Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil V) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 5
2. Kapitel.
Die Fremde.
ОглавлениеErntefest! Sonnig und klar hing der Himmel über der Erde, als hätte auch er ein feierliches Gewand angelegt.
Rose-Marie ging zwischen den Eltern den Hügel hinab zur Kirche.
Das Gut Gerhards lag auf diesem Hügel, während das ganze übrige Dorf Burgau in der Talsenkung am Flusse sich hinstreckte.
Knechte und Mägde schritten im Sonntagsputz hinter der Herrschaft her. Überall begegnete man den auf dem Kirchgang befindlichen Bauern.
Von allen Seiten wurde Gerhard und seine Familie gegrüßt, und sie gaben die Grüße freundlichst zurück.
Obwohl Gerhard sich mit den Bauernhofsbesitzern auf eine Stufe stellte und ihnen nichts zu gebieten hatte, wurde er doch als eine Art Oberhaupt der Gemeinde betrachtet, nicht nur weil er das größte Gut besaß, sondern vor allein, weil man ihn hoch schätzte, seine Überlegenheit anerkannte, und weil man bei ihm stets Rat und Hilfe fand, wenn man sie brauchte.
Manchmal gab es freilich auch Meinungsverschiedenheiten. Bauernschädel sind hart und begreifen schwer.
Gerhard hatte einen klugen, weiten Blick und versuchte manches durchzusetzen, wovon er sich für die Zukunft der Gemeinde Nutzen versprach.
Lag aber dieser Nutzen nicht gleich klar auf der Hand, so ließen sich die dickköpfigen Bauern nur schwer überzeugen, und sollten sie gar in den Säckel greifen und die geliebten harten Taler herausrücken, dann wurden sie obstinat und hielten den Beutel zu.
So trat zum Beispiel Gerhard schon seit langer Zeit dafür ein, daß der Fluß oberhalb des Dorfes einen neuen, höheren und festeren Damm erhalten sollte, damit man einer eventuellen Hochwassergefahr besser begegnen konnte.
Dieser Dammbau stellte aber Ansprüche an die Bauernsäckel, und deshalb lehnten alle immer wieder Gerhards Ansinnen ab.
Der alte Damm hatte bisher gehalten, er würde auch weiter halten, so meinten sie.
Gerhard bat, schalt und warnte wieder und wieder vergebens in jeder Gemeinderatssitzung. Aber er überzeugte die Bauern nicht, weil es Geld kosten sollte.
Es kam dabei zu mancher hitzigen Debatte. Aber so willig die Leute sonst Gerhards Überlegenheit anerkannten, in diesem Punkte ließen sie sich nicht von ihm überzeugen.
Sorgenvoll ging Gerhard jedesmal im Frühjahr hinaus an den Damm und inspizierte und untersuchte, ob er noch aushalten würde, wenn das Wasser von den Bergen kam.
Er allein war nicht imstande, den neuen Damm bauen zu lassen. Mit vereinten Kräften wäre es gegangen, freilich, ein kleines Opfer hätte jeder bringen müssen. Aber dazu verstand sich keiner.
Und so mußte sich Gerhard damit begnügen, zu hoffen, daß seine Befürchtungen nicht eintreffen würden.
Auf sein Drängen verstanden sich die Bauern wenigstens dazu, zuweilen einige überflüssige Fuhren Erde auf den alten Damm zu werfen, um ihm etwas mehr Halt zu geben.« —
Heute, an dem herrlichen Erntesonntag, dachte niemand an diesen streitigen Punkt.
Jetzt im Sommer hatte es keine Gefahr mit dem Großwasser.
Friedlich schlängelte sich der Fluß zwischen Wiesen und Feldern hindurch und begleitete die Burgauer wie ein guter Freund auf den Kirchgang.
Rose-Marie fiel es schwer, so ruhig Schritt für Schritt zwischen den Eltern dahinzuwandeln. Außerdem fühlte sie sich in ihrem Festtagskleid nie wohl. Und nun gar das lange Stillsitzen in der Kirche.
Wohl dankte sie von Herzen dem lieben Gott für die gute Ernte, die ihrem Vati seine Sorgen ein wenig erleichterte.
Aber der Herr Pastor war ein alter Mann und ein bißchen sehr weitschweifig. Und draußen schien die Sonne so schön.
Sie konnte es nicht ändern, daß ihre Gedanken hinausflogen und den Ereignissen des Tages vorauseilten.
Wie erlöst atmete sie aus, als der Gottesdienst zu Ende war.
Auf dem Heimweg lief sie voraus, weil Vater und Mutter sich noch mit Frau Pastor und einigen Bekannten unterhielten.
Schleunigst ließ sie sich von Fräulein Ulrike eine große Schürze über das Kleid binden, und dann ging sie in den Hausflur hinunter, wo ihrer eine angenehme Tätigkeit harrte.
Im Hausflur waren auf langen Tafeln wahre Kuchenberge aufgebaut auf großen, runden Holzbrettern.
Das war der sogenannte Bettlerkuchen, der schon in gleiche Stücke geteilt war.
Zum Erntefest gab es in Burgau drei Sorten Kuchen, die erste für die Herrschaft und ihren Besuch, die zweite für das Gesinde und die dritte für die Bettler.
Ganze Scharen Bettlerkinder kamen zum Erntefest aus der nahen Stadt und zogen, einen Spruch ableiernd, von Haus zu Haus.
Und nirgends wurde ihnen an diesem Tage eine Gabe versagt, so daß sich die mitgebrachten großen Körbe bald füllten.
Meist kamen sie in Trupps von vier bis acht Personen und sangen dann in monotoner Weise:
Wir kommen, euch zu bitten,
Habt ihr uns Brot geschnitten?
Und ist an großen Segen
Euch nächstes Jahr gelegen,
So reicht uns Kuchen raus,
Dann bleibt das Glück im Haus.
Kuchen raus — Kuchen raus.
Rose-Marie freute sich das ganze Jahr auf das Erntefest, weil sie dann mit vollen Händen Gaben austeilen konnte. Sie fühlte so inniges Mitleid mit den armen Kindern.
Als sie noch klein war, hatte sie mit großen Augen neben Fräulein Ulrike gestanden, wenn diese den Kuchen verteilte.
