen –, dann sage es mir offen, was du brauchst, und ich werde es bewilligen. Denn ich kenne dich als anständigen Menschen und weiß, dass du mit solch einem Anerbieten nicht Missbrauch treibst. Ich will nicht, dass du darbst, während ich mein Vermögen immer größer anwachsen lasse.
Leider habe ich noch immer keine Nachricht von dir und bin in Sorge um dich. Hoffentlich ist sie unbegründet. Bitte depeschiere mir einige Worte, ob du wohlauf bist. Und dann schreibe mir bald. Wenn du diesen Brief erhältst, ist Vater schon längst beigesetzt.
In der Hoffnung, bald von dir zu hören, grüße ich dich herzlichst
dein Cousin Kurt
Hasso hatte selbst nie viel für seinen Onkel übrig gehabt, aber Kurts wegen tat es ihm doch Leid, dass er gestorben war.
Er gab sofort eine Depesche auf. Dann teilte er seinem Cousin in einem längeren Brief mit, dass er soeben erst von einer Expedition zurückgekehrt sei. Er dankte ihm für seine beiden Schreiben und kondolierte ihm wegen seines Verlustes.
Im Übrigen dankte er herzlich für die Verdoppelung seines Zuschusses. Dann erzählte er Kurt von seinen letzten Erlebnissen. Und zum Schluss teilte er ihm mit, dass er zwei Jahre in Südwest aushalten wolle, falls ihn nicht ein außergewöhnliches Ereignis dazu zwinge, früher heimzukehren. Immerhin sei das Leben hier unten für ihn etwas Neues und Interessantes, und er hoffe, mancherlei zu lernen, was er später verwenden könne.
***
In den ersten Tagen des Dezembers fand die Hochzeit Platens und Lenas in Windhuk statt. Und es war ein großes Ereignis für diese Stadt. Es interessierte alle Deutschen in Windhuk, und wer es ermöglichen konnte, wohnte der Trauung bei.
Die Hochzeitsfeier verlief sehr stimmungsvoll, aber Lena war doch froh, als sie vorüber war und sie nicht mehr der Mittelpunkt sein musste. Am Tag nach, der Hochzeitsfeier ging der Dampfer, der sie nach Deutschland bringen sollte, von Swakopmund ab. Dem jungen Paar blieb nur noch Zeit, von Windhuk nach Swakopmund zu reisen.
Leo begleitete Schwester und Schwager zum Hafen.
Von Hasso von Ried hatte das junge Paar bewegten Abschied genommen. Er war ihnen im Ernst der Gründer ihres Glücks. Er musste versprechen, sofort nach Neuhalden zu kommen, wenn seine zweijährige Verbannung zu Ende war.
Der Abschied der Geschwister voneinander war schwer. Lena hätte den Bruder gern mit sich genommen. Er musste ihr versprechen, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um seine Farm so bald als möglich zu dem von ihm festgesetzten Preis an den Mann zu bringen.
Als Leo, nachdem das junge Paar abgereist war, nach Windhuk zurückkehrte, erwartete ihn Hasso von Ried am Bahnhof. Er erzählte, wie schwer ihm der Abschied von Schwester und Schwager geworden sei und wie sehr er sich nun, nach den mit ihnen gemeinsam verlebten Monaten, vor der Einsamkeit fürchtete. Er sägte Hasso, dass er nun darauf brennen würde, einen zahlungskräftigen Käufer für Holmseck zu finden.
Da richtete sich Hasso auf. „Lieber Leo, ich rate dir, einmal in dieser Angelegenheit Fühlung mit Herrn Deckmann zu nehmen. Ich bin überzeugt, er wird Holmseck kaufen.“
Überrascht sah ihn Leo an. „Deckmann? Der hat doch schon seine große Farm.“
„Ja, aber er sagte mir einmal, Holmseck schiebe sich wie ein Keil in seine Besitzung, und er wünsche sie abzurunden. Das war mir aus dem Gedächtnis gekommen, aber jetzt fällt es mir wieder ein. Er schien sehr erpicht auf diese Abrundung seiner Besitzung. Vielleicht wagt er es nur nicht, dir ein Angebot zu machen, weil er nicht annimmt, dass du Holmseck verkaufen willst. Versuch einmal, Fühlung mit ihm aufzunehmen.“
Leo fuhr sich aufgeregt durchs Haar. „Ich habe, offen gestanden, nie daran gedacht, dass Deckmann als Käufer in Frage kommen könnte. Aber du hast Recht, Holmseck schneidet wie ein Keil in seine Besitzung ein. Du hast mich da auf eine famose Idee gebracht. Ich danke dir, Hasso.“
„Da gibt es doch nichts zu danken.“
„Doch, du hast mir da vielleicht einen großen Dienst erwiesen.“
***
Carry von Hartenfels hatte den ganzen Sommer mit ihrer Mutter in Hartenfels verbracht. Es waren natürlich hier und da Gäste gekommen, und Kurt von Ried ließ kaum einen Tag vergehen, an dem er nicht bei den Damen vorsprach, aber im Ganzen war es doch eine ruhige, beschauliche Zeit.
Seit Kurt von Rieds Vater gestorben war, hatte sich das Verhältnis zwischen ihm und Carry bedeutend gebessert. Sie war nicht mehr so schroff zu ihm. Er tat ihr Leid in seiner Trauer um den Vater.
Anfang Dezember fiel der erste Schnee, und Carry freute sich der weißen Pracht, die sie ins Freie lockte. Sie zog eine Pelzjacke über und drückte eine Pelzmütze auf das Haar.
Dann eilte sie hinaus. Ihre Mutter sah ihr vom Fenster aus nach und freute sich an der schlanken, jugendkräftigen Gestalt ihrer Tochter, die so zielsicher und elastisch ausschritt.
Carry ging froh und munter durch das Schneetreiben. Nach und nach aber verlangsamte sich ihr Schritt. Sie kam wieder einmal ins Träumen, wie es ihr seit der Abreise von Berlin häufig geschah. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit dem jungen Offizier.
Wenn ich einmal heiraten sollte, dann dürfte mich nur ein Mann heimführen, der ihm gleicht, hatte sie oft gedacht.
Sie schalt sich gewöhnlich in ihrer frischen, energischen Art über solche Träume aus und zwang sich meist, an etwas anderes zu denken. Aber immer wieder tauchte das gebräunte charakteristische Männergesicht vor ihr auf. Nie hatte ein Mensch einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht.
Und heute dachte sie, während sich ihre Blicke an der weißen Pracht labten: Was würde ich wohl tun, wenn er plötzlich hier auf diesem Weg auf mich zukäme?
So sehr war sie in ihre Träume eingesponnen, dass sie erschrocken zusammenfuhr, als durch die Stille plötzlich ein lauter Ruf, ein Hilferuf, an ihr Ohr drang. Sie blieb mit einem Ruck stehen und sah sich um. Niemand war zu sehen.
Doch da drang wieder der seltsame, jammernde Ruf einer Männerstimme zu ihr herüber.
Es kommt vom Steinbruch her, dachte sie erschrocken.
Sollte dort jemand verunglückt sein? Aber es wurde doch schon seit Wochen nicht mehr im Steinbruch gearbeitet. Jedoch führte die Fahrstraße dicht am Steinbruch vorüber.
Da war abermals der Hilferuf zu hören.
Beherzt richtete Carry sich aus ihrer lauschenden Stellung auf, drückte den Pelzmuff, in dem sie ihre Hände barg, fest an sich und lief so schnell sie konnte mitten durch den Wald auf die Fahrstraße nach dem Steinbruch zu. Als sie aus dem verschneiten Wald auf die freie Straße kam, zuckte sie erschrocken zusammen. Da lag dicht am Abgrund zum Steinbruch ein Mensch im Schnee. Sie besann sich nicht lange. Mit einem Satz sprang sie über den schmalen Graben, der sie vom Fahrweg trennte, und eilte auf den Verunglückten zu. Sie erkannte den Chauffeur Kurt von Rieds.
Sofort kniete sie neben ihm nieder und sah in sein schmerzverzogenes Gesicht. Er schlug die Augen zu ihr auf.
„Um Gottes willen, Haßler, was ist Ihnen geschehen. Kann ich helfen?“, fragte sie hastig.
Er biss die Zähne zusammen, um seinen Schmerz zu unterdrücken.
„Ich habe wohl das linke Bein gebrochen, gnädiges Fräulein. Aber das ist nicht das Schlimmste. Mein armer Herr!“
Carry sah ihn erschrocken an.
„Ihr Herr? Was ist mit Herrn von Ried?“, forschte sie besorgt.
Haßler stöhnte auf. „Unten im Steinbruch … da liegt das Auto … mit meinem Herrn. Ich bin abgesprungen … im letzten Moment. Das Steuer versagte, hier an der Stelle rutschte der Wagen plötzlich seitwärts. Bitte, rufen Sie Hilfe für meinen armen Herrn!“
Carry hatte entsetzt diesen Worten gelauscht. Nun sprang sie empor und starrte in den Steinbruch. Da sah sie das Auto zwischen dem Steingeröll auf der Seite liegen.
Einige Augenblicke stand sie wie erstarrt. Was sollte sie tun? Sollte sie erst in den Steinbruch hinunterklettern und versuchen, Kurt von Ried Hilfe zu bringen, oder schnell andere Hilfe herbeiholen?
Aber es widerstrebte ihr, davonzulaufen. Sie beugte sich wieder zu Haßler herab und schob ihm barmherzig ihren Muff unter den Kopf.
„Was kann ich nur tun? Ich kann Sie und Herrn von Ried doch jetzt nicht verlassen“, sagte sie ratlos.
„Wenn Sie über die schmale Treppe, an der Seite, wo die Arbeiter herunterzugehen pflegen, hinabgehen und nur einmal nach meinem armen Herrn sehen würden, gnädiges Fräulein. Ich bin in so großer Angst um ihn. Um mich brauchen Sie sich nicht zu sorgen.“
Carry fasste sich mühsam. „Ja, ich gehe hinunter, und dabei will ich laut um Hilfe rufen, vielleicht hört mich jemand.“
Sie erhob sich. Die Hände wie ein Schallrohr um den Mund legend, stieß sie nach allen Seiten laute, gellende Schreie aus. Dann kletterte sie flink die steile Treppe in den Steinbruch hinab, immer wieder laute Hilfeschreie ausstoßend, bis sie unten angelangt war und das Auto erreicht hatte.
Rund um den Wagen war alles mit Glassplittern bedeckt und mit kleinen, abgesprengten Teilen des Wagens. Es sah sehr schlimm aus. Die Räder starrten seitwärts in die Luft.
Angstvoll rief Carry Kurts Namen. Es kam keine Antwort. Da kletterte sie an den Rädern empor und sah durch das obenauf liegende Fenster in den Wagen.
Mit bleichem, entsetztem Gesicht fuhr sie zurück.
„Herr von Ried – lieber Freund – ach, lieber Freund!“, jammerte sie.
Sie sah Kurt reglos im Wagen auf der Seite liegen, zwischen den Sitzen zusammengekrümmt. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen. Er gab kein Lebenszeichen von sich.
Große Tränen liefen ihr über die Wange.
„Mein armer, armer, lieber Freund“, schluchzte sie vor sich hin.
Von einer Verletzung sah sie nichts an ihm, aber er machte den Eindruck eines Toten.
Blass und erschüttert sprang sie vom Wagen herab. Sie stieg die Treppe wieder empor und rief abermals, so laut sie konnte, um Hilfe.
Als sie fast wieder oben angelangt war, vernahm sie endlich eine Antwort auf ihren Hilferuf. Mehrere Männerstimmen riefen zurück. Sie atmete tief auf und stieß einen gellenden Ruf aus.
„Hierher, hierher, Steinbruch!“, rief sie.
Und endlich brachen drei Männer aus dem verschneiten Unterholz, der Förster von Marwedel und zwei Waldhüter.
Carry lief ihnen entgegen und berichtete mit fliegendem Atem, von Schluchzen unterbrochen, was geschehen war. Die drei Männer erschraken.
„Gnädiges Fräulein, Hartenfels liegt am nächsten, bitte, eilen Sie nach Hause und senden Sie uns schnellstens einen Wagen und Tragbahren. Wir müssen sehen, wie wir den Verunglückten nach Hartenfels bringen. Senden Sie uns auch noch einige handfeste Leute, und rufen Sie telefonisch den Arzt nach Hartenfels. Wir wollen inzwischen sehen, was wir tun können“, sagte der Förster, schnell die Situation überblickend.
Carry nickte.
Zehn Minuten später langte sie atemlos in Hartenfels an und fiel ihrer Mutter, die ihr in der Halle entgegenkam, schluchzend um den Hals. Mühsam brachte sie ihre Meldung vor.
Frau von Hartenfels erschrak sehr, aber sie fasste sich schnell und rief ihre Leute zusammen. Sie gab ihre Befehle und, schickte eine Anzahl Leute mit Handwerkszeug, zwei Tragbahren, Decken und Kissen nach der Unfallstelle. Sie selbst warf einen Mantel über und bestieg den vorfahrenden Wagen. Carry wollte mit ihr fahren, aber die Mutter hielt sie zurück.
„Du bleibst hier, Carry, rufst den Arzt an und schickst ihm unser Auto, damit er schnell zur Stelle ist. Und dann sorgst du dafür, dass zwei Zimmer hier unten im Parterre zur Aufnahme der Verunglückten bereitgemacht werden.“
Carry nickte. Frau von Hartenfels hatte sich noch eine Flasche Wein zur Stärkung der Verunglückten an den Wagen bringen lassen und fuhr davon. Sie kam am Steinbruch zu gleicher Zeit mit den vorausgegangenen Leuten an.
Der Förster und die Waldhüter hatten inzwischen mit viel Mühe Herrn von Ried aus dem Auto herausgeholt. Er lag nun völlig bewegungslos und ohne Besinnung im Schnee.
Frau von Hartenfels kniete neben ihm nieder und strich ihm das blonde Haar aus der Stirn. „Lebt er noch, Herr Förster?“, fragte sie leise.
„Ja, gnädige Frau, ich höre das Herz noch klopfen, und als wir ihn aus dem Wagen hoben, habe ich einen leisen Seufzer von ihm gehört. Von äußeren Verletzungen merkt man nichts. Vielleicht ist es nur eine Ohnmacht. Hoffentlich ist der Arzt bald zur Stelle.“
Die Leute setzten die Bahre dicht neben Herrn von Ried nieder. Sorgsam hoben ihn die Männer hinauf, während Frau von Hartenfels ihm Kissen unterlegte und ihn dann mit einer warmen Decke zudeckte.
Oben auf der Straße hatte man inzwischen auch den Chauffeur auf die andere Bahre gehoben, und Frau von Hartenfels flößte ihm ein Glas Wein ein.
Der traurige Zug bewegte sich nun durch den Wald auf das Herrenhaus von Hartenfels zu.
Carry stand unter dem offenen Portal, als der Zug sich näherte. Sie lief ihm entgegen und sah die Mutter angstvoll an.
„Er lebt, Carry, und wo Leben ist, da ist auch Hoffnung“, sagte sie.
„Gott sei Dank, ach, Gott sei Dank, Mamascha.“
„Ist alles bereit, Carry?“
„Ja, und der Arzt muss gleich hier sein. Er war zu Hause, als ich ihn anrief.“
Die beiden Tragbahren wurden nun in die Zimmer zu ebener Erde getragen, die für die Verunglückten bereitgemacht waren. Und kaum hatte man sie hier niedergesetzt, fuhr draußen das Auto mit dem Arzt vor. Er beugte sich über den Chauffeur, aber der wehrte trotz seiner Schmerzen ab.
„Erst mein gnädiger Herr, der braucht Sie nötiger, Herr Doktor.“
Frau von Hartenfels kam herbei und führte den Arzt zu Herrn von Ried.