Nun durfte sie schon seit zwei Jahren dies Amt selbst verwalten.
Als sie sechs Jahre alt war, hatte sie sich an einem des Erntesonntag voll innigen Mitleids einem Trupp Bettelkinder angeschlossen, bei denen sich ein blasses, kleines Mädchen befunden hatte.
Von Haus zu Haus war sie mitgezogen und hatte das Bettellied mitgesungen.
Den Kuchen, den man ihr überall mit lachendem Gesicht gereicht, hatte sie dem blassen Mädchen in ihren Korb gesteckt und war erst nach Stunden müde, hungrig und verstaubt nach Hause gekommen, wo man sie schon in tausend Ängsten überall gesucht hatte.
Die Mutter war außer sich gewesen, als sie erfuhr, was Rose-Marie getrieben hatte, aber der Vater hatte nur sanft mit seiner großen Hand ihr blondes Köpfchen gestreichelt und hatte zu seiner Frau gesagt:
»Nicht schelten, Henriette, sie hat es nur aus gutem Herzen getan!« —
Heute waltete Rose-Marie nun wieder mit Feuereifer ihres Amtes.
Sie verließ ihren Posten auch nicht, als die Gäste der Eltern aus der Stadt eintrafen. Zum Erntefest fanden sich immer eine Anzahl ein.
Es war auch ein Primaner dabei, der Sohn des Apothekers Linnemann. Dieser wollte der blonden Rose-Marie imponieren und strich um sie herum denn sie gefiel ihm wohl.
Aber sie hatte keine Zeit für ihn, solange noch ein Stück Kuchen auszuteilen war.
Erst gegen Abend erbarmte sie sich seiner, da er sich unter den Erwachsenen langweilte.
Sie führte ihn in die Ställe, zeigte ihm ihre Lieblingstiere und machte ihn mit »Mordskerl« bekannt.
Nach dem Abendessen gingen die Eltern mit ihren Gästen auf die Tenne hinüber, wo das Gesinde zum Erntetanz antrat.
Böllermann spielte Ziehharmonika mit Bravour.
Manchmal ließ er freilich ein paar Töne aus, aber der Takt stimmte immer und es ging famos.
Die Gäste und Rose-Maries Eltern mischten sich unter die Leute; am Erntetag gab es keinen Unterschied zwischen Herr und Diener.
Rose-Marie stand neben Böllermann und staunte von neuem über seine musikalische Leistung.
Da faßte sich der Primaner ein Herz. Erst guckte er noch einmal in den kleinen Taschenspiegel, den er bei sich trug und überzeugte sich, ob seine Krawatte den nötigen graziösen Schwung hatte.
Dabei konnte er sich leider überzeugen, daß das Wimmerl auf seiner Nase im Laufe des Nachmittags bedeutend an Umfang zugenommen hatte.
Trotzdem wagte er kühn eine Verbeugung vor Rose- Marie und gab sich auch sonst noch beim Engagement zum Tanz den Anschein weltmännischer Überlegenheit.
Rose-Mute tanzte auch einmal mit ihm herum, aber es schien ihr nur mäßiges Vergnügen zu bereiten.
Sie nahm ihn resolut beim Ärmel und sagte:
»Du, laß uns lieber aufhören, das dumme Herumhopsen ist zu langweilig.«
Ihr Kavalier zog beleidigt die Manschetten bis über die Handknöchel und sah indigniert auf sie herab.
Sie hatte wohl gar keine Ahnung, daß er in seiner Tanzstunde der schneidigste Tänzer war, und daß sich die Mädels in der Stadt um ihn rissen.
Diese kleine Landpomeranze sprach so wegwerfend von dummen Herumhopsen — pöh —- die konnte ja warten, bis er sich wieder um sie kümmerte.
Aber Rose-Marie wartete gar nicht darauf, hatte überhaupt keine Ahnung, daß sie ihn in seiner Eitelkeit gekränkt hatte.
Sie lief hinaus in den Garten, setzte sich unter der großen Linde auf die Bank und sang vergnügt in den Sommerabend hinein. — —
Am nächsten Morgen wollte das Frühaufstehen nicht recht schmecken, denn es war am Abend sehr spät geworden für ländliche Verhältnisse.
Aber Rose-Marie wußte, daß der Vater trotzdem pünktlich zur Stelle sein würde, und so erhob sie sich und steckte schnell das Gesicht in die WaschschüsseL um vollends munter zu werden.
Den Frühkaffee nahm sie immer mit dem Vater allein ein, weil die Mutter dann noch schlief.
Auch heute trat sie pünktlich zum Kaffeetisch. Der Vater küßte sie lächelnd.
»Na, Wildfang, ausgeschlafen?«
»Nein, Vati, so recht noch nicht,« antwortete sie lachend.
»Warum bist Du denn ausgestanden?«
»Weil Du nicht allein Kaffee trinken sollst und weil Du es nicht leiden kannst, wenn einer eine Schlafmütze ist!«
»Bravo, Rose-Maria. Pünktlich sein im Dienst und nicht gemuckst!«
Sie stellte sich stramm vor ihn hin:
»Zu Befehl, Herr Oberst!«
Sie bediente den Vater mit Sahne und Zucker.
»Reitest Du aufs Feld, Vati?«
»Ja; kommst Du mit?«
»Sind wir um zehn Uhr wieder da? Dann habe ich Stunde bei Frau Pastor.«
»Bis- dahin sind wir zurück!«
»O, fein, dann komme ich mit!«
»Also los, Wildfang!«
Zehn Minuten später ritten sie den Hügel hinab. — —
Nach ihrer Heimkehr nahmen sie mit Musch das zweite Frühstück. Dann mußte Rose-Marie ins Dorf hinunter zur Frau Pastor.
Diese hatte aber Kopfweh von der gestrigen Erntefeier und schickte sie wieder nach Hause.
Froh über die unerwartete Freiheit, ging sie heim.
Die Mutter ruhte noch ein wenig, und der Vater war in seinem Arbeitszimmer mit seinen Büchern beschäftigt.
Da schlenderte Rose-Mark durch den großen Obstgarten, der sich den Hügel hinabzog bis zur Landstraße. Sie prüfte das Obst auf seine Reife.