Der Arzt hieß alle hinausgehen. Nur der Förster durfte bleiben, um ihm zur Hand zu gehen.
Danach nahm der Arzt eine gründliche Untersuchung vor.
Carry und ihre Mutter warteten in der Halle mit Herzklopfen auf das Ergebnis der Untersuchung.
Als der Arzt endlich erschien, sprangen sie auf und gingen ihm entgegen.
„Lieber Herr Doktor, beschwichtigen Sie unsere Sorgen um unseren nachbarlichen Freund“, bat Frau von Hartenfels.
Der Arzt strich sich über die Stirn. „Das kann ich leider nicht, meine verehrten Damen. Es ist keine Hoffnung, dass Herr von Ried am Leben bleibt, und wir wollen es ihm auch gar nicht wünschen. Ein elendes Siechtum wäre ihm für alle Zeit sicher. Das Rückgrat ist schwer verletzt. Wir können ihm nur wünschen, dass ihm das Sterben leichter wird – woran ich nicht zweifle. Schmerzen wird er nicht mehr haben, das ist vorbei.“
Die beiden Damen umfassten sich erschüttert.
„Der Ärmste, ach der Ärmste!“, stieß Carry heiser hervor.
Frau von Hartenfels drückte ihre Tochter fest an sich.
„Wird er das Bewusstsein zurückerlangen, Herr Doktor?“, fragte sie.
„Vielleicht, ich glaube es bestimmt, doch man kann es nicht genau voraussagen. Zum Glück hat Herr von Ried nicht für Familie zu sorgen und infolgedessen nicht sehr wichtige letztwillige Verfügungen zu treffen. Marwedel ist ja Majorat. Sollte er daher das Bewusstsein zurückerlangen, so möchte ich, dass man ihn nicht wissen lässt, dass er sterben muss. Sein Zustand wird ihm selbst, da er schmerzlos ist, nicht bedenklich erscheinen. Ich meine, es wäre eine nutzlose Grausamkeit, ihn wissen zu lassen, wie nahe ihm sein Ende ist. Er wird ganz ruhig und sanft hinüberschlummern. Wie denken Sie darüber, gnädige Frau?“
Frau von Hartenfels fasste sie. „Ich bin ganz Ihrer Meinung, Herr Doktor.“
„Bitte, begeben Sie sich jetzt zu ihm. Falls er zur Besinnung kommt, wird er Ihre Nähe als Wohltat empfinden. Ich will nach dem Chauffeur sehen. Hier ist leider meine ärztlich Kunst am Ende.“
Während der Arzt zu Haßler ging und sein gebrochenes Bein bandagierte, gingen Mutter und Tochter zu Kurt von Ried.
Die Damen nahmen zu beiden Seiten des Lagers Platz. Ab und zu ging die Mutter leise hinaus, um auch nach dem verletzten Chauffeur zu sehen. Der lag nun, sorgsam verbunden und gebettet, und klagte nur immer um seinen Herrn. Er beteuerte, dass er ganz schuldlos an dem Unfall sei.
Frau von Hartenfels beruhigte ihn. Dann ging sie zu ihrer Tochter zurück, die noch nicht vom Lager des Freundes gewichen war. Und als sie eine Weile an der anderen Seite des Bettes Platz genommen hatte, sahen die Damen, dass der Verwundete langsam das Haupt bewegte und dann mühsam, wie aus tiefem Schlaf erwachend, mit einem Seufzer die Augen aufschlug. Verwundert sah er um sich. Als er Carry erblickte, flog ein glückliches Leuchten über sein Gesicht.
„Ich träume wohl?“, fragte er lächelnd.
Carry schnitt dieses Lächeln ins Herz. Sie beugte sich, mühsam ihre Fassung wahrend, über ihn. „Lieber, lieber Freund – wie geht es Ihnen?“
Sinnend sah er zu ihr auf. „Gut – sehr gut … Nur müde – müde. Was ist denn geschehen? Weshalb liege ich hier in einem fremden Zimmer? Und Sie sind bei mir, liebe Carry – auch Sie, liebe gnädige Frau. Was ist denn nur geschehen?“
Er sprach das in einer eigentümlichen, schleppenden und tonlosen Art.
Carry konnte nicht antworten. Es presste ihr die Kehle zusammen.
Ihre Mutter antwortete: „Sie hatten einen kleinen Unfall, lieber Herr von Ried.“
Ein matter Schein des Verständnisses leuchtete in seinen Augen auf. „Ach ja – das Auto … Es rutschte ab – es stürzte … Und ich hatte einen wahnsinnigen Schmerz im Rücken. Dann weiß ich nichts mehr.“
„Jetzt haben Sie aber keine Schmerzen, mein lieber, lieber Freund?“, fragte Carry, seine Hand streichelnd.
Er lächelte, seine Augen strahlten auf. „Nein, keine Schmerzen. Mir ist so wohl – so wohl, Carry. Sie halten meine Hand … und sehen mich so lieb an … wie ich Sie oft im Traum gesehen habe.“
Mühsam zwang sie die Tränen nieder. Und sie hatte nur ein Empfinden: dass sie ihm Gutes und Liebes tun musste, so viel sich in seinen kurzen Lebensrest hineindrängen ließ.
„Ich habe Sie auch lieb, Kurt, herzlich lieb. Weshalb soll ich Sie dann nicht lieb ansehen? Haben Sie irgendeinen Wunsch, den ich Ihnen erfüllen kann?“
Er sah sie unverwandt an, sah, dass sich wider Willen Tränen aus ihren Augen lösten.
„Sie weinen, Carry – um mich?“, fragte er atemlos.
Sie nickte. „Ja, ich weine, weil Sie leiden müssen und weil mir das weh tut.“
Seine Augen strahlten. „Ich habe es ja gewusst, Carry, einmal musste sich Ihr Herz mir doch zuwenden. Ich habe gewartet, Tag um Tag. Nun ist mein Sehnen erfüllt. Nicht wahr, Carry, wenn ich wieder wohlauf bin … dann kommst du zu mir – du weißt – über den Berg in das Schloss mit den sieben Türmen?“
Ihre Augen trübten sich. Sie musste an die Prophezeiung der Zigeunerin denken. Was sie ihr prophezeit hatte, dass ihr Schicksal sie über den Berg in das Schloss mit den sieben Türmen führen werde, würde sich nicht erfüllen. Aber – was die Zigeunerin Kurt gewahrsagt hatte – sollte das in Erfüllung gehen?
„Bis zu Ihrer Todesstunde wird die Frau bei Ihnen sein, die Sie lieben. Und sie wird Sie küssen und Ihre Hände halten und wird über Ihren Tod weinen.“
So hatte die Zigeunerin Kurt prophezeit. Und sie fühlte, das würde jetzt alles eintreffen.
Sie sank völlig erschüttert neben seinem Lager in die Knie und barg das zuckende Gesicht in seiner Hand. Es hätte jetzt nichts gegeben, was sie ihm nicht versprochen hätte.
„Ja, lieber Kurt, alles soll geschehen, wie Sie es wünschen.“
Matt, aber mit überirdisch leuchtenden Augen drückte er ihre Hand und wandte sich Carrys Mutter zu. „Werden Sie mir Ihren Segen geben, liebe gnädige Frau?“
Frau von Hartenfels war gleichfalls erschüttert. Sie wusste nicht, ob Carry wirklich in dieser Stunde ihr Herz entdeckte oder ob sie nur dem Sterbenden keinen Wunsch versagen wollte. Sanft strich sie dem jungen Mann das Haar aus der Stirn. „Ja, lieber Kurt, ich gebe Ihnen meinen Segen“, sagte sie leise und feierlich.
Carry erschauerte. Aber sie bezwang sich. Kurt sah sie mit glücklichem Ausdruck an. „Wie froh bin ich nun! Dafür will ich gern ein paar Tage still liegen.“
„Sie müssen auch still liegen, lieber Kurt, damit Sie schnell wieder gesund werden“, sagte Frau von Hartenfels.
Er lächelte. „Das will ich tun. Aber bitte, bitte, liebe Mutter, lassen Sie mich nur fünf Minuten mit Carry allein.“
Frau von Hartenfels sah ihre Tochter fragend an. Carry neigte leise das Haupt.
Da ging die Mutter hinaus.
Nun sah Kurt die Geliebte seines Herzens flehend an. „Liebling, willst du mir einen großen, heißen Wunsch erfüllen?“
Carry schlug das Herz bis zum Hals hinauf. „Gern, wenn es in meiner Macht liegt.“
Er lächelte. „Es liegt in deiner Macht. Du sollst mich küssen, Carry, nur ein einziges Mal, damit ich weiß, dass es kein Traum ist. Küsse mich, Carry!“
Da neigte sie sich erbarmend über ihn und presste ihre reinen Lippen, die noch kein Mann in Liebe berührt hatte, fest und warm auf seinen Mund.
Er lag ganz still. Erst nach einer Weile schlug er langsam die Augen auf. Sie strahlten in einem seltsamen Glanz.
„Jetzt war ich im Himmel, Carry. In solch einem Augenblick muss das Sterben eine Wonne sein. Dass ich so matt bin und mein Glück nicht an mich pressen kann! Rufe den Arzt, Carry, er muss mir etwas verschreiben, dass ich schnell wieder zu Kräften komme. Jetzt will ich doch meine schöne, holde Frau nach Marwedel holen“, sagte er erregt.
Sie strich sanft über seine Augen. „Du darfst dich nicht aufregen, Kurt, du musst ganz ruhig sein. Der Arzt wird gleich kommen. Jetzt ist er bei Haßler.“
Kurt sah sie betroffen an. „Bei Haßler? Ach ja, er war ja auch dabei. Wie geht es ihm?“
„Er hat ein Bein gebrochen.“
„Der arme Kerl! Ihn hat es also schlimmer getroffen als mich.“
Carry barg das zuckende Gesicht in einem Kissen. Seine Ahnungslosigkeit schnitt ihr ins Herz.
Kurze Zeit darauf trat Frau von Hartenfels mit dem Arzt wieder ein. Der Doktor zwang sich zu einem heiteren Lächeln. „Was machen Sie für Sachen, Herr von Ried? Sie haben uns alle sehr erschreckt?“
Kurt lächelte. „Lieber Herr Doktor, wie lange muss ich wohl im Bett liegen?“
„Nun, einige Tage müssen Sie schon Geduld haben. Aber Sie liegen ja in guter Hut.“
„O ja, in sehr guter Hut. Aber was fehlt mir eigentlich? Ich habe nirgends Schmerzen, fühle mich nur müde und matt.“
„Ja, ja, es ist – so eine Art Nervenschock, wissen Sie, da muss man ein Weilchen Ruhe halten, dann ist alles wieder gut. In Marwedel braucht man Sie doch nicht so nötig, zumal jetzt im Winter. Da läuft doch alles am Schnürchen, nicht wahr?“
„O ja, dafür sorgen der Verwalter und Frau Wohlgemut.“
„Ganz recht. Und für alle Fälle habe ich Ihren Verwalter hierher beordert, falls Sie ihm Aufträge zu geben haben.“
„Das ist sehr liebenswürdig, aber es wäre nicht nötig gewesen.“
„Nun, umso besser. Also, ruhen Sie sich recht behaglich aus. Ich sehe dann noch einmal nach Ihnen.“
Der Arzt nickte ihm lächelnd zu. Dann ging er hinaus. Frau von Hartenfels begleitete ihn. Draußen sagte sie mit bebender Stimme: „Lieber Herr Doktor, ist wirklich keine Hoffnung? Er macht gar nicht den Eindruck eines Sterbenden.“
Der Arzt zuckte die Schultern. „Gnädige Frau, dieser Fall ist leider völlig hoffnungslos. Meines Erachtens ist es unbedingt notwendig, an den nächsten und wohl auch einzigen Verwandten des Herrn von Ried, der sein Majoratsnachfolger sein wird, zu depeschieren. Dieser Herr ist, wie mir der Förster sagte, in Südwest. Er wird freilich seinen Cousin nicht mehr lebend antreffen, aber er muss doch wissen, dass er verunglückt ist und hoffnungslos darniederliegt. Wollen Sie bitte den Verwalter damit beauftragen, wenn er kommt?“
Sie seufzte tief auf. „Das will ich tun.“
Der Arzt verabschiedete sich und fuhr davon. Carry hatte sich wieder an Kurts Lager gesetzt und hielt seine Hand. Er lächelte matt zu ihr auf.
„Wenn ich doch nicht so müde wäre, Carry. Es ist so schön, dich anzuschauen, zu wissen, dass du mir gehören willst. Ich fühle deinen Kuss noch jetzt auf meinen Lippen und bin so glücklich.“
Die Worte klangen wie ein Hauch. Er schlief fast in demselben Augenblick ein. Carry hätte laut aufweinen mögen.
Leise erhob sie sich und trat ans Fenster. Draußen rieselte der Schnee unaufhörlich herab und deckte ein weißes Leichentuch über die Natur.
Nach einiger Zeit wurde Frau von Hartenfels der Verwalter von Marwedel gemeldet. Die Kunde vom Unfall seines Herrn hatte ihn auf dem Weg nach der nahen Stadt erreicht.
Als Frau von Hartenfels zu ihm trat, fragte er erregt: „Wie geht es unserem gnädigen Herrn, gnädige Frau?“
Sie berichtete ihm alles, was sie wusste. Der Verwalter war tief erschüttert.
„Guter Gott im Himmel. So jung und stark und doch sterben“, stieß er hervor.
„Ja, der Tod geht oft an den Alten und Gebrechlichen vorbei, die ihn rufen, und fasst nach den Jungen, Starken, die das Leben lieben. Wir alle sind tief erschüttert. Herr von Ried weiß nicht, dass er sterben muss. Wir wollen es ihm verschweigen. Nicht wahr, Sie halten es auch nicht für nötig, dass wir es ihm eröffnen?“
Der Verwalter schüttelte heftig den Kopf. „Ganz gewiss nicht. Es wird sich nach seinem Tod alles von selbst regeln, er braucht keine Bestimmungen zu treffen.“
„Aber Sie müssen an seinen Cousin, Herrn Hasso von Ried, depeschieren. Er muss wissen, was hier geschehen ist.“
Der Verwalter strich sich über die Stirn. „Ja, das muss wohl geschehen. Aber würden Sie es nicht lieber an meiner Stelle tun, gnädige Frau? Sie kennen doch Herrn Hasso von Ried persönlich.“
Sie neigte das Haupt und dachte daran, dass Hasso von Rieds Vater ihr einmal teuer gewesen war. „Wenn Sie es wünschen, will ich es tun. Sie können das Telegramm dann gleich aufgeben, wenn Sie wieder nach Marwedel zurückfahren.“
Und Frau von Hartenfels bat den Verwalter, in der Halle Platz zu nehmen. Sie ging in ihr Zimmer und setzte ein Telegramm auf.
Als sie wieder in die Halle zurückkehrte, kam plötzlich Carry aus dem Krankenzimmer.
„Mamascha – ach, Mamascha –, komme schnell, ich bin so bange … Er liegt so still – man spürt keinen Atemzug, und seine Hand ist starr und schwer.“
Frau von Hartenfels folgte ihr eilig. Und als sie an das Lager trat, sah sie die Majestät des Todes auf dem stillen blassen Antlitz liegen. Kurt von Ried war sanft hinübergeschlummert.
„Er hat ausgelitten“, sagte sie leise und legte sanft die Hand auf seine Augen. Carry sank weinend in die Knie und sah in sein stilles Gesicht.
Sie wusste, ein starkes, treues Herz hatte aufgehört, für sie zu schlagen. Und es war ihr ein süßer Trost, dass sie ihm durch ihre fromme Lüge das Sterben leicht gemacht, ihm ein letztes Glück geschenkt hatte.
***
Es war am Morgen nach dem Abend, da sich Leo von Holms von Hasso verabschiedet hatte.
Hasso hatte sich eben angekleidet, und Treumann brachte ihm das Frühstück. Gleich danach wollte Hasso zum Dienst gehen. Gerade, als er sich vom Frühstück erhob, trat Treumann wieder ein.
„Herr Oberleutnant, da ist eine Depesche angekommen.“
„Für mich?“, fragte Hasso erstaunt.
„Zu Befehl“, erwiderte Treumann und reichte ihm die Depesche.
Hasso sah verwundert darauf nieder. Mit einem etwas unbehaglichen Gefühl öffnete er das Telegramm und las:
kurt von ried bei autounfall verunglückt – stopp – soeben verschieden – stopp – verwalter bittet um instruktionen – stopp – frau von hartenfels.
Hasso ließ das Papier sinken und fiel in einen Sessel. Er wischte sich fassungslos über die Stirn. Sein erstes Empfinden war ehrliches, herzliches Bedauern.
So ein guter Mensch, dachte er erschüttert.
Und er sah den Vetter vor sich, in seiner bärenhaften Kraft mit seinen guten, ehrlichen Augen. Dass er so jung hatte sterben müssen, tat ihm herzlich Leid.
Dass er durch den Tod des Vetters Majoratsherr von Marwedel geworden war, kam ihm dann erst zum Bewusstsein. Er sprang auf, fasste nach der Depesche und las sie noch einmal durch. Und dann atmete er auf, als sei ihm die Brust zu eng.
Eine halbe Stunde später trat er bei seinem Vorgesetzten ein. Er zeigte ihm das Telegramm und bat, vom Dienst beurlaubt zu werden, da er Wichtiges zu erledigen habe.
Sein Gesuch wurde ohne weiteres bewilligt. „Da werden Sie wohl nun so schnell wie möglich nach Deutschland zurück wollen, Herr Oberleutnant?“, fragte der Vorgesetzte.
„Ich glaube wohl, dass es nötig sein wird, meinen Abschied zu nehmen. Zunächst aber muss ich um einen sofortigen längeren Urlaub einkommen, damit ich möglichst mit dem nächsten Dampfer heimkehren kann. Ich bitte ergebenst, diesen Urlaub zu befürworten.“
„Das soll natürlich geschehen. Sie haben jetzt neue Pflichten, als Herr eines großen Majorats. Das wird berücksichtigt werden. Ich kondoliere, Herr Oberleutnant von Ried, und … ich gratuliere.“
Hasso verneigte sich. Er war noch ganz benommen, während er nach seiner Wohnung zurückging. Dort setzte er zuerst ein Telegramm an Frau von Hartenfels auf.
ergebensten dank – stopp – tief erschüttert – stopp – in verehrung – stopp – hasso von ried.
An den Verwalter depeschierte er:
alles nach eigenem ermessen ordnen bis auf weiteres – stopp – ried
Dann rief er Treumann. Als er erschien, sagte er: „Treumann, ich gehe schon in allernächster Zeit nach Deutschland zurück.“
Der Bursche sah ihn betroffen an. „Zu Befehl! Werden der Herr Oberleutnant mich mitnehmen?“
„Na sicher, Treumann, ich weiß doch, dass Sie nur meinetwegen mit nach Südwest gegangen sind. Aber bis Sie Ihre Zeit abgedient haben, müssen wir uns trennen. Dann kommen Sie aber für immer zu mir nach Marwedel.“
Treumann atmete auf. „Zu Befehl. Wenn ich nur beim Herrn Oberleutnant bleiben kann.“
***
In Hartenfels war das Weihnachtsfest auch in diesem Jahr, wie stets, feierlich begangen worden. Aber Mutter und Tochter konnten in keine festliche Stimmung kommen. Der Tod des jungen Majoratsherrn von Marwedel lag noch immer bedrückend auf ihrem Gemüt.
Nach dem Fest machte Frau von Hartenfels ihrer Tochter den Vorschlag, auch diesen Winter einige Zeit nach Berlin zu gehen. Aber Carry umfasste die Mutter und sagte bittend: „Lass uns hier bleiben, Mamascha, ich habe gar keine Lust, Festlichkeiten zu besuchen.“
„Aber du solltest dich ablenken, Carry.“
Die junge Dame schüttelte den Kopf. „Ich brauche keine Ablenkung, Mamascha.“
„Nun, ich will nicht in dich dringen, Carry. Aber es wird sehr still für uns werden, da Marwedel jetzt ganz vereinsamt ist. Vielleicht kommen wir aber auch mit dem neuen Majoratsherrn in Verkehr. Er muss jeden Tag hier eintreffen, da er dem Verwalter schon Mitte Dezember gemeldet hat, dass er sich in Swakopmund eingeschifft hat.“
Carry brachte dieser Angelegenheit kein großes Interesse entgegen.
Es war ein schöner, klarer Januartag. Die Sonne schien hell über die weiße Winterlandschaft.
Carry war auf dem stillen Waldsee, der zu Hartenfels gehörte, Schlittschuh gelaufen.
Langsam trat sie nun den Heimweg an. Als sie an dem Berg emporsah, der Hartenfels von Marwedel trennte, blieb sie nachdenklich stehen. Der breite Weg, der zwischen den Waldungen den Berg hinaufführte, war die herrlichste natürliche Rodelbahn. Sie war mit hohem fest gefrorenem Schnee bedeckt und hatte hier unten einen famosen Auslauf.
Carry hatte diese Rodelbahn schon oft benutzt und bekam auch jetzt Lust dazu.
Sie sah auf ihre Uhr. Eine gute Stunde hatte sie noch Zeit, bis sie zum Tee zu Hause von ihrer Mutter erwartet wurde.
Ich werde noch ein halbes Stündchen rodeln, dachte sie.
Dicht neben der Rodelbahn hatte sie sich eine kleine Hütte bauen lassen, in der sie ihren Rodelschlitten und ihre Schneeschuhe aufbewahrte. Den Schlüssel dazu hatte sie bei sich.
Sie schloss die Hütte auf, warf ihre Schlittschuhe auf den Boden und zog den Schlitten heraus. Als sie das getan hatte, drückte sie die weiße Wollmütze fest auf den Kopf und barg das Haar darunter. Und nun ging es schnell und mit kraftvoll anmutigen Bewegungen den Berg hinauf. Den Schlitten zog sie hinter sich her.
Ihre Wangen röteten sich, die Augen leuchteten, und die Brust hob sich in tiefen Atemzügen.
Oben angelangt, wendete sie ihren Schlitten, ließ sich darauf nieder und stemmte die Füße in die Kufen.
Ein heller Jauchzer klang durch den klaren Wintertag.
Hui! Der Schlitten glitt in schneller Fahrt abwärts.
Sie hatte nicht bemerkt, dass unten am Fuß des Berges ein schlanker, hoch gewachsener Herr stehen blieb und überrascht dem herabsausenden jauchzenden Etwas entgegensah. Er musste zur Seite springen, um die Bahn für den Auslauf frei zu machen.
„Noch einmal!“, sagte sie vergnügt zu sich selbst und zog den Schlitten hinter sich her.
Im Begriff, den Berg wieder hinaufzusteigen, bemerkte sie plötzlich den Fremden und zuckte erschrocken zusammen. Ihr Gesicht erblasste. Sie stand wie zu Stein erstarrt und sah ihn ungläubig an.
Mein Gott … das ist doch – das ist … ja, er ist es, dachte sie.
Wie ein Schwindel erfasste es sie. Ihr Herzschlag stockte. Er zog artig den Hut und trat einige Schritte auf sie zu. Er erkannte in der jungen Dame im weißen Sportkostüm keineswegs die junge Dame, die ihm damals in so ganz anderer Kleidung am Kurfürstendamm begegnet war. Sie erschien ihm ganz fremd. Nur die seltsam strahlenden Augen, die von dunklen Brauen und Wimpern umgeben waren, weckten ein leises, unklares Erinnern.
„Verzeihung, meine Gnädigste, ich fürchte, ich habe Sie erschreckt. Ich sah Sie den Berg herabsausen und musste zur Seite springen, um Ihnen auszuweichen. Sie haben mich wohl nicht bemerkt. Bitte, verzeihen Sie mir.“
Carry atmete auf. Das Blut kam langsam wieder in ihre Wangen. Sie merkte sehr wohl, dass er sie nicht wieder erkannte, während sie ihn, trotz des Zivils, sofort erkannt hatte.
„Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen, mein Herr“, erwiderte sie und wollte an ihm vorübergehen.
„Ehe Sie sich entfernen, meine Gnädigste, bitte ich Sie, mir zu gestatten, mich Ihnen vorzustellen: Freiherr von Ried.“
Sie stand wie gebannt. Fassungslos blickte sie in seine Augen. „Freiherr von Ried? Hasso von Ried, der neue Majoratsherr von Marwedel?“, entfuhr es ihren Lippen.
Er verneigte sich lächelnd. „So ist es, meine Gnädigste. Und ich glaube, Sie befinden sich auf meinem Grund und Boden. Wenn Sie nun nicht eine gütige Waldfee oder sonst ein märchenhaftes Fabelwesen sind, das sich im Rodelsport übt, dann würden Sie mich verbinden, wenn auch Sie mir Ihren Namen nennen würden.“
Sie sah ihn noch immer ziemlich fassungslos an. Und sie wusste nicht, wie es kam, dass sie plötzlich an die Prophezeiung der Zigeunerin denken musste. Was sie Kurt geweissagt hatte, war eingetroffen, und was sie ihr gesagt hatte, schmeichelte sich plötzlich wie eine beglückende Verheißung in ihr Herz. Wie ganz anders wirkte die Prophezeiung jetzt auf sie!
Es stieg heiß in ihr empor. Sie erglühte vor ihren eigenen Gedanken. Hastig riss sie die Mütze von ihrem Haupt. Hasso staunte in heimlichem Entzücken über die goldflimmernde Pracht, die das reizende erglühte Gesicht wie ein Heiligenschein umgab. Und zugleich erschien ihm das junge Gesicht jetzt bekannter, wenn er auch nicht wusste, wo er es schon gesehen haben konnte.
Endlich hatte sich Carry gefasst. „Sie irren, Herr von Ried, wenn Sie glauben, dass Sie sich auf eigenem Grund und Boden befinden. Diese Hälfte des Berges gehört zu Hartenfels. Auch bin ich kein Fabelwesen, sondern Carry von Hartenfels.“
Erfreut trat er noch einen Schritt näher. „Ah, also die Tochter von Frau von Hartenfels, meiner Nachbarin. Ich hatte mir vorgenommen, gnädiges Fräulein, morgen Mittag Ihrer Frau Mutter meinen Besuch zu machen und ihr für die Nachricht zu danken, die sie mir nach Südwest sandte.“
Carry neigte das Haupt. „Mama wird sich freuen. Wir wussten nicht, dass Sie schon in Marwedel eingetroffen sind.“
„Ich bin erst seit wenigen Stunden hier. Die herrliche Winterlandschaft lockte mich ins Freie.“
Carry sah aufatmend um sich. „Ja, schön ist’s in unseren Wäldern jetzt – fast schöner als im Sommer.“
„Wunderschön. Die Rodelbahn ist übrigens ganz famos. Ich werde Ihre Frau Mutter bitten, mir zu gestatten, dass ich sie auch zuweilen benutzen darf.“
Carry war plötzlich die Lust am Rodeln vergangen. Sie sah nach ihrer Uhr. „Ich muss nach Hause. Mama erwartet mich zum Tee. Ich will nur meinen Schlitten noch einschließen.“
„Darf ich Ihnen behilflich sein?“
„Ich will Sie nicht bemühen.“
„Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen dienen zu dürfen“, sagte er und nahm ihr mit einer Verbeugung den Schlitten ab. Sie musste es geschehen lassen, dass er ihn aufhob und in die Hütte trug. Dabei sah er die Schlittschuhe auf dem Boden liegen.
„Sie haben auch schon dem Eislaufsport gehuldigt, mein gnädiges Fräulein?“, fragte er lächelnd.
„Ja, man muss die Feste feiern, wie sie fallen, es gibt ja nicht immer eine so famose Eis- und Schlittenbahn.“
„Ist es Ihnen nicht langweilig, den Sport so allein zu betreiben?“
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „O nein, der Begriff Langeweile ist mir fremd. Ich langweile mich nie in meiner eigenen Gesellschaft.“
„Jedenfalls die beste, die Sie haben können“, sagte er galant. „Wollen Sie Ihre Schlittschuhe hier liegen lassen?“
„Nein, ich nehme sie mit nach Hause.“
Er hob die Schlittschuhe auf. Dann schloss er die Hütte ab, reichte ihr mit einer Verbeugung den Schlüssel und sagte artig: „Darf ich Ihnen die Schlittschuhe nach Hause tragen? Ich will nicht aufdringlich erscheinen, aber als künftiger Nachbar hoffe ich, mir diese Frage erlauben zu dürfen.“
Es blitzte schelmisch in ihren Augen auf. „Wenn der künftige Nachbar nichts Wichtigeres vorhat, gestatte ich es gern. Aber Sie müssen dann nicht vor der Tür von Hartenfels umkehren, sondern sich für diesen Dienst mit einer Tasse Tee stärken lassen.“
„Darf ich denn so ganz ohne Umstände Ihrer Frau Mutter ins Haus fallen?“, fragte er, während ihm das Verlangen, es tun zu dürfen, aus den Augen leuchtete.
„Sie dürfen es ganz ohne Umstände“, sagte sie lachend. „Mama wird sich sehr freuen. Sie sind doch ein alter Bekannter von ihr.“
Sie schritten nebeneinander her. „Allerdings hatte ich verschiedentlich die Ehre, Ihrer Frau Mutter in Marwedel zu begegnen. Aber ich weiß nicht, ob sie sich meiner noch erinnert.“
Mit einem seltsamen Blick sah sie zu ihm auf. „Mama hat ein sehr gutes Gedächtnis und erinnert sich Ihrer sehr gut.“
„Das freut mich. Leider habe ich aber nie das Vergnügen und die Ehre gehabt, Sie kennen zu lernen, mein gnädiges Fräulein.“
Es blitzte in ihren Augen auf. Fast hätte sie gesagt: Doch, wir sind uns einmal in Berlin begegnet. Aber sie sprach es nicht aus. „Zufällig war ich nie in Marwedel, wenn Sie dort waren“, erwiderte sie ausweichend.
„Aber sonst sind Sie sicher oft drüben gewesen.“
„Nicht eben viel. Ihr verstorbener Onkel war für meine Begriffe ein wenig liebenswürdiger Herr. Ohne zwingenden Grund wagte ich mich nicht in seine Nähe.“
Hasso lachte. „Dann ist es Ihnen ähnlich wie mir ergangen.“ Und ernst werdend fuhr er fort: „Mein Vetter Kurt war dafür umso liebenswerter.“
Ihre Augen trübten sich, sie sah traurig vor sich hin. „Der Arme! Er war ein wahrhaft guter Mensch, und er war mein bester, liebster Freund.“
„Dann hat Sie sein Tod sicher auch schmerzlich berührt?“
Sie nickte, und ihre Augen wurden feucht. „Oh, wie sehr! Ich kann immer noch nicht ruhig an sein jähes Ende denken. Ich – ich selbst habe ihn damals im Steinbruch gefunden – und in unserem Haus ist er dann gestorben. Sehen Sie, da drüben liegt der Steinbruch – Sie können gerade das Stück Straße durch die Bäume sehen, wo der Wagen abgestürzt ist.“
Sie zeigte hinüber. Er folgte mit den Blicken ihrer Hand.
„Ich weiß noch sehr wenig über das Unglück, dem er in der Blüte seiner Jahre zum Opfer fiel.“
Sie erzählte ihm mit bewegter Stimme, wie sie Kurt gefunden, wie er mit dem Haßler, der nun völlig wiederhergestellt war, nach Hartenfels gebracht worden und wie er nach wenigen Stunden gestorben war, ohne zu ahnen, was ihm bevorstand. Nur davon sprach sie nicht, wie sie Kurt durch ihre fromme Lüge das Sterben leicht gemacht hatte.