Dann kletterte sie auf die Mauer, die den Garten von der Landstraße abschloß und baumelte vergnügt mit den Beinen.
Schon von ferne sah sie den Postwagen auf der Landstraße von der Stadt daherkommen.
Rose-Marie sah ihm voll Interesse entgegen. Ob wohl ein fremder Herr darinnen saß?
Manchmal kamen Touristen durch das Dorf und benutzten wohl auch die Post.
Rose-Marie dachte darüber nach, wie es sein müßte, wenn man mit der Eisenbahn, oder gar mit dem Schiff in die weite Welt fuhr.
Sie war noch nicht weiter gekommen, als bis zur nächsten Stadt, und ein einziges Mal von dort mit der Eisenbahn bis zur Residenz. Ganz wirbelig war ihr dabei zumute gewesen, und doch so froh, als ob sie Flügel hätte.
Inzwischen war der Postwagen immer näher gekommen.
Rose-Maries Platz gegenüber war die Dorfschenke. Dort mußte der Wagen anhalten.
Einige Bauernkinder waren schon neugierig herbeigekommen und sahen ebenfalls der Post entgegen.
Nun hielt der Wagen.
Nur eine Person stieg aus, eine etwa vierzigjährige Dame in einem schwarzen Kleid und einem ebensolchen Hut aus dem Kopfe.
Das war für die Burgauer Dorfjugend ein Ereignis, die Bauerfrauen trugen keine Hüte.
Die Kinder umringten die Fremde neugierig und betrachteten sie mit weitaufgerissenen Augen.
Auch Rose-Marie sah mit brennendem Interesse hinüber.
Die Fremde hatte ein blasses, müdes Gesicht, das noch Spuren einstiger Schönheit aufwies.
Rose-Marie fiel auf, daß das Haar der fremden Dame fast genau dieselbe Farbe hatte, als ihr eigenes, vielleicht einen Schein dunkler.
Nun fragte die Fremde die Kinder etwas. Diese verstanden sie wohl nicht, oder waren zu scheu. Jedenfalls wichen sie betreten zurück und steckten den Finger in den Mund.
Mit einem kühnen Satz war Rose-Marie über die Mauer und ging schnell auf die Dame zu.
»Warum antwortet Ihr nicht, wenn Euch die Dame etwas fragt?« schalt sie die Kinder.
»Wir verstehn nich, was se sagt,« antwortete ein kleiner Knirps und fuhr sich energisch mit dem Jackenärmel unter der Nase vorbei.
»Ach, mein liebes Kind, so kannst Du mir vielleicht sagen, wo das Haus des Herrn Fritz Gerhard ist,« sagte die Fremde zu Rose-Marie.
Diese blickte erstaunt auf in die Augen der fremden Frau. Ach, wie blickten diese trübe und traurig. Rose-Maries Herz fühlte Mitleid mit ihr, ohne zu wissen, warum.
»Fritz Gerhard heißt mein Vater, und unser Haus liegt da oben auf dem Hügel!«
Die Fremde trat näher heran. Ein mattes Lächeln erhellte ihr Gesicht.
»Du bist die Tochter meiner lieben Henriette?« fragte sie hastig.
»O, Sie kennen meine Musch?«
»Ja, mein liebes Kind. Wie heißt Du denn?«
»Rose-Marie.«
»Nun, meine liebe, kleine Rose-Marie, willst Du mich wohl zu Deinen Eltern führen?«
Diese nickte bereitwillig und faßte impulsiv nach der Hand der Fremden.
»Kommen Sie, ich werde Sie gleich durch den Garten führen, da ist der Weg etwas näher.«
Sie gingen an den sprachlosen Bauernkindern vorüber über die Straße.
Einige Schritte weiter war eine schmale Pforte in der Mauer. Diese schloß Rose-Marie auf. Den Schlüssel dazu trug sie immer bei sich.«
Nun gingen sie über die gutgepflegten Gartenwege aufwärts.
»Wollen Sie zu Vati, oder zu Musch geführt werden?« fragte Rose-Marie freundlich.
»Das ist mir gleich, ich möchte sie beide wiedersehen!«
»Dann will ich Sie lieber zuerst zu Vati führen. Musch ist immer leidend und regt sich sehr leicht auf.«
»O, wie tut mir das leid; und was bist Du für ein sorgsames Töchterchen! Also Dein Mütterchen ist nicht wohl? Ich habe sie seit langen, langen Jahren nicht gesehen. Damals war sie ein sehr schönes, junges Mädchen.«
Rose-Marie nickte.
»Über Vatis Schreibtisch hängt ein Bild von Musch, als sie Braut war. Da ist sie sehr schön. Jetzt hat sie nicht mehr so ein rundes, volles Gesicht. Die arme Musch hat immer Schmerzen. Und dann — ich glaube, meine Eltern sind schon zwanzig Jahre verheiratet. Vati merkt man das freilich noch nicht an, der ist gesund und stark wie ein Eichbaum!«
Die Fremde seufzte.
»Auch ihn habe ich lange Jahre nicht gesehen — ja — mehr als zwanzig Jahre sind seitdem vergangen.«
»Wie heißen Sie?« fragte Rose-Marie geradezu.
Die Fremde lächelte.
»Anna Ramberg.«
Rose-Marie blieb plötzlich mit einem Ruck stehen und sah die Fremde voll atemloser Spannung an.
»O, dann sind Sie wohl am Ende die Base Anna von meiner Musch, die mit ihrem Mann in die weite Welt gegangen ist?«
Ein feines Rot stieg in die blassen Züge der Fremden.
»Ja, meine kleine Rose-Marie, das bin ich. Also Du hast schon von mir gehört?«
Rose:Marie nickte eifrig und sagte darauf:
»O, sehr oft. Meine Eltern sprachen sehr oft von Ihnen. Musch seufzt dann immer schrecklich und sagt: »Wenn ich doch nur wüßte, was aus meiner armen Anna geworden ist!« Erst neulich sagte sie zu Vati: »Meinst Du, daß Anna mit Ramberg glücklich geworden ist?«
Und da sagte mein Vati: »Wir wollen es hoffen, Henriette, obwohl ich dann nicht begreifen kann, daß sie nie etwas von sich haben hören lassen. Hoffentlich sind sie nicht verdorben, gestorben, sonst möchte ich nicht das Gewissen der hartherzigen alten Frau in Schönrode haben. Wissen Sie, wer die hartherzige Frau in Schönrode ist?«
Die Fremde lehnte sich plötzlich wie haltlos an einen Baum und wurde bleich wie der Tod.
Mit zitternden Händen zog sie ihr Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Kind — kleine Rose-Marie — ich — o ja — ich weiß es. Aber frag’ mich jetzt nicht danach — es ist gut, daß Du es nicht weißt!«
Rose-Marie sah sie besorgt an. So wie die Fremde jetzt, so sah Musch immer aus, wenn sie einen Ohnmachtanfall bekam.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte sie ängstlich.
Die blasse Frau raffte sich auf.
»Es ist schon vorüber, mein Kind — es ist heiß heute. Und nun komm, laß uns Deinen lieben Vater aufsuchen.«
Sie schritten stumm weiter.
Rose-Marie führte Anna Ramberg gleich in das Zimmer ihres Vaters und trat, wie sie es gewöhnt war, ohne anzuklopfen mit ihr ein.
»Vati, hier ist die Base Anna von unserer Musch, sie will Dich sprechen!« rief sie hastig.
Fritz Gerhard sprang betroffen von seinem Schreibtisch auf und sah der Dame überrascht in das Gesicht.
»Fritz Gerhard, kennst Du mich noch?« fragte diese leise und anscheinend tief bewegt.
Gerhard hatte sich gefaßt und ging nun schnell auf sie zu mit ausgestreckten Händen. Seine guten, ehrlichen Augen leuchteten freudig auf.
»Du, Anna — Du — bist Du das wirklich? Du lebst und kommst zu uns — endlich, nach langer, langer Zeit,« sagte er warm und herzlich.
Sie legte ihre Hände in die seinen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Ja, Fritz, jetzt komme ich zu Euch, um Euch an ein Versprechen zu mahnen, das Ihr beide, Du und Henriette mir gabt in schwerer Stunde.
Damals waret Ihr noch Brautleute, und ich — Du weißt es ja — ich war auf der Flucht aus dem Elternhause. Ihr sagtet mir: wenn Du treue Freunde brauchst, dann komm zu uns! Und nun bin ich hier, Fritz!«
Er drückte sie sanft in einen Stuhl.
»Nun ruhe Dich erst einen Augenblick aus, Anna. Und dann sage mir, wie es Dir ergangen ist und wie ich Dir nützen kann. Henriette ist schon seit langen Jahren leidend — ich will sie nachher erst auf Dein Kommen vorbereiten. Das Wiedersehen wird sie sehr ergreifen; wir haben Dich nie vergessen!«
Anna Ramberg lächelte wehmütig.
»Ich hörte es von Deinem Töchterchen, daß Ihr vor mir gesprochen habt! Ist sie Euer einziges Kind?«
Gerhard zog Rose-Marie an sich.
»Ja, erst nach achtjähriger Ehe schenkte uns Gott unseren Wildfang. Also sie hat Dir ausgeplaudert, daß wir von Dir sprachen? Ja, ja, sie ist offenherzig und schnell bereit, ihr Vertrauen zu verschenken, wenn ihr jemand gut gefällt. Aber nun trinkst Du erst einen Schluck Wein und nimmst einen Imbiß.«
Anna Ramberg legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Nein, erst laß mich sprechen! Ich bin weder sehr hungrig, noch durstig und komme jetzt nur mit der Post aus der Stadt, wo ich die Nacht im »Gasthof zu den drei Raben« verbrachte. Ich bitte Dich, setze Dich zu mir und höre mich an!«
Er nahm ihr gegenüber Platz.
Rose-Marie hockte sich auf den Fenstertritt und verfolgte mit atemloser Spannung jedes Wort, das gesprochen wurde.
Anna Ramberg begann zu erzählen:
»Du weißt, daß ich vor mehr als zwanzig Jahren das Haus meiner Mutter verließ, weil sie mich von Karl Ramberg trennen und mit einem vornehmen Mann, einem Baron Rastenau, verheiraten wollte.
Der Stolz meiner Mutter litt darunter, daß ihre einzige Tochter die Frau eines einfachen Sprachlehrers werden wollte.
Sie setzte all meinen Bitten ein erbittertes Nein gegenüber, so daß mir nichts übrig blieb, als meinem lieben Karl in die weite Welt zu folgen.
Ich hoffte, später ihre Verzeihung zu erlangen, wenn sie einsah, daß nichts mehr zu ändern sei.
Karl brachte mich zu seinen Eltern nach Breslau, und auf der Reise dorthin besuchte ich Henriettes Mutter, die mich aus Furcht vor der meinen nicht aufzunehmen wagte.
Du warst damals Verwalter auf den gräflich Ronachschen Gütern und warst gerade bei Deiner Braut zu Besuch.
Euer Zuspruch, Eure Versicherung mir treue Freundschaft zu halten, waren die einzigen guten Worte, die ich in meine ungewisse Zukunft mitnahm, denn Henriettes Mutter mißbilligte meinen Schritt und schalt mich aus.
In Breslau ließen wir uns sofort trauen.
Karl war arm, seine Eltern ebenfalls, sie konnten uns nicht helfen, hofften aber gleich uns, daß meine Mutter nicht unversöhnlich sein würde.
Wir richteten uns sehr ärmlich und bescheiden ein und fühlten uns trotz allem sehr glücklich in unserer Liebe.
Mein Mann gab Sprachstunden, aber unser Einkommen war sehr gering.
Gleich nach meiner Verheiratung schrieb ich an meine Mutter, bat um ihre Verzeihung und um ihren Segen.
Sie schrieb mir, indem sie mir meinen Brief mitten durchgerissen zurückschickte: »Meine Tochter ist tot für mich.« Kein Wort weiter.
Spätere Briefe beantwortete sie gar nicht, auch nicht den, in welchem ich ihr die Geburt unseres einzigen Sohnes Hans meldete, der ein Jahr nach unserer Verheiratung zur Welt kam.