Hasso hatte aufmerksam zugehört. „Ich war durch die Kunde von meines Vetters plötzlichem Tod tief erschüttert“, sagte er ernst. „Früher habe ich ihm nicht nahe gestanden, ich habe ihn erst später kennen gelernt und weiß, dass er ein guter, wertvoller Mensch war.“
„Der Besten einer“, erwiderte sie warm.
Inzwischen waren sie bis ans Hartenfelser Herrenhaus gekommen.
„Also, Sie trinken eine Tasse Tee mit uns, Herr von Ried?“, fragte Carry.
Unschlüssig sah er sie an. „Ich möchte sehr gern. Aber was wird Ihre Frau Mutter zu meinem Überfall sagen?“
„Ich übernehme die Verantwortung und garantiere Ihnen einen freundlichen Empfang.“
Er verneigte sich. „Dann mit tausend Freuden, gnädiges Fräulein.“
Wenige Augenblicke später stand Hasso vor Frau von Hartenfels. Sie kam ihm überrascht entgegen und reichte ihm die Hand.
„Also endlich eingetroffen, mein lieber Herr von Ried. Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen, wenn auch die Veranlassung zu Ihrer Rückkehr eine sehr traurige war.“
Hasso küsste ihr die Hand, und als er in ihr Antlitz, in ihre Augen sah, dachte er: Jetzt weiß ich, an wen mich Fräulein von Hartenfels erinnerte – an ihre Mutter. Sie hat dieselben Augen wie sie, dieselben hellen Augen und dunklen Wimpern und Brauen.
Und nun grübelte er nicht mehr darüber nach, weshalb ihm Carry so bekannt vorgekommen war.
„Gnädige Frau, verzeihen Sie gütigst mein etwas formloses Eindringen in Ihr friedliches Heim. Ihr Fräulein Tochter hat mich sozusagen im Wald aufgelesen und mir für mein Eindringen völlige Straffreiheit zugesichert.“
„Ja, Mamascha, ich hätte Herrn von Ried beinahe überrodelt und habe ihm als Entschädigung dafür eine Tasse Tee versprochen. Ich hoffe, du machst mich nicht wortbrüchig“, scherzte Carry.
Frau von Hartenfels sah erfreut in ihr munteres Gesicht. „Nein, das werde ich selbstverständlich nicht tun. Ich freue mich aufrichtig, dass Sie so ohne alle Umstände zu uns kommen. Wir haben es jetzt so einsam in Hartenfels, dass wir für jeden Gast dankbar sind – und nun gar einen so lieben Gast.“
„Nun kann ich Sie also beruhigt in Mamaschas Gesellschaft zurücklassen, Herr von Ried. Mich verlangt danach, mein Sportkostüm gegen ein Hauskleid zu vertauschen. Auf Wiedersehen in fünf Minuten.“
Damit nickte Carry Hasso zu und sprang mit elastischen Bewegungen die Treppe hinauf.
Hasso sah ihr selbstvergessen nach und wandte sich dann hastig Frau von Hartenfels wieder zu, als diese ihn aufforderte, in ihren Salon einzutreten.
Hier war der Teetisch bereits für zwei Personen gedeckt. Auf ein Klingelzeichen der Hausfrau rollte ein Diener den Teewagen herein, auf dem sich alles befand, was zu einem Fünfuhrtee gehörte. Mit einem leisen Wink auf ihren Gast veranlasste die Hausfrau, dass der Diener noch ein Gedeck auflegte.
Hasso empfand ein inniges Behagen, als er diese Vorbereitungen sah. Er hatte doch monatelang solchen Komfort nicht mehr kennen gelernt. Und als dann nach wenigen Minuten Carry erschien, in einem reizenden Kleid aus weinroter Seide, da wurde ihm noch viel behaglicher zumute. Seine Augen weideten sich an den beiden eleganten Damen, an der geschmackvollen Zimmereinrichtung, an dem angenehmen Licht der hohen Stehlampe und an dem reizend arrangierten Teetisch.
Als er sich nach einer Stunde erhob, um sich zu verabschieden, tat er es mit einem Gefühl des Bedauerns.
Frau von Hartenfels bot ihm einen Wagen an, damit er sich in der Dunkelheit nicht verirrte, und er nahm ihn dankbar an.
Als er davongefahren war, stand Carry in tiefe Gedanken versunken am Fenster und sah ihm nach. Da trat ihre Mutter zu ihr und legte den Arm um ihre Schultern. „Nun, Carry, wie gefällt dir der neue Majoratsherr von Marwedel?“
Carry fuhr aus ihren Gedanken auf und sah zu ihrer Mutter empor. Sie zögerte mit der Antwort, aber dann umfasste sie plötzlich die Mutter mit beiden Armen und sagte erregt: „Ich sah ihn heute nicht zum ersten Mal, Mamascha.“
Frau von Hartenfels hatte ihrer Tochter schon beim Tee angemerkt, dass sie nicht so ruhig war, wie sie scheinen wollte.
„Nicht zum ersten Mal? So bist du ihm also doch schon in Marwedel begegnet?“
Carry schüttelte den Kopf. „Nein, nicht in Marwedel, sondern in Berlin.“
„In Berlin?“
„Ja, Mamascha, am Tage unserer Abreise. Erinnerst du dich, dass ich dir von einem interessanten Gardeleutnant erzählte, der dasselbe Auto bestieg, das ich bis zu Hamann benutzt hatte. Ich verglich ihn mit dem Drachentöter St. Georg.“
„Ach richtig, ich scherzte noch darüber.“
„Es war Herr von Ried, was ich natürlich damals nicht wusste.“
Frau von Hartenfels sah ihre Tochter forschend an. „Also er war das. Und du erkanntest ihn gleich wieder?“
„Natürlich, auf den ersten Blick. So eine interessante Erscheinung vergisst man doch nicht.“
„Und er hat dich auch wiedererkannt?“
„Nein.“
„Du hast ihm aber auch nicht gesagt, dass du ihn wiedererkannt hast?“
Carry schüttelte heftig den Kopf. „Das soll er nicht wissen.“
Frau von Hartenfels fragte nun nichts mehr, aber Carrys heiße Wangen und ihre glänzenden Augen verrieten ihr viel.
***
Viel Arbeit hatte Hasso in Marwedel erwartet, es war so manches liegen geblieben, worüber er seine Entscheidung selbst treffen musste.
Aber in all seinen Geschäften musste er wieder und wieder an Carry denken. Zwischen Zahlenreihen und Dokumenten tauchte der blonde Mädchenkopf auf und sah ihm mit den großen leuchtenden Grauaugen bis tief ins Herz hinein.
Sooft er Zeit hatte, fuhr er nach Hartenfels hinüber. Er sagte sich selbst, dass es zu oft geschah. Aber es zog ihn wie mit Zauberbanden hinüber, und er war erfinderisch in allerlei Vorwänden für seine Besuche. Immer hatte er scheinbar etwas Geschäftliches mit Frau von Hartenfels zu besprechen, sie um Rat zu fragen oder ihr irgendwelche Vorschläge zu machen.
Schließlich, als er etwas mehr Zeit hatte, erreichte er, dass ihm Carry gestattete, sie beim Eislauf zu begleiten und mit ihr zu rodeln. Dabei kamen sie einander schnell näher. Hasso fühlte sich im Verkehr mit der lebenslustigen jungen Dame ungemein jung und froh. Ihm schien, als sei ihm jetzt erst der volle Wert des Lebens aufgegangen.
Zum ersten Mal öffnete sich sein Herz einer ernsten, tiefen Liebe. Und sie nahm so ausschließlich von ihm Besitz, dass er kaum noch an etwas anderes denken konnte.
Frau von Hartenfels sah mit ihren klugen Augen sehr bald, wie es um die beiden jungen Leute stand, und sie wurde dabei selbst wieder jung im Herzen und freute sich an dem Aufblühen der beiderseitigen Herzensneigung.
So ging der Winter vorüber.
Als die ersten lauen Frühlingswinde, die sich in diesem Jahr sehr zeitig einstellten, wehten, musste es mit Eislaufen und Rodeln zu Ende sein. Aber dafür konnten die jungen Herrschaften nun zu Pferde den Wald durchstreifen.
Eines Tages brachte Hasso Carry einen Strauß selbst gesuchter Schneeglöckchen mit. „Die ersten Frühlingsboten – sie grüßen ihre holde Schwester“, sagte er mit dem warmen, verhaltenen Ton, den er immer für sie hatte.
Sie steckte die Blumen an den kleinen herzförmigen Ausschnitt ihres Kleides und seine Augen sahen ihr entzückt zu.
Ganz zufällig begegneten sich Hasso und Carry immer wieder, wenn sie durch den Wald oder über die Felder ritten. Noch öfter trafen sie oben auf dem Berg zusammen, wo sie merkwürdig oft die gute Aussicht bewunderten. Wenn Hasso hinaufkam, sah er nach der Seite hinab, wo das Hartenfelser Herrenhaus stand, und wenn Carry hinaufkam, blickte sie verträumt auf das Schloss mit den sieben Türmen.
Aber meist stand sie nicht lange allein da oben. Vielleicht hatte ihre Sehnsucht Zaubergewalt, denn Hasso kam fast immer nach kurzer Zeit, atemlos vom schnellen Lauf, oben an.
Dann begrüßten sie sich scheinbar unbefangen und sprachen gleichgültige Worte, während ihre Blicke ineinander hingen und eine ganz andere Sprache redeten. Ein heimlich süßes Bangen erfüllte dann Carrys Herz, und das seine klopfte in harten, wilden Schlägen, als wollte es die Brust zersprengen.
Inzwischen war Hasso mit den Freunden in brieflicher Verbindung geblieben. Ende März erhielt er ein Schreiben von Baron Platen. Es lautete:
Mein lieber Hasso! Endlich komme ich zu einem längeren, ausführlichen Schreiben an dich. In den letzten Wochen hatten wir ziemlich viel Betrieb. Rudi Kronau und seine junge Gattin waren bei uns zu Gast, und wir haben eine herrliche Zeit zusammen verlebt.
Meine Frau hat sich mit Rudis Frau herzlich befreundet, und es hat nicht den leisesten Misston zwischen uns allen gegeben. Wir waren aber auch alle vier in Flitterwochenstimmung. Liebster Hasso, ich sage dir, gehe hin und tue desgleichen. Suche dir bald eine süße kleine Majoratsherrin, denn du kannst mir glauben, es ist ganz wundervoll, verheiratet zu sein.
Meine Lena lässt dich herzlich grüßen und sieht nach wie vor in dir den Gründer unseres Glücks – und mit Recht.
An Wiesbaden kann ich jetzt ganz ruhig denken. Ich war gestern mit Lena drüben und bin sogar Herrn und Frau Dr. Alvensleben begegnet, ohne dass mein Herz nur gezuckt hat.
Wir haben uns jetzt in unserem Taunusschloss gemütlich und behaglich eingerichtet, und ich hoffe sehr, dass wir auch dich bald einmal wieder bei uns begrüßen können. Rudi und seine Frau sind von hier aus nach Italien weitergereist. Danach beabsichtigen sie noch einen Abstecher nach Ägypten zu machen. Rudis Frau ist ungemein frisch und unternehmungslustig. Er ist an ihrer Seite wunschlos glücklich – wie sie an der seinen.
Wir erhielten auch einen Brief von Leo. Er teilt uns mit, dass er auf deinen Rat hin mit Deckmann in Unterhandlung getreten ist, und er hofft, seine Farm an ihn zu verkaufen. Wenn alles klappt, kommt er im Sommer zu uns und übernimmt dann das Gut in Thüringen. Dann ist er dir ziemlich nahe, und Ihr könnt schnell mal zusammenkommen.
Lena ist froh, dass ihr Bruder bald kommen wird, und noch froher, dass sie selbst nicht mehr nach Südwest zurück muss.
Hoffentlich höre ich auch von dir nun einmal Ausführliches. Deine letzten Nachrichten waren im Telegrammstil abgefasst. Ich kann mir ja denken, dass du viel zu tun hast, bis du in deinen neuen Pflichtenkreis eingearbeitet bist.
Dass du deinen Abschied mit einer Rangerhöhung bewilligt bekommen hast, ist nur recht und billig. Die hast du dir bei den Bergdamaras redlich verdient. Und Treumann kommt also im Herbst für immer zu dir, sobald seine Dienstzeit beendet ist. Recht so, mein Alter – Treue um Treue.
Und damit will ich schließen. Hoffentlich findest du auch bald eine liebe Frau. Glaube mir, solange man unverheiratet ist, ist man nur ein halber Mensch. Also, mache es mir bald nach! Und lass von dir hören! Mit treuem Gruß und Handschlag!
Dein alter Norbert
Mit frohen Augen sah Hasso auf diesen Brief hinab. Wahrlich, Norbert hatte es nicht nötig, ihm zuzureden und ihm das Herz noch mehr mit Sehnsucht zu erfüllen. Seit er fast täglich mit Carry von Hartenfels zusammen war, konnte er sich sehr wohl vorstellen, dass es wundervoll sein müsse, verheiratet zu sein. Er war längst mit sich einig, dass Carry seine Frau werden müsse, wenn sie nur wollte.
Er atmete tief und trat ans offene Fenster seines Arbeitszimmers. Der treibende Frühling, der alles Leben zu voller Kraft erweckte, saß ihm im Blut.
Und wie so oft flog sein Blick zum Berg hinauf, der Marwedel von Hartenfels schied. Neben dem Fenster lag auf einem Tischchen immer ein Feldstecher bereit. Es war ein scharfes, gutes Glas. Damit hatte er schon oft hinaufgespäht, und es hatte schon manche zufällige Begegnung da oben herbeigeführt.
Auch jetzt nahm er es zur Hand. Und kaum hatte er das Glas an die Augen gesetzt, legte er es schon wieder hastig zur Seite. Er stürmte aus dem Zimmer. Draußen nahm er einen Hut und lief, wie er ging und stand, im Reitanzug hinaus ins Freie. Er hatte oben auf dem Berg eine schlanke Frauengestalt entdeckt, und er wusste, das war Carry, sein Herz sagte es ihm.
Er nahm sich nicht die Zeit, den Berg zu umgehen bis zu dem aufwärts führenden Pfad. Mitten durch das Unterholz brach er sich Bahn und kletterte den steilen Abhang empor.
Als er oben auf dem Plateau anlangte, sah er sich enttäuscht um. Der Platz, auf dem Carry zu sehen gewesen war, war leer.
Unruhig spähte er umher. Und da erblickte er sie. Fast hätte er einen Freudenlaut ausgestoßen. Da drüben stand sie, an einen Baum gelehnt, und sah mit sehnsüchtigen Augen den Weg hinab, auf dem er sonst heraufzusteigen pflegte. In seinem Herzen jubelte es. Er fühlte – sie wartete auf ihn – sehnte sich nach ihm, wie er sich nach ihr gesehnt hatte.
Vorsichtig schlich er hinüber und stand plötzlich vor ihr. Stumm, mit heißen Augen sah er sie an.
Sie zuckte zusammen und machte unwillkürlich eine fluchtartige Bewegung. Er fasste mit einem raschen Griff ihre Hand. „Nein, Sie dürfen mir nicht entfliehen! Carry, Sie müssen es doch wissen, dass ich Sie liebe. Sagen Sie mir, Carry, habe ich mich getäuscht, wenn ich in Ihren Augen das gleiche Empfinden zu lesen glaubte?“
Sie erzitterte. Ihre Hand ruhte willenlos in der seinen. Sie sah ihn an, und er hielt ihre Augen fest mit seinem zwingenden Blick, der ihr bis ins tiefste Herz hineindrang.
Sie wollte antworten und konnte nicht. In mädchenhafter Scheu war all ihr frischer Mut erstorben. Aber in ihren Augen las er, dass er geliebt wurde.
Aufatmend zog er sie an sich, ohne dass sie es ihm wehrte, und drückte stumm seine heißen Lippen auf ihren zuckenden Mund.
Der Frühlingswind strich lind über den Berg und umkoste die beiden glückseligen Menschen. Sie merkten es nicht. Carry lag in Hassos Armen und trank Seligkeit von seinen Lippen, wie er von den ihren.
Dann sah er sie an, und ein weiches Lächeln lag auf seinen Zügen. „Ist mein Herzlieb stumm geworden, findet dieser liebe Mund kein einziges Wort für mich?“, fragte er mit überströmender Zärtlichkeit.
Sie schmiegte sich, erzitternd vor Glück, in seine Arme. „Ich hab dich lieb – so unsagbar lieb – lange schon“, sagte sie leise, mit verhaltener Innigkeit.
Wieder küsste er ihren Mund, und dann sah er ihn an und sagte mit glücklichem Lächeln: „Das alles ist nun mein – mein für immerdar. Wie reich bin ich! Ach Herzlieb, wie beseligt es mich, zu wissen, dass du mein bist. Diese reinen Lippen haben mir den ersten Liebeskuss gegeben. Nicht wahr, meine Carry, du hast vor mir keinen anderen Mann geküsst, dein Herz hat keinen anderen vor mir geliebt?“
Ihre leuchtenden Augen strahlten in die seinen. „Nein, Hasso, du bist der erste und einzige Mann, den ich liebe, Dir allein hat sich meine Seele ergeben, und sie wird nie von dir lassen.“
Er presste sie fest an sich. „Herzlieb, wir Männer sind Egoisten. Uns wirbelt das Leben herum, und wir kommen nicht rein und unberührt in den Hafen. Aber die Frauen, die wir lieben und an unsere Seite stellen, sollen den Blütenstaub noch nicht abgestreift haben. Wir wollen immer der Erste sein im Herzen der Frau. Ich glaube, ich könnte vor Eifersucht nicht zur Ruhe kommen, wüsste ich, dass meine Frau vor mir einen anderen Mann geliebt hat. Und deshalb macht es mich so glücklich, dass ich deine erste Liebe bin.“
Sie nickte selig und sah ihn mit ihren hellen, leuchtenden Augen an, dass ihm ein Schauer des Entzückens über den Körper rann.
Und sie küssten sich wieder und gingen dann, innig umschlungen, den Berg hinab.
Arm in Arm trafen sie in Hartenfels ein. Vor der Pforte blieb Hasso, wie aus einem Traum erwachend, stehen und sah an sich herab.
„Herzlieb, kann ich so vor deine Mutter treten, um sie um ihren Segen zu bitten zu unserem Bund?“, fragte er, auf seinen Reitanzug deutend.
Carry strich sich das Haar aus der Stirn und lachte leise. „Ach, Hasso, wenn du mit einer solchen Bitte zu Mamascha kommst, wird sie nicht auf deine Kleider sehen, sondern nur auf den Mann, der darin steckt. Sag ihr nur, dass du mein Glück bist, dann bist du ihr in jedem Anzug lieb.“
Er atmete auf. „Also, dann wage ich es.“
Und sie betraten das Haus und suchten die Mutter auf. Sie kam ihnen in ihrem kleinen Salon entgegen und sah den beiden strahlenden Augenpaaren sogleich an, dass etwas Besonderes geschehen war.
So war sie gar nicht erstaunt, als Hasso seine Werbung vorbrachte. Aber sehr bewegt war sie, als sie die Hände der beiden jungen Menschen zusammenlegte. „Haltet euch fest, meine Kinder, ein ganzes, langes Leben! Und möge euer Glück immer inniger und tiefer werden. Darum will ich täglich beten.“
Nach einer Weile ließ sie die beiden Glücklichen allein. Hasso sollte zu Tisch bleiben, und sie schützte Hausfrauenpflichten vor, um den Liebenden ein Alleinsein zu gönnen.
Hasso zog Carry schnell in seine Arme und sah ihr zärtlich in die Augen. „Süße, ich habe ja nicht geahnt, dass ein Mensch so glücklich sein kann, wie ich es bin. Wie lieb ich dich habe – ich glaube, von dem Augenblick an, als du mir mit deinem Rodelschlitten entgegenkamst. Ich hatte gleich das Gefühl, als sähe ich dich nicht zum ersten Mal. Wahrscheinlich hat mein Herz dich schon im Traum gesehen“, sagte er.
Mit einem schelmischen Lächeln, das ihn entzückte, sah sie zu ihm auf und legte ihre Hände auf seine Schultern. „Damals sahst du mich auch in Wirklichkeit nicht zum ersten Mal, Hasso. Wir sind schon ganz alte Bekannte. Du hast kein gutes Gedächtnis.“
Er stutzte und sah sie fragend an. „Ich verstehe dich nicht, Herzlieb. Was meinst du damit?“
„Oh, ich habe unsere erste Begegnung nicht vergessen wie ein gewisser Gardeoffizier in Berlin“, neckte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Haben wir uns früher schon gesehen? Sag mir doch, Carry, wo und wann ist das geschehen?“
Sie lachte übermütig. „Ach, Hasso, welch ein schlechtes Gedächtnis du hast. Erinnere dich, es ist jetzt ungefähr ein Jahr her. Da bestiegst du in Berlin am Kurfürstendamm ein Auto, das eben eine junge Dame benutzt hatte. Sie blieb mit der Schutzkette ihres Armbandes am Türgriff hängen.“
Hassos Gesicht nahm plötzlich einen gespannten Ausdruck an. Er strich sich wie besinnend über die Augen. Das kleine Erlebnis mit der gefundenen Handtasche erwachte plötzlich in seiner Erinnerung.
„Und – weiter?“, sagte er wie geistesabwesend.
Sie lachte leise. „Du löstest die Schutzkette ab, kamst der Dame zu Hilfe und sahst dir eine kleine Münze an, die an dem Armband hing. Darüber hast du Böser versäumt, mich genauer anzusehen. Sieh her – das ist die Münze.“
Sie zeigte ihm ihr Armband, an dem die Münze hing mit dem springenden Eber im Wappen und dem Wahlspruch: „Treu und unverzagt“ auf dem Spruchband.
Er zuckte zusammen und sah auf die Münze herab, als sei der Blitz vor ihm eingeschlagen. Leichenblass wurde er. Plötzlich sah er den kompromittierenden Brief vor sich, den er in der Handtasche gefunden hatte. Wie mit feurigen Buchstaben geschrieben stand er vor seinen Augen:
Ich kann dir nie genug danken, dass du gestern Abend zu mir kamst und allem zum Trotz vor Gott mein Weib wurdest.
Diese Stelle hatte sich in seinem Gedächtnis eingeprägt. Und dieser Brief war an Carry, an seine Carry geschrieben worden. Ein Chaos von Gedanken und Gefühlen erfüllte ihn und raubte ihm alles klare Denken. Nur das fiel ihm noch ein, dass die Handtasche mit dem Monogramm C.H. gekennzeichnet war. Carry Hartenfels. Es stimmte genau.
Er starrte Carry entsetzt an. Seine Züge verzerrten sich. Nein, nein, darüber kam er nicht hinweg. Kein Mann von Ehre konnte um ein Weib freien, das ihn so belogen und betrogen, das sich einem anderen so hingegeben hatte! Er wenigstens konnte das nicht – um keinen Preis der Welt. Und wenn ihm das Herz in Stücke ging, wenn er todunglücklich wurde, es konnte keine Gemeinschaft zwischen ihnen geben.
Wie im Krampf fasste er sie am Handgelenk. „Das warst du?“, keuchte er heiser.
Sie erschrak. „Hasso, was ist dir?“
Er sah sie mit einem qualerfüllten Blick an. Jetzt wusste er, wo er diese Augen gesehen hatte, diese Augen, die rein wie der Himmel schienen und hinter denen die Lüge wohnte.
„Und du hattest den Mut, mir zu sagen, du hättest noch keinen Mann geliebt – noch keinem gehört –, keinen geküsst!“, stieß er heiser hervor.
Sie verfärbte sich. Dunkle Glut schoss plötzlich in ihr Antlitz. Sie dachte in diesem Moment erst daran, dass sie Kurt von Ried in seiner Sterbestunde geküsst hatte. Wie Hasso das wissen konnte, wie er gerade jetzt darauf kam, war ihr rätselhaft. Aber sie zweifelte keinen Moment, dass er das meinte. Sie erzitterte leise und sah ihn verwirrt und betreten an, ahnungslos, welchen Verdacht sie ihm damit bestätigte.
„Wie kommst du jetzt darauf, Hasso? Ich hatte nicht mehr daran gedacht. Verzeih mir, dass ich dir das nicht beichtete – ich hätte dir natürlich später alles erzählt, wie es kam.“
Er stieß ihren Arm von sich. Ein höhnisches, bitteres Lachen rang sich wie ein Schrei aus seiner Brust. „Ah, es ist nicht nötig, dass du beichtest, ich weiß alles, was ich wissen muss, habe ich ja schwarz auf weiß in dem Brief gelesen. Nein, nach dieser Eröffnung ist es mir unmöglich, dich zu meiner Frau zu machen. Ich habe dir gesagt, dass ich der Erste sein will im Herzen der Frau, die ich an meine Seite stellen will. Du hast mich betrogen. Das scheidet uns – für immer. Sag deiner Mutter, was du für gut hältst! Wirf meinetwegen alle Schuld auf mich. Ich kann nach dieser Erkenntnis meine Werbung nicht aufrechterhalten. Leb wohl! Wir haben uns nichts mehr zu sagen!“
So stieß er hastig und außer sich hervor, während in seinen Augen ein heißer, bitterer Schmerz brannte.
Ehe Carry nur fassen, nur begreifen konnte, was er vorhatte, war er schon zur Tür hinaus und stürmte davon.
Wie ein Sinnloser lief er durch den Wald, weiter und weiter und rang in ohnmächtigem Schmerz mit der Verzweiflung in seinem Herzen.
Das Mädchen, das er liebte, das er für den Inbegriff aller Reinheit und Lauterkeit gehalten hatte, war schon das Eigentum eines anderen Mannes gewesen! Sie war vor Gott sein Weib geworden, wie es in dem Brief hieß. Irgendwo in der Welt lebte ein Mann, der sie besessen, der ihr Ruf und Ehre gestohlen hatte. Warum hatte er sie nicht zu seiner Frau gemacht?
Und sie? Sie nahm nun den ersten besten, der ihre Schmach mit seinem ehrlichen Namen zudeckte. Und sie heuchelte ihm Liebe. Ja – sie hatte ihm Liebe geheuchelt, denn wenn sie ihn geliebt hätte, dann hätte sie ihn nicht belogen und betrogen.
Wie ein Verzweifelter rannte er umher, und als er endlich todmüde zu Hause ankam, hatte er sich zu einem Entschluss durchgerungen. Er musste fort, er konnte und durfte sie nicht wiedersehen. Wohin er gehen würde, wusste er selbst nicht. Nur fort von hier.
Und er ließ sogleich seine Koffer packen, gab dem Verwalter Instruktionen und besprach mit Frau Wohlgemut alles Nötige. Er zeigte dabei ein ganz versteinertes Gesicht, und die beiden alten Leute sahen sich kopfschüttelnd an, weil ihnen diese plötzliche Reise „für längere Zeit“, wie Hasso gesagt hatte, seltsam erschien.
Aber sie sagten nichts. Und gegen Abend fuhr Hasso von Ried zum Bahnhof. Mit starren Augen sah er vor sich hin. Sein Antlitz war fahl wie das eines Kranken.
***
Carry hatte fassungslos hinter Hasso hergesehen. Sie wusste nicht, was eigentlich geschehen war, und verstand nicht, weshalb er mitten aus der heißesten Zärtlichkeit heraus so höhnisch und zornig geworden war.
Selbst wenn er auf irgendeine ihr unerklärliche Weise erfahren hatte, was zwischen Kurt und ihr in dessen Sterbestunde geschehen war – konnte er ihr daraus einen Vorwurf machen? Durfte er sie der Lüge zeihen, nur weil sie in ihrer Glückseligkeit jene Stunde vergessen hatte?
Aber bei alledem war noch etwas Rätselhaftes, Unbegreifliches. Warum kam er gerade auf diese Angelegenheit, als sie ihn an die Begegnung in Berlin erinnerte? Warum hatte er so außer sich, so entsetzt gefragt: „Das warst du?“ Sie war so fassungslos erschrocken, dass sie ihrer Mutter weinend um den Hals fiel, als diese nach einer Weile eintrat.
Frau von Hartenfels glaubte ein glückliches Brautpaar zu finden und erschrak über ihre weinende Tochter. „Mein Gott, Carry, was ist denn geschehen?“, fragte sie. „Wo ist Hasso?“
„Er ist fort, Mama, in Zorn und Schmerz fortgelaufen“, sagte Carry schluchzend und erzählte ihrer Mutter alles, was geschehen war.
Die Mutter hörte ebenfalls fassungslos zu. Sie verstand so wenig wie ihre Tochter Hassos Handlungsweise.
Sie ließ sich noch einmal alles Wort für Wort erzählen, und als sie lange Zeit darüber nachgedacht hatte, zog sie Carry an sich.
„Beruhige dich, Carry! Je mehr ich mir das alles überlege, je sicherer komme ich zu der Annahme, dass hier irgendein verhängnisvoller Irrtum vorliegt. Kein Mensch, auch der strengste nicht, kann dir einen Vorwurf daraus machen, dass du deinem sterbenden Freund durch eine fromme Lüge das Sterben leichter machtest. Und der Kuss, den du ihm gabst, war ein Werk der Barmherzigkeit.
Nein, nein, das kann es nicht sein, was er dir zum Vorwurf machte – er hätte es sicher verstanden und gebilligt. Mag Gott wissen, was dahintersteckt! Es muss doch, wie ich die Sache übersehe, mit eurer ersten Begegnung in Berlin zusammenhängen. Ich werde sofort nach Marwedel hinüberfahren und mit ihm sprechen.“
Und Frau von Hartenfels ließ ihr Auto vorfahren.
Unterwegs überlegte sie, was sie Hasso sagen sollte. Zweifellos hatte sie ein Recht, nachdem er seine Werbung vorgebracht hatte, ihn zu fragen, warum er plötzlich von einer Verbindung mit ihrer Tochter zurücktreten wollte.
Als das Auto vor der Freitreppe von Schloss Marwedel hielt, kam ein Diener herbei.
„Bitte, melden Sie mich Herrn von Ried“, sagte sie. „Ich lasse ihn bitten, mich in einer äußerst wichtigen Angelegenheit zu empfangen.“
„Gnädige Frau verzeihen, aber der gnädige Herr ist vor einer halben Stunde abgereist“, erwiderte der Diener.
„Abgereist“, stieß sie erschrocken hervor.
„Ja, gnädige Frau, es kam ganz plötzlich. Der gnädige Herr kam am Nachmittag nach Hause und befahl sogleich, dass seine Koffer gepackt würden.“
„Und wohin ist er gereist?“
„Das hat der gnädige Herr nicht hinterlassen. Er will später seine Adresse angeben. Aber vielleicht finden gnädige Frau Aufschluss in einem Schreiben, das der gnädige Herr zurückgelassen hat.“
„Ein Schreiben – an wen?“
„An gnädige Frau selbst. Es sollte morgen Früh mit einem Boten nach Hartenfels geschickt werden.“
Frau von Hartenfels stieg entschlossen aus und betrat die große Eingangshalle des Schlosses. „Holen Sie mir bitte das Schreiben!“, sagte sie, sich zur Ruhe zwingend.
„Sehr wohl, gnädige Frau.“
Der Diener entfernte sich, und Frau von Hartenfels, der vor Aufregung die Knie zitterten, fiel in einen Sessel.