Schließlich, als ich immer wieder schrieb, kamen meine Briefe einfach ungeöffnet zurück mit dem Vermerk: »Adressat verweigert die Annahme!«
Ich erzähle Dir das jetzt alles so ruhig — was aber für Kämpfe damals mein Herz zerrissen, das kann kein Mensch ermessen.
Ich liebte ja meine Mutter, liebte sie über alles, und war unglücklich darüber, daß ich ihr hatte Schmerz zufügen müssen.
Daß es uns schlecht ging, daß mein Mann nur mühsam den nackten Lebensunterhalt verdienen konnte, nahm ich als gerechte Strafe und murrte nicht.
Aber mein armer Karl litt unsagbar unter dem Gedanken, daß er mich aus Glanz und Wohlleben in Sorge und Not geführt hatte.
Seine Eltern starben. Sie hatten uns von ihrer schmalen Pension unterstützt, soviel sie konnten. Nun fiel auch das noch fort.
Karls Gesundheit litt unter den aufreibenden Bemühungen, mir ein besseres Los zu schaffen. Er begann zu kränkeln und wurde schließlich vor zwei Jahren auf ein schweres Krankenlager geworfen.
Da schrieb ich noch einmal heimlich an meine Mutter — Karl wollte es nicht mehr leiden, daß ich mich demütigte vor ihr. Ich bat sie noch einmal um Verzeihung und um Hilfe.
Auch diesmal umsonst, der Brief kam ungeöffnet zurück.
Ich weinte herzbrechend darüber, so daß mein Mann und mein Sohn nun doch erfuhren, daß ich wieder geschrieben hatte.
Verbittert und aufgeregt nahm mein Mann mir und auch meinem Sohn das Versprechen ab, nie mehr einen Schritt zur Versöhnung zu tun.
Wir mußten es ihm freilich geloben, um ihn zu beruhigen. Ich tat es, weil ich ohnehin alle Hoffnung aufgegeben hatte, und mein Sohn, weil er im Groll gegen seine Großmutter aufgewachsen war, denn er liebt mich — sehr und zürnte der unbekannten Großmutter leidenschaftlich, weil sie mir nicht verzeihen wollte, und weil sie im Überfluß auf ihrem herrlichen Gute Schönkode saß, während wir darbten.
Nur mit Mühe und Not hatten wir es ermöglicht, Hans das Gymnasium besuchen zu lassen.
Als er eben sein Abiturrum bestanden hatte, starb sein Vater — das ist nun ein Vierteljahr her.
Ich durfte meiner Mutter seinen Tod nicht melden. Hans mahnte mich an das Versprechen, das ich dem Toten gab.
Glaube nicht, lieber Fritz, daß ich jemals gewünscht hätte, meinen Mann aufgegeben zu haben, oder daß ich trotz aller Armut nicht glücklich gewesen wäre.
Unsere Liebe entschädigte uns für alles, und unser Sohn ist ein lieber, prächtiger Mensch geworden. Er ist herzensgut, wenn auch stolz und herb. Klug und energisch ist er auch, aber er ist noch zu jung, um für uns sorgen zu können.
Und wir haben nun in diesem Vierteljahr das letzte Verkaufen müssen, um uns Brot zu schaffen.
So, Fritz, nun hast Du in kurzen Umrissen meine Geschichte!« —
Fritz Gerhard hatte stumm und bewegt zugehört. Auch jetzt saß er noch still und versonnen da.
Rose-Marie aber sprang in ihrer lebhaften Art auf und rief aus:
»O, Deine Mutter ist eine ganz böse, schlimme Frau, und Dein Hans hat ganz recht, daß er sie nicht leiden mag, Du arme Tante Anna!«
Gerhard wandte sich nach ihr um.
»Du — Kücken? —- Du bist auch noch da? Was schnackst Du klug! So ein kleines Mädel darf hier noch gar nicht mitreden, vor allen Dingen nicht, ehe es gefragt wird,« sagte er ernst.
Rose-Marie zog sich beschämt auf ihren Platz zurück.
Vater erteilte ihr selten einen Verweis, dann aber nahm sie ihn stets als wohlverdient hin.
Gerhard faßte nun nach Anna Rambergs Hand und » sprach:
»Liebe, arme Anna, Deine Geschichte hat mich sehr ergriffen. Aber sag’ mir nur eins: Hattest Du uns, Deine treuen Freunde, ganz vergessen?«
Anna Ramberg lächelte wehmütig.
»Nein, daß ich Euch nie vergaß, zeigt Dir mein Kommen. Aber es sitzt wohl etwas von meiner Mutter unbändigem Stolz in meinem Blute: ich wollte Euch nicht mit meinen Sorgen lästig fallen, zumal ich wußte, daß Henriettes Mutter mir zürnte. Und außerdem wollte ich Euch nicht mit meiner Mutter in einen Konflikt bringen!«
»O, wir unterhalten schon lange keinen Verkehr mehr mit ihr. Sie hat sich in Schönrode fast ganz von der Welt zurückgezogen. Zu Neujahr und Geburtstagen tauschen wir briefliche Glückwünsche, das ist alles!«
Anna seufzte.
»Das wußte ich nicht. Also einsam — ganz einsam ist sie geworden, meine arme Mutter?«
»Ja, sie soll mit keinem Menschen verkehren. Ich habe im Anfang einmal für Dich bei ihr gesprochen, da hat sie mir stumm die Tür gewiesen. Sonst konnte ich ja auch nichts für Dich erwirken.
Schönrode und das ganze Vermögen stammt von Deiner Mutter, denn Dein verstorbener Vater war ein armer Offizier. Sonst hätte man das väterliche Erbe für Dich flüssig machen können. Aber hätten wir gewußt, wie sehr Du in Not warst, wie gern hätten wir Dir geholfen, soweit es in unseren Kräften stand.«
»Das weiß ich, Fritz. Und daß ich Euch in meiner höchsten Not nicht vergaß, und daß ich nun zuerst zu Euch komme, wo ich fremde Hilfe brauche, das beweist Dir mein Erscheinen.
Ich will Dir auch gleich sagen, welche Hilfe ich von Dir erhoffe. Ich selbst bringe mich schon durch mit Anfertigen von feinen Stickereien.
Aber da ist nun mein Sohn: er hat den einen heißen Wunsch, Landwirt zu werden. Zu diesem Beruf treibt ihn sein ganzes Herz. Studieren mag er nicht und hat auch kein Geld dazu.