Endlich kam der Diener zurück und brachte ihr auf einer silbernen Platte den Brief. Sie öffnete ihn hastig und las:
Hochverehrte gnädige Frau!
Es schmerzt mich, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich von dem Verlöbnis mit Ihrem Fräulein Tochter zurücktreten muss. Ich hoffe, Sie kennen mich gut genug, um zu wissen, dass nur unabweisbare Gründe mich dazu zwingen konnten.
Ihr Fräulein Tochter wird Ihnen alles erklären. Ich leide namenlos, kann aber meiner innersten Überzeugung nach nicht anders handeln, als ein Band lösen, das, kaum geknüpft, zur unerträglichen Marter wurde.
Ich kann nichts weiter tun, als Sie von Herzen um Verzeihung zu bitten, dass ich mich zu dieser Handlungsweise entschließen musste. Um einer Begegnung zwischen uns auszuweichen, bin ich abgereist. Zum Glück weiß noch kein Mensch um unsere Beziehungen. So wird es Ihnen gelingen, jedes Aufsehen zu vermeiden.
Nochmals – verzeihen Sie mir!
Ihr ergebener Hasso von Ried
Fassungslos las Frau von Hartenfels den Brief und steckte ihn dann zu sich.
Sie fuhr unruhig, wie sie gekommen war, wieder zurück. Carry kam ihr voll Erregung entgegen. Ihre Augen brannten wie im Fieber, und als sie die Mutter allein aus dem Wagen steigen sah, wurde sie bleich.
„Mamascha, du kommst allein?“
Die Mutter führte sie in ein Zimmer. „Er ist abgereist, Carry. Ich habe ihn nicht sprechen können. Aber er hat einen Brief an mich hinterlassen.“
„Einen Brief? Was schreibt er?“, forschte Carry unruhig.
Da gab ihr die Mutter den Brief.
Carry las, und ihr Gesicht wurde noch bleicher. Ein Ausdruck namenloser Qual lag darauf.
„Was ist es nur, das mein und sein Glück so verdunkelt hat? Er leidet wie ich, Mamascha. Kann das alles nur sein, weil ich mit Kurt Erbarmen hatte? Hältst du es für möglich, dass ein Mann so namenlos eifersüchtig auf einen Toten ist, selbst wenn er annehmen müsste, ich hätte Kurt geliebt?“
Die Mutter schüttelte den Kopf. „Eifersucht ist ein peinvolles, rätselhaftes Gefühl und kann sehr unglücklich machen. Aber nach allem, was du mir erzählt hast, und nach dem, was ich aus seinem Brief las, kann ich nicht glauben, dass es sich um die Angelegenheit mit Kurt handelt. Überleg dir doch – sein Zorn, seine Verzweiflung erwachten, als du von eurer Begegnung in Berlin sprachst, als du ihm das Armband mit der Münze zeigtest. Ich bleibe dabei, es muss irgendein verhängnisvoller Irrtum sein, der seine Handlungsweise dir gegenüber bestimmte.“
Carry sank in einen Sessel und sah trostlos vor sich hin. „Ich begreife nichts – nichts, Mamascha! Ich weiß nur, dass ich nun nie mehr froh sein kann, denn ich liebe ihn.“
***
Hasso von Ried war an jenem Tag abgereist, ohne recht zu wissen, was er in seiner Verzweiflung tat. Er wusste nur, dass er Carry nicht wiedersehen durfte.
Während er ganz allein in einem Abteil erster Klasse saß in dem Zug, der nach Berlin fuhr, suchte er seine Gedanken zu ordnen. Er rief sich die Szene mit Carry ins Gedächtnis zurück – wie er erst so glücklich gewesen war und wie sie ihn dann an die Begegnung in Berlin erinnert hatte. Warum hatte sie das getan?
Und dann suchten seine eifersüchtigen Gedanken den anderen, der sie besessen hatte. Wie sehr musste sie jenen Mann geliebt haben, dass sie alles seinetwegen vergaß. Und jener andere hatte sie dann verlassen aus irgendeinem Grund, und sie fand nun keinen Ausweg aus ihrer Schmach, als dass sie einen anderen betrog.
Und dieser andere war er.
Vielleicht war sie nur deshalb so liebenswürdig zu ihm gewesen, als er ihr an der Rodelbahn begegnete. Ihm wollte jetzt scheinen, als hätte sie damals stolzer und zurückhaltender sein müssen. Er sah jetzt alles mit misstrauischen Augen an.
Er wollte sein Herz gegen sie verhärten, dass es nicht mehr den furchtbaren Schmerz fühlen sollte. Seine Liebe sollte sterben in Zorn und Verachtung. Aber … sie starb nicht, starb trotz allem nicht. Zu all seiner Pein kam immer wieder die heiße Sehnsucht nach ihrem Anblick – nach ihrem Besitz. Die reine, anbetende Liebe, die er für sie empfunden hatte, wurde zu einer heißen, fiebernden Leidenschaft.
Umkehren, alles vergessen unter heißen Küssen! Warum war er geflohen, warum hatte er sie nicht in seine Arme gerissen und mit seinen Küssen alles erstickt? Warum hatte er sie nicht genommen, wie sie der andere genommen hatte? Vielleicht war sie auch gar nicht so sehr schuldig, vielleicht gab es Milderungsgründe für sie. Und schließlich – kam er denn rein und unberührt zu ihr? Musste sie sich nicht auch damit zufrieden geben? Warum verlangte er mehr, als er zu geben hatte?
Mit zusammengebissenen Zähnen warf er sich in die Polster. Um sich abzulenken, griff er nach einer Zeitung. Sein Blick fiel auf die Überschrift: „Ostern in Rom“.
Er musste daran denken, dass er vor einigen Jahren das Osterfest in Rom verlebt hatte. Damals hatte ihn die Osterfeier in der Peterskirche sehr berührt. Er hatte ein seltsames Losgelöstsein von allem Irdischen empfunden. Und nun erwachte plötzlich die Sehnsucht, wieder wie damals unter der gläubigen Menge in dem hohen Dom zu stehen und dieser Feier beizuwohnen.
In Berlin nahm er nur einen kurzen Aufenthalt. Schon am nächsten Morgen fuhr er weiter.
Er erreichte Rom kurz vor dem Auferstehungsfest. Wie er es sich vorgenommen hatte, nahm er teil an der Osterfeier in der Peterskirche und war wie das erste Mal tief ergriffen von der Weihe des Ortes und der prunkvollen gottesdienstlichen Handlung.
Als er den Dom verließ, lief er ziellos durch die Straßen. Was nun?, fragte er sich. Wohin lenke ich nun meine Schritte?
Es trieb ihn voll Unrast umher. Und ohne bestimmte Absicht fuhr er weiter nach Neapel.
Hier kam ihm die Lust zu einer Mittelmeerreise an. Er begab sich ohne langes Überlegen auf einen Dampfer. Es war, als lenke ein anderer seine Schritte, er wusste nicht, weshalb er eine Fahrkarte nach Alexandrien löste. Vielleicht tat er es, weil eine Dame neben ihm den Namen dieser Stadt aussprach.
Der Dampfer, den er benutzte, war stark besetzt. Es herrschte ein reges, fröhliches Leben darauf. Die Gesellschaft war international.
Auf dem Dampfer hörte er von Kairo sprechen, von dem ägyptischen Badeort Heluan, von Nilreisen und von den Pyramiden. Daraus stellte er sich selbst eine Art Reiseprogramm zusammen. Ägypten kannte er noch nicht, früher hatte er das Geld zu solchen weiten Reisen nicht gehabt. Jetzt stand ihm die ganze Welt offen, und er konnte sich alles ansehen, wovon die Passagiere des Dampfers schwärmten.
Als das Schiff in Alexandrien anlegte, begab sich Hasso in ein Hotel. Aber schon am nächsten Tag reiste er weiter, nach Kairo.
Dort hielt es ihn aber auch nicht lange. Es war, als könne er nirgends mehr Ruhe finden. Zunächst schwankte er zwischen einer Nilfahrt und dem Besuch von Heluan. Er entschied sich für das letzte.
Sein Gepäck ließ er zunächst im Hotel in Kairo. Er wollte nur einen Ausflug nach Heluan machen und dann nach Kairo zurückkehren, um von hier zu einer Nilfahrt aufzubrechen.
Als er in Heluan angekommen war, verließ er den Bahnhof und schlenderte im Schein der Frühlingssonne durch die breiten belebten Straßen des Badeortes.
Überrascht blieb er stehen, als sich am Ende der Hauptstraße ganz unvermittelt das weiße Al Hayat aus dem gelben Rahmen der Wüste emporhob. Eine riesige Freitreppe vermittelte den Eintritt in ein wahres Labyrinth von Häusern, Terrassen, Sportplätzen, Gärten und Wandelhallen. Hier herrschte reges Leben. Eine mondäne Gesellschaft aus aller Herren Länder bevölkerte dieses Riesenhotel, das eigentlich eine ganze Hotelstadt war.
Auf den breiten Terrassen waren elegante Korbmöbel gruppiert, die von plaudernden Menschen benutzt wurden. Mehr oder minder schöne Damen in hellen duftigen Toiletten, gebräunte Männer in leichter, sommerlicher Kleidung lachten und flirteten miteinander.
Hasso ging langsam durch die Reihen, und manch schönes Frauenauge flog sehnsüchtig hinter seiner rassigen Erscheinung her. Er achtete nicht darauf.
Bis an die Balustrade der Terrasse schritt er und ließ seine Blicke hinausschweifen. Das breite Silberband des Nils blitzte durch das Gelb der Wüste, die sich weit vor seinen Blicken ausdehnte.
Und hinten am Horizont zeichneten sich in klaren Linien die Pyramiden von dem gelben Wüstensand ab.
Die Sonne übersprühte die ganze Landschaft mit ihrem hellen goldenen Licht, und der Himmel hing darüber wie ein herrliches blaues Zelt.
Hasso atmete tief auf und wandte sich von diesem Bild ab. Er sah über die plaudernde Gesellschaft hinweg. Um eine Erfrischung zu nehmen, ließ er sich an einem der kleinen Tische, der eben frei geworden war, nieder. Er stand dicht an der Balustrade, und man konnte, wenn man hier saß, die ganze Landschaft übersehen.
Abgewandt von der Gesellschaft saß Hasso in seinem Sessel und blickte wieder auf die sonnengebadete Landschaft. Er vernahm rings um sich her die Unterhaltungen in allen Sprachen, aber er achtete nicht darauf. Wie lange er so gesessen hatte, wusste er selbst nicht. Plötzlich schreckte er auf. Zwei Menschen traten an seinen Tisch heran, eine Dame und ein Herr.
Er hörte die Dame sagen: „Vielleicht können wir hier mit Platz nehmen, es ist kein anderer Tisch mehr frei.“
Damit legte sie mit einem leisen rasselnden Geräusch einen Gegenstand neben Hasso auf den Tisch.
Der Herr, der in Begleitung der Dame war, hatte sich einem Kellner zugewandt. Die Dame stand inzwischen wartend neben Hasso.
Er hatte sich umgewandt, sah zu der Dame empor und rückte artig beiseite. Dabei fiel sein Blick auf den Gegenstand, den die Dame neben ihn auf den Tisch gelegt hatte. Es war eine goldene Handtasche.
Seine Augen weiteten sich jäh und hingen wie gebannt an dieser Tasche. Der Bügel bildete einen Elefantenleib, der von einem mit Brillantsplittern besetzten Gurtband umgeben war. Und die Augen des Elefanten wurden von Saphiren gebildet.
Hasso atmete gepresst. Wahrlich, das war genau dieselbe Tasche, die Carry damals im Auto verloren und die er gefunden hatte! Es muss wohl mehrere Exemplare dieses originellen Musters geben.
Während er noch ganz benommen auf die Handtasche starrte, die so bittere Erinnerungen in ihm wachrief, hatte sich ihm die Dame zugewendet. Sie sah, dass sein Blick wie hypnotisiert an der Tasche hing. Wie erschrocken legte sie die Hand darüber, als müsse sie dem Fremden den Anblick der Tasche entziehen. In beklommener Unruhe sah sie nach ihrem Begleiter hinüber, der jetzt mit dem Kellner herantrat.
Sie machte eine hilflose Gebärde, um ihn auf den Herrn am Tisch aufmerksam zu machen.
Das gelang ihr auch. Er sah Hasso ins Gesicht und stieß einen Freudenruf aus.
„Hasso! Hasso, bist du das wirklich?“
Hasso fuhr auf und blickte den Herrn an. Er erkannte Rudolf von Kronau, seinen Freund. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er erhob sich und streckte dem Freund die Hand entgegen.
„Rudi! Du hier?“
Sie schüttelten sich die Hände.
Frau Charlotte von Kronau stand in peinlichster Verlegenheit dabei und versuchte ihren Gatten durch Zeichen darauf aufmerksam zu machen, dass Hasso die Tasche gesehen hatte. Rudi achtete aber in seiner Freude gar nicht auf sie und wandte sich erst, als er den Freund begrüßt hatte, seiner Frau wieder zu.
„Liebe Lotte“, sagte er mit leuchtenden Augen, „gestatte, dass ich dir meinen liebsten und besten Freund, Hasso von Ried, vorstelle. Lieber Hasso – meine Frau.“
Höflich verneigte sich Hasso vor der jungen Frau, deren Gesicht wie in Glut getaucht war.
„Meine gnädige Frau, es freut mich, endlich Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen“, sagte er artig.
Sie reichte ihm, tödlich verlegen, ihre kleine zitternde Hand.
„Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, Herr von Ried“, sagte sie, dabei dachte sie außer sich: Hätte ich doch die unglückselige Handtasche nicht bei mir!
Rudolf von Kronau ahnte nichts von den heimlichen Ängsten seiner jungen Frau und war in heiterster Stimmung.
„Seltsames Zusammentreffen, Hasso! Eben wollte ich den fremden Herrn bitten, uns zu gestatten, an seinem Tisch Platz zu nehmen, da erkannte ich dich. Ich hätte freilich alles andere eher erwartet, als dich hier zu sehen, denn ich glaubte dich in Marwedel. Keine Ahnung hatte ich, dass wir dir hier begegnen würden. Die Freude ist natürlich umso größer. Wir dürfen uns doch zu dir setzen?“
Hasso verneigte sich. „Es wird mich freuen.“
Rudi schob seiner Frau einen Sessel zurecht. Dabei konnte sie ihm endlich zuflüstern: „Rudi, er hat die Tasche erkannt.“
Rudolf von Kronaus Stirn rötete sich jäh. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Nun blickte auch er starr auf die Handtasche. Aber er bewahrte Haltung. „Ruhig, Lotte“, flüsterte er zurück und drückte zärtlich ihre Hand.
Sie nahmen nun alle drei Platz und unterhielten sich eine Weile über Woher und Wohin.
Frau von Kronau hatte nicht gewagt, ihre Handtasche verschwinden zu lassen. Und sie, sowohl als auch ihr Gatte, sahen nun, dass Hassos Blick immer wieder wie hypnotisiert an der Handtasche hing.
Sie sahen sich verstohlen an. Lottes Blick war ängstlich, der ihres Gatten beruhigend und tröstend.
Hasso konnte es endlich nicht unterlassen, zu sagen: „Verzeihen Sie, gnädige Frau, Sie haben da eine sehr originelle Handtasche. Sie interessiert mich aus einem bestimmten Grund. Gibt es solche Taschen häufig?“
Frau von Kronau wurde noch verwirrter. Der Hals war ihr wie zugeschnürt, sie konnte nicht antworten. Ihr Gatte kam ihr zu Hilfe.