Da dachte ich nun an Dich. Ich hatte in Erfahrung gebracht, daß Du damals von Graf Ronach fortgingst, um Dir dies Gut hier zu kaufen. Und ich weiß, was Du für ein tüchtiger Landwirt bist!
Meine Mutter, die sich darauf verstand, hat schon damals, als Du Dich mit Henriette verlobtest, gesagt: »Der ist ein ausgezeichneter Landwirt, und Graf Ronach weiß, was er an ihm hat!
So möchte ich Dich nun von Herzen bitten, nimm meinen Sohn bei Dir auf, lehre ihm, was Du ihn lehren kannst, gib ihm tüchtig Arbeit, er ist groß und stark und wird seine Kräfte gern regen. Vielleicht kann er dann später eine Verwalterstelle bekommen.
Daß er bei Dir gelernt hat, wird ihm eine Empfehlung sein. Und Dein Charakter ist mir Bürge, daß er an Dir einen musterhaften Lehrmeister findet.
Du würdest mir eine große Sorge von den Schultern nehmen, und ich würde Dir zu ewigem Danke verpflichtet sein. Willst Du ihn ausnehmen? Du wirst einen willigen und lerneifrigen Schüler an ihm finden!«
Fritz Gerhard stand auf und schüttelte ihr die Hand.
»Er soll mir willkommen sein, Anna. Arbeit gibt es genug bei uns, und was an mir liegt, soll geschehen, ihn zu einem tüchtigen Menschen zu machen.«
Anna faßte in wortlosem Dank seine Hand. Sprechen konnte sie in diesem Augenblicke nicht. Rose-Mark aber umfaßte jetzt jubelnd ihren Vater.
»Vati — ach, Vati — das ist gut — Du bist doch der herrlichste Mensch auf der Welt!«
Gerhard lachte.
»Kücken, schnackst Du schon wieder klug?« sagte er, aber er drückte ihr Köpfchen fest an sich.
Anna Ramberg sah Rose Marie mit feuchten Augen an.
»Das ist Schlag von Deinem Schlag, Fritz. Gott vergelte Dir an Deinem Kinde, was Du an uns tust!«
»Aber, Anna, was tu’ ich denn Großes an Euch? Mach’ doch kein Aufhebens Aber jetzt will ich zu Henriette gehen. Du bleibst bei Tante Anna, Rose-Marie, und sorgst dafür, daß sie inzwischen ein bißchen frühstückt!«
Rose-Marie nickte eifrig. Anna hielt ihn aber noch zurück.
»Einen Augenblick noch, Fritz. Mein Sohn ist mit mir gekommen. Er wartet in der Stadt in den »Drei Raben« auf meine Rückkehr, oder Nachricht von mir.
Ich wollte nicht, daß er mich nach Burgau begleiten sollte, denn ich wußte nicht, ob Du meinen Wunsch erfüllen würdest und wollte ihm einen vergeblichen Bittgang ersparen. Aber nun möchte ich ihn keine Minute länger als nötig im Zweifel lassen. Hast Du nicht einen Boten, den Du nach der Stadt schicken könntest?«
Gerhard dachte nach.
»Wir sind noch in der Ernte, Anna. Die Leute sind auf dem Felde und kommen erst Mittag zurück. So lange mußtest Du Dich gedulden!«
»Ach, Vati, das ist nicht nötig. Ich spanne den Korbwagen an und fahre selbst in die Stadt. Die »Drei Raben« liegen ja gleich an der Straße, die von Burgau in die Stadt führt. Jch hole einfach Tante Annas Sohn dort ab, und bis Mittag können wir schon zurück sein!«
Anna Ramberg sah erschrocken in ihr vor Eifer glühendes Gesicht.
»Um Gottes willen, Rose-Marie, Du kannst doch nicht allein kutschieren!«
Rose-Marie lachte hell auf.
»Ach, das ist nicht das erste Mal, gelt, Vati!«
Gerhard nickte lächelnd.
»Sei unbesorgt, Anna. Rose-Marie ist zwar noch ein dummes, kleines Mädchen, was alle Schulweisheit anbetrifft, aber mit Pferd und Wagen weiß sie so gut umzugehen, wie ich selbst. Ich würde Hans selbst abholen, aber ich erwarte meinen Getreidehändler zu einer wichtigen Besprechung.
Also abgemacht, Wildfang, Du holst Hans heraus zu uns. Und sag’ ihm nur gleich, daß er bei uns bleibt, und — daß wir auch seine Mutter nicht fortlassen von Burgau!«
»Fritz!« rief Anna Ramberg mit einem unbeschreiblichen Ausdruck banger Freude.
Er nickte ihr gütig und lächelnd zu.
»Wirst Dich doch nicht von Deinem Sohn trennen wollen, Anna! Du bleibst also bei uns und Dein Sohn auch! Brauchst auch keine Angst zu haben, Du stolze Seele, daß Du hier das Gnadenbrot essen sollst. Eine Frau wie Dich brauchen wir hier sehr notwendig.
Du nimmst mir eine Last von der Seele, wenn Du Dich hier ein wenig mit um das Hauswesen kümmern und vor allem meiner armen Henriette Pflege und Gesellschaft angedeihen lassen willst!«
Rose-Marie streichelte verstohlen seine Hand. Das war so ganz ihres herrlichen Vaters Art, Wohltaten auszuteilen in einer Weise, daß der Beschenkte sich noch als Gebender fühlen konnte.
Und Rose-Mark hatte recht, ihren Vater deshalb zu bewundern. Wie wenig Menschen verstehen auf diese Art wohlzutun.
Gerhard verließ schnell das Zimmer, um seine Frau vorzubereiten Anna Ramberg lehnte sich ermattet in ihren Stuhl zurück, während ihr Rose-Marie schnell einen kleinen Imbiß und ein Glas Wein herbeischaffte.
Dann plauderte sie in ihrer frischen, unbekümmerten Art mit der neuen Tante, ließ sich Hans Ramberg genau beschreiben und Informationen geben bezüglich seiner Person.
Der Vater kam bald zurück, und an seinem Arm hing mit aufgeregt glänzenden Augen seine Gattin.