„Es gibt wohl mehrere Exemplare dieser Art, wenn sie auch nicht gerade sehr häufig sind.“
Hasso nickte. „Es ist nämlich das zweite Mal, dass ich genau solch eine Handtasche sehe. Verzeihen Sie, meine gnädige Frau, wenn ich neugierig erschien, aber der Anblick dieser Tasche erinnerte mich an ein … eigenartiges Erlebnis.“
Der jungen Frau war es unmöglich, länger auf ihrem Platz auszuharren. Sie erhob sich. „Ich bemerke soeben, dass ich vergessen habe, meine Schmuckkassette in meinem Hotelzimmer fortzuschließen. Ich will gleich hinaufgehen und es tun. Entschuldigen Sie, Herr von Ried.“
Damit eilte sie davon.
Ihr Gatte lief ihr nach. „Lotte, um Gottes willen, beruhige dich! Du brauchst nicht in Sorge zu sein. Wüsste Hasso, dass es diese Handtasche ist, die er gefunden hatte, er hätte nicht darauf angespielt. Einer solchen Indiskretion ist er nicht fähig. Sei ruhig, ich bitte dich!“
„Ach, Rudi, ich glaube doch, er ahnt die Wahrheit.“
„Auch dann hast du es nicht nötig, dich zu beunruhigen. Schlimmstenfalls sage ich Hasso die Wahrheit. Für alle Fälle suche das Buch hervor, aus dem du damals den Brief abgeschrieben hast, damit ich es als Beweisstück zur Hand habe.“
Sie sah ihn mit feuchten Augen an. „Ach, Rudi, wenn das nur gut abläuft! Geh zu ihm zurück! Versuche zu erforschen, ob er etwas ahnt. Ich bleibe auf dem Zimmer, bis du mich rufst, ich kann Herrn von Ried jetzt nicht ruhig gegenübersitzen.“
„So geh, Lotte! Und keine Bange, hörst du!“
Sie nickte und ging schnell davon. Er kehrte an den Tisch zurück. Hasso saß schon wieder in Gedanken versunken. Rudi sah ihn betreten an. Es fiel ihm jetzt erst auf, dass der Freund sehr verändert schien – so, als ob ihn schweres Leid drücke.
Er legte die Hand auf Hassos Arm. „Hasso, was ist dir? Du siehst so seltsam aus – als bedrücke dich etwas.“
Hasso fuhr auf. „Achte nicht auf mich, Rudi, ich bin etwas aus meinem seelischen Gleichgewicht. Weißt du, ich habe ein schweres Herzenserlebnis hinter mir, eine bittere, schmerzliche Erfahrung. Ich will es dir in großen Umrissen erzählen, damit du mich verstehst und mich in Gegenwart deiner Frau nicht zu fragen brauchst. Die Handtasche deiner Frau hat die schlimmen Erinnerungen wieder in mir wachgerufen – sie schliefen freilich nie.“
Rudi sah ihn fassungslos an. „Die Handtasche meiner Frau?“
„Ja, Rudi. Also höre mich an. Ich habe mein Herz an ein Mädchen verloren, das ich für das reinste, edelste und tugendhafteste Geschöpf hielt. Ich hatte schon um sie angehalten, ihre Mutter gab uns ihren Segen. Dann war ich mit ihr allein und sagte ihr, dass sie mir gleich zu Anfang unserer Bekanntschaft so bekannt erschienen wäre.
Da sagte sie mir lachend, wir seien uns auch schon begegnet. Kurz vor meiner Abreise nach Südwest war es gewesen. Ich wollte gerade zu dir fahren und wartete auf ein Auto. Zufällig hielt dicht vor mir eins, dem eine junge Dame entstieg. Ich konnte ihr helfen, ihr Armband zu lösen, mit dem sie hängen geblieben war. Und … ich erfuhr nun, dass es dieselbe Dame gewesen war, mit der ich mich eben verlobt hatte.“
Kronau beugte sich erregt vor. „Nun – und?“
Hasso schob den Hut zurück, als sei es ihm zu heiß. „Ich bestieg also das Auto, das sie verlassen hatte – und fand darin eine Handtasche, genauso eine goldene Handtasche, wie sie deine Frau bei sich hatte. Ich musste die Tasche öffnen, weil ich nachsehen wollte, ob ich die Besitzerin aus dem Inhalt ermitteln konnte. Ich fand aber nur ein Monogramm eingraviert – die Anfangsbuchstaben der Dame. Sie stimmten genau. Aber dann fand ich noch etwas – einen Brief, der die junge Dame kompromittierte, der keinen Zweifel ließ, dass – nun, dass ihre Mädchenehre verloren war. Die Besitzerin hat später die Tasche bei mir abgeholt – ich ersparte es ihr, mir zu begegnen. Mein Bursche übergab ihr die Tasche in einem versiegelten Kuvert. Ich hatte das kleine Erlebnis bald vergessen, konnte mich nicht mehr auf das Aussehen der jungen Dame besinnen. Aber dann – in der Stunde, da ich mich verlobte, erfuhr ich, dass die Frau, die ich an meine Seite stellen wollte, dieselbe war, die die Handtasche verloren hatte. Und dabei hatte sie mir kurz vorher gesagt, ich sei der erste Mann, den sie liebte. Ich war wie von Sinnen, riss mich los von ihr und sagte ihr, dass zwischen uns alles aus sein müsse. Sie war fassungslos und ließ mich gehen. Ich – ich habe sie nicht wiedergesehen – ich bin geflohen, vor ihr, vor mir selbst. Darüber, dass sie einem anderen gehörte und mich belog, komme ich nicht hinweg. Doch die Wunde, die mir geschlagen wurde, ist noch neu. Es hat mir zwar wohlgetan, mich einmal aussprechen zu können. Aber nun rühre nicht mehr daran, ich bitte dich, und ignoriere es, wenn du mich verändert findest.“
Rudolf von Kronau saß wie gelähmt. Er hatte Hasso die Worte von den Lippen gelesen. Ganz klar war es ihm, dass der Freund von einem Irrwahn befangen war. Die junge Dame, mit der er sich verlobte, musste dieselbe gewesen sein, die nach Lotte das Auto benutzt hatte. Sie hatte die Handtasche nicht bemerkt. Und sie war nun in einen falschen Verdacht gekommen.
Rudolf atmete tief auf.
Das Schicksal hatte es selten gefügt, dass seines Freundes Glück nun davon abhängig war, dass er ihm die Wahrheit sagte – oder verschwieg. Einen Moment zauderte er. Durfte er Lottes Ruf preisgeben, um die Ehre einer anderen zu retten, um dem Freund das verlorene Glück zurückzugeben?
Er sprang plötzlich auf. Lotte sollte selbst entscheiden, ob er schweigen oder alles enthüllen sollte.
Die Hand des Freundes fassend, sagte er hastig: „Lieber Hasso, bitte, entschuldige mich einige Minuten, ich muss einmal nach meiner Frau sehen. Deine Erzählung hat mich tief erschüttert. Wir sprechen noch darüber. Vielleicht – vielleicht tust du der jungen Dame Unrecht, es gibt manchmal seltsame Zufälle.“
Hasso schüttelte den Kopf. „Du meinst es gut, aber lass nur, Rudi. Und nimm keinerlei Rücksicht auf mich, gehe ruhig zu deiner Frau!“
„Aber du versprichst mir, zu warten, bis ich zurückkomme, du bleibst an diesem Tisch sitzen, nicht wahr?“
„Ja, ja, ich verspreche es dir.“
„Ich komme in wenigen Minuten zurück, Hasso.“
Damit eilte Kronau davon.
Hasso sah ihm mit trübem Lächeln nach. Der Glückliche, dachte er, und ein heißer Schmerz erfüllte wieder sein Herz.
Rudolf von Kronau war inzwischen zu seiner Frau geeilt. Als er zu ihr ins Zimmer trat, lief sie auf ihn zu.
„Nun, Rudi, wie steht es?“
„Ich muss dir etwas Seltsames erzählen, Lotti. Höre zu, was ich eben von Hasso von Ried erfahren habe.“
Er erzählte ihr alles. Sie lauschte mit großen Augen. Als er geendet hatte, richtete sie sich mit einem tiefen Atemzug auf.
„Rudi, nun weiß ich, weshalb du zu mir kamst. Du willst mich fragen, ob wir unter diesen Umständen die Wahrheit verschweigen dürfen.“
Er küsste ihre Hände. „Ja, Lotti, das will ich dich fragen.“
Sie sah ihm tapfer in die Augen.
„Nein, Rudi, wir dürfen nicht schweigen. Das Glück zweier Menschen steht auf dem Spiel. Ich hätte nie mehr eine frohe Stunde, wüsste ich mich an ihrem Unglück schuld. Herr von Ried muss alles wissen – alles. Geh zu deinem Freund – sag es ihm!“
Da presste Rudolf von Kronau seine junge Frau fest an sein Herz. „Du einzig wundervolle Frau – ich wusste, dass du so sprechen würdest.“
***
Hasso saß noch immer in gedankenverlorener Haltung am Tisch, als Rudi wieder zu ihm trat.
„Da bin ich wieder, Hasso. Und nun komm mit mir hinüber in die Gartenanlagen! Da ist es jetzt ruhig. Ich habe dir eine Eröffnung zu machen, die dich vielleicht sehr erregen wird.“
Hasso sah ihn fragend an, erhob sich aber sogleich.
Sie gingen über die Terrassen zu dem Palmengarten und ließen sich in einer stillen Ecke auf einer Bank nieder, vor der ein kleiner runder Tisch stand.
„Was hast du mir zu sagen, Rudi?“, fragte Hasso.
Rudi sah ihn ernst und groß an. „Ich will dir eine schwere Last von der Seele nehmen, Hasso. Ich will dir sagen, dass das Mädchen, das du liebst, unschuldig ist. Jener Brief, den du in der Handtasche fandest, war fingiert.“
Hasso schüttelte den Kopf. „Fingiert? Wie soll ich das verstehen?“
„Kannst du dich auf den Wortlaut des Briefes noch besinnen?“
„So ziemlich.“
„Nun, so lies einmal das!“
Rudi schlug ein Buch, das er bisher in der Hand gehalten hatte, an einer bestimmten Stelle auf und reichte es dem Freund.
Hasso las, und seine Augen weiteten sich betroffen. „Was ist das?“
„Erkennst du in diesem gedruckten Brief den Inhalt des gefundenen?“
Hasso nickte erregt. „Ich glaube, es ist wörtlich derselbe. Was soll das heißen, Rudi?“
„Du sollst alles hören, mein Alter. Also, die Handtasche, die du damals gefunden hast, ist dieselbe, die du vorhin im Besitz meiner Frau gesehen hast. Meine Frau hatte sie verloren, nicht die junge Dame, von der du sprachst. Lotte hat sie dann am nächsten Abend bei dir abgeholt, hat deinem Burschen etwas Geld als Finderlohn gegeben. Außer jenem Brief befanden sich in der Tasche noch ein Schlüsselbund, eine Geldbörse und ein Taschentuch. Und hier – hier habe ich auch den Brief, den du unter der Chiffre C.H. an die Zeitungsexpedition sandtest.“
Er nahm einen Brief aus seiner Brieftasche und reichte ihn Hasso.
Der fasste mit bebender Hand danach. Fassungslos starrte er auf sein eigenes Schreiben. Dann sagte er, heiser und erregt: „Rudi, ich fasse das nicht.“
Rudolf von Kronau ergriff seine Hand. „Du wirst alles verstehen. Die junge Dame, mit der du dich verlobtest, muss dieselbe sein, die nach meiner Frau das Auto benutzte. Da die Handtasche zwischen Sitz und Wand eingeklemmt war, hat sie sie nicht bemerkt. Du aber musstest glauben, dass sie die Tasche verloren hatte. Wir, meine Frau und ich, wussten lange, dass du die Tasche gefunden hattest, und es hat uns schwere Sorge gemacht, als du jetzt die Handtasche erkanntest und sie immerfort ansahst. Wir mussten annehmen, du wüsstest alles oder ahntest wenigstens die Wahrheit. Wenn du mir dein Herzenserlebnis nicht anvertraut hättest, hätte ich dir natürlich nicht gebeichtet. Als du es aber getan hattest, wusste ich, dass dein Glück davon abhängig war, dass ich sprach. Deshalb eilte ich zu meiner Frau und sagte ihr alles. Und sie sagte sofort: „Herr von Ried muss alles wissen, das Glück zweier Menschen hängt davon ab.“
Hasso hatte sich vorgebeugt, und seine Hände umkrampften die des Freundes. „Rudi, ahnst du, was in mir vorgeht nach deiner Enthüllung?“, stieß er wie außer sich hervor.
Rudolf nickte. „Ich kann mich sehr wohl in deine Lage versetzen, Hasso. Aber da ich dir nun das gesagt habe, musst du mich weiter anhören. Du musst erfahren, wie ich dazu kam, diesen fingierten Brief an meine Frau zu schreiben, die damals noch nicht einmal meine Braut war.“
Und Rudolf von Kronau erzählte dem Freund, wie Lotti den Brief aus dem Roman kopiert und ihn gebeten hatte, den Brief an sie zu schreiben, weil es das einzige Mittel gewesen war, die Mutter zu einer Einwilligung zu zwingen.
Hassos Augen glänzten feucht. Eine furchtbare Last war von seiner Seele genommen, so plötzlich, dass er es noch nicht fassen konnte. Er drückte des Freundes Hand krampfhaft in der seinen.
„Rudi, ich danke dir, dir und deiner Frau. Ich fahre sofort nach Kairo zurück, packe meine Sachen und reise heim. Nicht eine Stunde länger als nötig darf ich zögern, denn – ach, mein Gott – sie, die ich liebe, wie muss sie leiden wegen meines grundlosen Misstrauens! Und doch, wie konnte ich anders, als sie für die Besitzerin der Handtasche zu halten. Ihre Anfangsbuchstaben sind C. H., das von fehlt ja meist bei Monogrammen.“
„Es hieß aber in diesem Fall: ‚Charlotte Harder’“, warf Rudolf ein. „Und nun warte hier einige Minuten, jetzt will ich meine Frau holen.“
Eilig lief er davon, Hasso in einem Chaos von Empfindungen zurücklassend.
Rudolf kam nach wenigen Minuten mit seiner Frau zurück. Hasso erhob sich und ging ihnen entgegen. Er führte Lotti von Kronaus Hand ehrerbietig an seine Lippen. „Meine hochverehrte gnädige Frau, zuweilen sendet der Himmel einen Engel auf die Welt, der gnadenvolle Wunder tut an uns Menschen und Glück und Freude für trostlose Herzen spendet. Solch ein Engel sind Sie.“
Lotti sah ihn mit frohen Augen an.
Hasso hatte noch eine Stunde Zeit, bis der nächste Zug nach Kairo zurückfuhr. Die verbrachte er in Gesellschaft des jungen Paares. Als er sich schließlich verabschiedete, musste er versprechen, sofort zu depeschieren, wenn alles wieder gut war zwischen ihm und Carry.
***
Carry von Hartenfels hatte ihre Tage in qualvollem Trübsinn verbracht. Sie konnte nicht ruhig werden über dem, was ihr geschehen war.
Als Tag um Tag verging, ohne dass eine Nachricht von Hasso eintraf, überließ sie sich einer trostlosen Verzweiflung. Ihre Mutter war in schwerer Sorge um sie und versuchte vergeblich, sie ein wenig aufzuheitern.
Mit aller Pracht war der Frühling ins deutsche Land gezogen.
Auf den Wiesen blühten die Blumen, und die Vögel sangen und jubilierten in jauchzender Lebensfreude. Der Mai hielt seinen Einzug wie ein rechter, echter Wonnemonat.
Aber Carry sah mit blassem Gesicht und traurigen Augen auf die blühende, grünende Pracht. Fast den ganzen Tag hielt sie sich im Freien auf. Im Haus hatte sie ein Gefühl, als müssten sie die Mauern erdrücken.