Die beiden Cousinen fielen sich wortlos um den Hals und weinten.
Sie waren sich als junge Mädchen sehr zugetan gewesen.
Henriette hatte manche herrliche Stunde in Schönrode verlebt, als Anna noch das geliebte und verwöhnte Töchterchen ihrer stolzen Mutter gewesen war.
Und nun sahen sie sich wieder, die eine von Leid und Sorge, die andere von Krankheit aller Jugendfrische beraubt.
Sie gedachten wehmütig der Zeit, da sie noch jung und hoffnungsfroh dem Leben erwartungsvoll entgegensahen.
Rose-Marie sah bange zu ihrem Vater auf, ob sich Musch auch nicht zu sehr aufregte.
Er nickte ihr aber beruhigend zu und führte sie mit sich hinaus.
Die beiden Frauen sollten sich erst einmal aussprechen.
Draußen sagte Rose-Marie, tief Atem holend:
»Vati, ist es nur möglich daß eine Mutter so hartherzig sein kann, und so schlecht, wie die Tante Annas?«
Gerhard blickte ernst in die fragenden Augen seines Kindes.
»Kind, Du weißt ja nicht, wie weh der alten Frau das trotzige stolze Herz getan hat, ehe es so hart wurde. Sie muß sehr gelitten haben, denn sie ist eine ganz verbitterte, einsame Frau geworden, die wie eine Einsiedlerin auf ihrem wunderschönen Gute Schönrode lebt!«
»Wie heißt sie denn?«
»Marianne Heydebrecht Weißt Du was, Wildfang, mir ist da vorhin ein guter Gedanke gekommen. Wir müssen versuchen, Tante Anna wieder mit ihrer Mutter zu versöhnen.«
»Ach, laß doch die garstige, alte Frau. Tante Anna und ihr Hans, die haben ja nun uns!«
»Das wohl, mein Kücken. Aber sieh’ mal, diese garstige, alte Frau ist Besitzerin eines großen Gutes und eines bedeutenden Vermögens, und Tante Anna und Hans sind von Gottes- und Rechtswegen ihre Erben.
Sie kann aber das Gut einer Seitenlinie ihrer Familie vererben, und Tante Anna nur einen Pflichtteil ihres Vermögens aussetzen. Und das wäre doch schade.
Aber das verstehst Du wohl noch nicht ganz, dazu bist Du noch zu jung. Jedenfalls werden auch noch Jahre vergehen, ehe man auf beiden Seiten den jahrelang aufgehäuften Groll wegräumen kann.
Ich werde unbedingt die Sache im Auge behalten, und wer weiß, Kücken, ob Dir dabei nicht auch noch eine Mission zufällt. Jetzt wollen wir jedoch schleunigst den Korbwagen anspannen für Dich, damit Ihr nicht zu spät zurückkommt!«
Sie machten sich beide eifrig an die Arbeit. In wenigen Minuten war der Wagen bereit.
Dann sprang Rose-Marie hinauf in ihr Zimmer und stülpte sich eilig einen breiten, etwas ramponierten Strohhut auf die blonden Locken.
Einen eleganten Eindruck machte sie durchaus nicht, als sie sich dann mit einem Satz auf den Wagen schwang und die Zügel ergriff.
»Sag’ mal, Vati, wie muß ich nun eigentlich Hans Ramberg nennen, Du oder Sie?«
Gerhard lachte.
»Er ist ja ein Vetter von Dir, Rose-Marie, wenn auch ein sehr weitläufiger. Nenne ihn ruhig »Du« und »Vetter Hans«. Er fühlt sich dann gleich ein wenig heimischer, wenn wir die Verwandtschaft betonen.«
»Hm — das ist gut, Vati, — dann adieu, grüß’ Musch und Tante Anna nochmals, und die beiden sollen nicht mehr weinen. Musch kriegt sonst wieder Kopfweh.«
»Will’s besorgen, Wildfang — und nun fahr’ zu, hübsch vorsichtig — keine Dummheiten machen!«
»Aber, Vati, ich bin doch kein Wickelkind!«
Gerhard öffnete selbst das Hoftor, und Rose-Marie fuhr mit lustigem Peitschenknallen davon.
Lächelnd sah ihr der Vater nach, bis sie den Hügel hinab war. Dann ging er langsam in sein Zimmer zurück, wo die beiden Frauen noch beim Erzählen waren.
Er streichelte seiner Frau die Wange.
»Nun, Henriette spar’ Dir nur noch ein wenig für später auf. Du glühst ja vor Erregung!«
»Ach Fritz, wir haben uns soviel zu erzählen!«
»Dazu bleibt Dir noch viel Zeit. Anna bleibt ja nun bei uns!«
Henriette ergriff Annas Hand.
»Wie ich mich freue darüber, liebe Anna. Nun werde ich doch einen Menschen haben, der Zeit für mich hat. Hier haben ja alle so unglaublich viel zu tun, sogar meine Rose-Marie hat selten eine Stunde für mich. Wenn Du wüßtest, wie schmerzlich es mir ist, daß ich nicht kräftig genug bin, mit zu schaffen!«
Gerhard küßte sie auf die Stirn; er sagte:
»Wir müssen doch auch jemand haben zum Verwöhnen, Rose-Marie und ich. Du weißt gar nicht, wie notwendig Du uns bist, Henriette. Was sollten wir ohne unsere kleine Musch anfangen?«
Henriette seufzte und streichelte seine Hand, während sie zu Anna sagte:
»Siehst Du, Anna, so ist er nun, der Fritz, immer gleich liebevoll und geduldig mit meiner Schwäche. Und ich weiß doch, wie schlimm es für ihn ist, eine so untüchtige Frau zu haben.«
Anna Ramberg sah mit einem stillen Blick zu Gerhard auf.
»Ja — er ist ganz der Alte geblieben, kraftvoll und aufrecht, und ein edler, guter Mensch!«
»Ei, wollt Ihr mich in die Flucht schlagen, Ihr beiden? Mir wird ja himmelangst vor meiner Vortrefflichkeit. Aber nein, ich helfe mir anders, ich setze Euch einfach vor die Tür.