Fast täglich stieg sie mit müden, langsamen Schritten den Berg hinan und schaute hinab auf das Schloss mit den sieben Türmen. Ein bitteres Lächeln umspielte ihren Mund, wenn sie an die Prophezeiung der Zigeunerin dachte. Ihr Schicksalsweg würde nicht über den Berg in das Schloss mit den sieben Türmen führen, sie würde nicht als dessen Herrin ein langes glückliches Leben führen. Immer würde sie nun abseits stehen und mit ihrer heißen Sehnsucht, mit ihren qualvollen Schmerzen ringen.
So stieg sie auch heute, an dem wundervollen Frühlingstag, den Berg hinan. Ein weich fallendes, schlichtes weißes Kleid fiel an ihrer schlanken Gestalt herab. Den Hut trug sie an einem Band am Arm, so dass der Frühlingswind ungehindert mit den goldflimmernden Locken auf ihrer Stirn spielen konnte.
Als sie oben angelangt war, sah sie mit ihren großen, traurigen Augen, die den hellen, strahlenden Glanz verloren hatten, auf Schloss Marwedel herab. Und dann warf sie sich müde auf einen Abhang, der mit hohem Rasen und zahllosen Sternenblumen bedeckt war. Ihr blasses Gesicht zuckte, und unter den geschlossenen Lidern hervor quollen große Tränen und rollten über ihre Wangen herab.
Es war ein lautloses, schmerzliches Weinen, das keine Befreiung brachte.
So fand Hasso die Geliebte.
Er war vor einer Stunde in Marwedel eingetroffen, plötzlich und unerwartet, wie er abgereist war. Er hatte sich nur schnell umkleiden und dann nach Hartenfels fahren wollen. Aber unwillkürlich war sein Blick nach dem Berg hinaufgeflogen, und da hatte er ein weißes Frauenkleid durch das Waldesgrün schimmern sehen.
Ein halb erstickter Ausruf kam über seine Lippen, und wie an jenem Tag, da er ihr seine Liebe gestanden hatte, eilte er quer durch das Unterholz den steilen Abhang hinan.
Dicht neben dem Platz, wo Carry in ihrem haltlosen Schmerz saß, trat er zwischen den Bäumen hervor. Er stürzte auf sie zu, warf sich neben ihr in die Knie und fasste ihre Hand.
„Carry, meine heiß geliebte Carry, ich wage es kaum, um deine Verzeihung zu bitten. Aber um meiner eigenen qualvollen Schmerzen willen bitte ich dich – vergib mir, dass ich dir dieses Leid angetan habe“, stieß er atemlos hervor.
Sie war zusammengezuckt und sah ihn erschrocken an. Dann sprang sie mit einem Ruck empor. Sie löste hastig ihre Hand aus der seinen. In diesem Augenblick siegte ihr Stolz über ihre Liebe. Ihre Tränen versiegten.
„Herr von Ried, Sie scheinen zu glauben, dass die Freiin von Hartenfels ein Spielzeug für Sie ist, dass Sie nach Laune und Willkür behandeln können. Ich bin allerdings an Überraschungen gewöhnt von Ihrer Seite. Aber nach der Art, wie Sie mich vor Wochen von sich gestoßen haben, begreife ich nicht, wie Sie den Mut fanden, mir wieder in den Weg zu treten.“
Er sah in ihre flammenden Augen, in ihr zuckendes Gesicht. Und wieder fasste er ihre Hand und hielt sie trotz des Widerstrebens fest. Flehend sah er zu ihr auf.
„Du hast ein Recht, Carry, dich von mir zu wenden, weil ich dich mit einem unbegründeten Misstrauen quälte. Aber du musst mich anhören, musst dir sagen lassen, was für ein unseliger Irrtum mich von dir getrieben hat. Ach, Carry, ahntest du, was ich gelitten habe, du zürntest mir nicht. Glaube mir, ich habe mir selbst am wehesten getan.“
Sie zitterte trotz aller Selbstbeherrschung am ganzen Körper. Ihre Augen, die in abwehrendem Stolz auf ihn geblickt hatten, verloren den harten Ausdruck. Sie trübten sich.
Sie sah in seinen Zügen, diesen heiß geliebten Zügen, dass er gelitten hatte wie sie, sah, dass er noch litt und sie voll heißen Flehens ansah. Fest presste sie die Lippen aufeinander. Und dann atmete sie tief auf und sagte heiser: „Ich glaube nicht, dass wir uns noch etwas zu sagen haben. Sie haben mich so verächtlich von sich gestoßen, dass ich mich tief verletzt fühlen musste, denn ich bin mir keiner Schuld bewusst gewesen und weiß nicht, was Sie mir zum Vorwurf machen konnten.“
Er presste ihre Hände an seine heißen, brennenden Augen, an seine Lippen.
„Carry, ich weiß heute, dass ich in unsinniger Verblendung gehandelt habe. Ein Verhängnis hat Leid über uns beide gebracht. Willst du mir nicht erlauben, dir alles zu erklären? Bitte, höre mich an!“
Ihre Augen sahen unsicher zu ihm herab. Und als sie mit den seinen zusammentrafen, als sie sah, dass er noch immer litt, erzitterte sie. „Sprechen Sie! Ich will Sie nicht ungehört verdammen – wie Sie es mit mir getan haben“, sagte sie mit bebender Stimme.
Da sprang er auf und fasste ihre beiden Hände. Und heiser vor Erregung, seine Augen nicht von ihrem Antlitz lassend, sagte er ihr alles. Von ihrem ersten Zusammentreffen an, von dem Fund der Handtasche und des Briefs, bis zu der plötzlichen Aufklärung seines Irrtums durch seinen Freund Kronau.
Alles sprach er sich vom Herzen. Und als er mit seinem Bericht zu Ende war, atmete er tief auf, sah ihr mit heißem Flehen in die Augen und sagte mit verhaltener Stimme: „Nun weißt du alles, Carry, nun sprich mein Urteil.“
Sie hatte in zitternder Erregung zugehört. Die Farbe kam und ging auf ihrem Antlitz. Plötzlich lösten sich große Tränen aus ihren Augen.
Und leise sagte sie, ihn mit der alten innigen Liebe ansehend: „Ich habe dir nichts zu verzeihen. Wir waren beide die Opfer eines Irrtums.“
Da zog er sie mit einem Aufatmen fest in seine Arme. Voll unaussprechlicher Zärtlichkeit küsste er ihr die Tränen fort.
„Weine nicht, Herzlieb! Du sollst, wenn ich es verhüten kann, nie mehr um mich weinen“, sagte er innig.
Und seine Lippen suchten und fanden die ihren. In diesem Kuss erstarb alles Leid, und die ganze heiße Seligkeit ihrer Liebe erwachte wieder zu neuem Leben.
Lange hielten sie sich umschlungen.
Endlich löste sich Carry aus Hassos Armen. „Nun lass uns zu Mamascha gehen, Hasso! Sie hat mit mir und um mich gelitten, wir wollen sie erlösen.“
Er richtete sich auf. „Ich fürchte mich, vor ihr Antlitz zu treten. Sie wird mir eine strengere Richterin sein als du.“
Lächelnd schüttelte Carry den Kopf. „Nein, Hasso, sie wird nicht richten, sie hat dich beklagt, wie sie mich beklagte, und behauptete immer wieder, es müsse ein Irrtum zwischen uns liegen, der aufzuklären sein würde. Sie wartete nur auf deine Adresse, um es tun zu können.“
Er presste ihre Hand an seine Lippen, an seine Augen. „Wie ein holder Traum ist es mir, dass ich wieder Seite an Seite mit dir gehe. Nun sind alle Schatten zwischen uns geschwunden.“
Ihr Gesicht wurde ernst. „Etwas muss ich noch zur Sprache bringen, dass alles klar zwischen uns ist, Hasso. Ich sagte dir damals, dass ich dir etwas zu beichten habe. Das sollst du hören.“
Er drückte ihren Arm an sich und lächelte. „Was es auch sei – ich weiß, dass es uns nicht trennen kann. Du wirst mir eine kleine, harmlose Backfischschwärmerei beichten wollen.“
Sie schüttelte ernst den Kopf. „Es ist weniger – oder mehr. Höre mich an. Du fragtest mich, ob ich vor dir einen anderen geliebt, einen anderen geküsst habe. Ich sagte dir nein. Aber … ich habe mich mit einem Mann verlobt – ohne Liebe – und ihn auch ein einziges Mal geküsst.“
Er zuckte nun doch betroffen zusammen. „Du warst schon mit einem anderen verlobt?“, fragte er unruhig.
Aber als sie mit ihren klaren stolzen Augen zu ihm aufblickte, wurde er ruhig.
„Es war ein Sterbender, Hasso, und er hatte mich geliebt, wie mich ein Mensch nur lieben kann in edelster Art. Ich konnte ihn nicht lieben, sah in ihm nur meinen besten, treuesten Freund. Und um ihm, der keine Ahnung hatte, dass er sterben musste, noch eine glückliche Stunde zu schaffen, verlobte ich mich mit ihm und küsste ihn, auf seinen heißen Wunsch, ein einziges Mal. Es war dein Cousin, Kurt von Ried.“
Hasso atmete tief auf. „Das also war es, was du mir zu beichten vergessen hattest?“
„Ja, Hasso, in meiner Glückseligkeit vergaß ich meinen toten Freund. Er hat mich jahrelang treu geliebt und infolge einer Prophezeiung fest daran geglaubt, dass ich seine Frau werden würde, obwohl ich ihn wieder und wieder abwies. Als ich ihn aber dann nach jenem furchtbaren Unglück vor mir liegen sah, ein vom Tod schon Gezeichneter, der nur noch Stunden zu leben hatte, ohne dass er es ahnte, da hatte ich nur den einen Wunsch, ihm das Sterben leicht zu machen. Er starb wie ein Glücklicher, schlief sanft ein im seligen Bewusstsein, dass sich die Prophezeiung, auf die er baute, nun erfüllen würde.“
„Was war das für eine Prophezeiung, Carry?“, fragte er ernst.
Sie sah mit ihren leuchtenden Augen in die seinen. „Eine Zigeunerin wahrsagte mir, mein Schicksalsweg führe über den Berg in das Schloss mit den sieben Türmen, als dessen Herrin ich ein langes, glückliches Leben führen werde.“
Er zog sie jäh an sich. „Herzlieb, sie soll in Erfüllung gehen, diese Prophezeiung. Bald hole ich dich heim in das Schloss mit den sieben Türmen als meine geliebte Herrin.“
Als sie vor dem Hartenfelser Herrenhaus ankamen, stand Frau von Hartenfels auf der Terrasse und sah ihnen entgegen. Sie legte die Hand über die Augen, als sähe sie nicht recht, und kam dem jungen Paar dann in heller Aufregung entgegen.
Sie sah in die beiden glückstrahlenden Gesichter, und ihre Augen leuchteten fast so hell wie die ihrer Tochter.
„Kind, meine Kinder, habt ihr euch nun wieder zusammengefunden über Irren und Wirrungen hinweg? Ist alles wieder gut?“
Carry flog ihr um den Hals. „Mamascha, du hattest Recht, es war ein verhängnisvoller Irrtum, der uns trennte.“
Die Mutter küsste froh ihr Kind. „Also doch ein Irrtum?“
„Ja, Mamascha, und Hasso ist so wenig schuld daran wie ich. Zanke nicht mit ihm!“
Frau von Hartenfels reichte Hasso, der bittend vor ihr stand, die Hand. „Wie soll ich zanken, wenn ich eure glücklichen Augen sehe? Ist nun alles wieder gut?“
Er führte ihre Hand an seine Lippen. „Gottlob, es ist alles wieder gut. Lassen Sie sich danken, teure Mama, dass Sie mich so gnädig aufnehmen. Und ich bitte Sie, meine Rechtfertigung zu hören.“
„Das will ich tun. Kommen Sie herein in mein Zimmer, und sagen Sie mir alles.“
Und Hasso erklärte nun auch ihr seinen verhängnisvollen Irrtum.
Aufmerksam hörte sie zu, und ihre Augen wurden feucht. Als er zu Ende war, faltete sie die Hände.
„Mein Gott im Himmel, wie wenig gehört dazu, ein Menschenglück zu zerstören. Aus diesem Beispiel kann man wieder einmal die Lehre ziehen, dass man nichts und niemand verurteilen soll, wenn man nicht volle Beweise hat – und wenn man nicht vorher Gelegenheit zur Rechtfertigung gab. Und der kleinen tapferen Frau von Kronau will ich von Herzen dafür danken, dass sie der Wahrheit die Ehre gab, sonst wäre meine Carry unglücklich geworden – und Sie auch, mein lieber Sohn.“
Er küsste ihr die Hand. „Teure, verehrte Mama, ich danke Ihnen für Ihr gütiges Verstehen und Verzeihen.“
Die drei Menschen saßen nun lange beisammen und hatten sich viel zu sagen.
Dann gedachte Hasso aber des Versprechens, das er Kronaus gegeben hatte. Er sandte eine Depesche an sie ab, die folgenden Inhalt hatte:
Ein glückseliges Brautpaar sendet herzliche Grüße.
Hasso und Carry
***
Die Hochzeit des jungen Paares wurde nicht lange hinausgeschoben. Bereits Ende August zog Carry als Herrin in das Schloss mit den sieben Türmen ein.
Und an der Hochzeitsfeier nahmen alle drei Freunde Hassos teil. Baron Platen und Rudolf von Kronau waren natürlich in Begleitung ihrer jungen Frauen gekommen, und Leo von Holms hatte sich Schwester und Schwager angeschlossen. Er hatte tatsächlich seine Farm an Herrn Deckmann verkauft.
Lotti von Kronau und die Baronin Lena Platen schlossen mit Carry einen Freundschaftsbund.
„Wir müssen treu zusammenhalten, um das ideale Freundschaftsverhältnis unserer Männer nicht zu stören“, sagte Lotti in ihrer lieben, frischen Art.
Lena und Carry stimmten herzlich zu. Und es wurde während der Hochzeitsfeier beschlossen, dass die vier Freunde und die jungen Frauen jedes Jahr zweimal auf längere Zeit zusammenkommen sollten, einmal im Winter in Berlin bei Kronaus und einmal im Sommer abwechselnd auf Neuhalden und Marwedel.
Hasso und Carry waren wunschlos glücklich und hatten längst alle Schmerzen vergessen, die sie umeinander gelitten hatten.
Das Hochzeitsgeschenk, das Kronaus der jungen Freifrau von Ried zu Marwedel machten, war eine genaue Kopie der goldenen Elefantentasche, die eine so große Rolle in ihrem Herzensroman gespielt hatte.
Carry versprach, sie in hohen Ehren zu halten.
Leo von Holms saß als einziger Junggeselle zwischen seinen verheirateten Freunden, und er hielt einen launigen Toast auf die drei jungen Paare. Er erklärte es für seine Pflicht, dem Beispiel seiner drei Freunde baldigst nachzueifern.
Und er hat Wort gehalten.
Von Marwedel aus reiste er gleich nach der Hochzeit mit Schwester und Schwager auf das Thüringer Gut, das ihm Norbert verkauft hatte. Norbert führte seinen Schwager dort als Herrn ein und reiste dann mit seiner Gattin nach Neuhalden zurück.
Leo lebte sich sehr gut ein und lernte sehr bald eine reizende junge Dame kennen, die Besitzerin eines Guts, das in seiner nächsten Nachbarschaft lag. Sie war Waise und unumschränkte Herrin ihres Besitzes. Leo von Holms eroberte ihr Herz im Sturm, und um die Weihnachtszeit verkündete er telegrafisch seinen drei Freunden:
Seine Verlobung mit Hilda Baroness von Schönau meldet euch hochbeglückt der letzte Junggeselle in Eurem Bund Leo
Und um die Pfingstzeit feierten die Freunde die Hochzeit des letzten Junggesellen. Es war ein fröhliches Fest, und vier jungen Paaren strahlte das helle Glück aus den Augen.
Am hellsten aber strahlte es aus den Augen Carrys und Hassos.