Da sehe ich meinen Getreidehändler über den Hof kommen. Also hinüber mit Euch, ins Wohnzimmer. Du sagst wohl Ulrike Bescheid wegen Unterkunft für Anna und ihren Sohn, Henriette?«
»Ja: ich denke, sie können oben die beiden Giebelzimmer bekommen. Da sind sie dicht beisammen. Ist es Dir so recht, Fritz?«
»Gewiß, es wird vortrefflich gehen!«
Anna faßte beider Hände und sagte:
»Ihr guten, lieben Menschen, wie soll ich Euch nur danken? Mein Herz ist so voll, daß ich keine Worte finde.«
»Sprich nicht von Dank, Anna,« sagte Gerhard, »Du würdest uns im gleichen Falle Gleiches tun. Und wenn wir auch keine Reichtümer gesammelt haben, unser Brot reicht auch noch für Euch mit. Ihr sollt es ja auch nicht geschenkt bekommen. Du sowohl, wie Dein Junge, Ihr sollt Arbeit genug bekommen. Und nun hinaus mit Euch. Zu Tisch sehen wir uns wieder!«
Er schob lächelnd die beiden Frauen zur Tür hinaus.
* *
*
Rose-Marie saß vergnügt auf dem Kutschbock und ließ das Pferd tüchtig ausgreifen.
Sie pfiff und sang abwechselnd vor sich hin, oder unterhielt sich in drolligster Weise mit dem Pferd.
Ihre Augen funkelten vor Lebensfreude. Das war doch wieder einmal ein interessantes Ereignis, die Ankunft der neuen Tante! Und einen Vetter sollte sie nun auch bekommen!
Ein Vetter! Hm — das war doch ungefähr so wie ein großer Bruder. Den hatte sie sich eigentlich immer gewünscht, so einen großen Bruder. Ob er nett war, dieser Hans Ramberg?
Hoffentlich nicht so ein öder Zierbengel. wie der Primaner gestern.
Aber nein, so hatte ihn Tante gar nicht beschrieben. Sehr ernsthaft sollte er sein, und ach — schrecklich klug. Er hatte soviel gelernt.
Na, aus den Überlegenen würde er sich hoffentlich nicht ausspielen: wenn er sie etwa so von oben herab behandeln wollte, dann konnte er ihr im Mondschein begegnen.
Stolz sei er, wie sein verstorbener Vater, hatte Tante Anna gesagt.
Stolz? Nun, stolz und stolz ist ein Unterschied. Sie war ja auch stolz, jawohl, zuerst auf ihren lieben, herrlichen Vater, und dann auf das Mastkalb, das sie ganz allein aufgezogen hatte, und das erst gar nicht gedeihen wollte.
Na, und daß sie »Mordskerl« untergekriegt hatte, ja, darauf war sie auch ein bißchen stolz.
Aber sonst — nein — sonst war sie wohl eigentlich auf nichts weiter stolz?
Auf ihr Wissen konnte sie es leider gar nicht sein — lieber Gott — da sah es windig aus; Musch hatte schon recht.
Wenn dieser Vetter Hans etwa gar französisch mit ihr parlieren wollte, oder englisch spoken!?
O weh, da würde sie sich schön blamieren. Nein, darauf ließ sie sich gar nicht ein.
Ach, überhaupt — wozu sich schon im voraus den Kopf zerbrechen. Nur Mut, Rose-Marie — es wird schon schief gehen!
So überlegte sie bei sich und kam dabei der Stadt immer näher.
Schon konnte sie deutlich an dem Giebel des ersten Hauses lesen: »Gasthof zu den drei Raben«, und durch das eiserne Gitter des zum Gasthof gehörigen Gartens sah sie die mit bunten Leinendecken bedeckten Tische stehen.
Noch ein flotter Trab und sie fuhr mit einem eleganten Bogen an das Tor des Gartens.
Der Garten war leer.
Nur dicht neben dem Tor lehnte ein schlanker, junger Mann am Zaun und starrte erwartungsvoll in die Ferne.
Rose-Marie, und ihren Wagen beachtete er gar nicht.
Sie sah ihn sich genauer an. Er war groß und von breiten Schultern. Sein Gesicht war scharf geschnitten, und die dunklen Augen blickten ernst und nachdenklich.
Ein kleines Bärtchen sproßte auf seiner Lippe und das dunkle Haar bäumte sich eigenwillig über die Stirn.
Rose-Marie holte tief Atem und rückte sich unschlüssig zusammen.
Ob das wohl Hans Ramberg war? Die Beschreibung schien zu passen.
Ob sie ihn anredete? Er schien sie gar nicht zu bemerken.
Entschlossen richtete sie sich auf. Langes Zaudern lag nicht in ihrer Natur.
Sie tippte dem jungen Mann vom Wagen herab mit der Peitsche auf die Schulter.
»Du — Sie — sag’ mal, bist Du vielleicht Hans Ramberg?«
Der Angeredete fuhr aus seinen Gedanken auf und blickte erstaunt in das bildhübsche, sonnige Kindergesicht.
Er sah unter dem verbogenen Hut die Fülle goldblonden Gelockes und einen dicken Hängezopf.
Wie seltsam — dieses kindliche Mädchen hatte fast die gleiche Haarfarbe wie seine Mutter. Und diese Farbe war so selten — noch nie hatte er es bei einem anderen weiblichen Wesen gesehen.
»Ich bin Hans Romberg Was willst Du von mir, kleines Mädchen?«
Rose-Marie wurde eigentümlich beklommen unter dem ernsten Blick der dunklen Augen. Aber sie war so gar nicht gewöhnt, sich einschüchtern zu lassen. Ein wenig ärgerlich über sich selbst warf sie den Kopf zurück.
»Na, dann steig’ nur ein. Ich bin Rose-Marie Gerhard und soll Dich holen!«
Hans Ramberg trat schnell an den Wagen heran. Sein Gesicht rötete sich jäh. Voll Spannung sah er zu ihr empor.
»Du soll mich holen? Nach Burgau, zu Deinen Eltern?«
»Hm! Nun mach' aber 'n bißchen schnell, zum Mittagessen müssen wir zu Hause sein!«
»Meine Mutter ist also bei Deinen Eltern?«
»Ja doch, natürlich — sonst wäre ich doch nicht hier, um Dich zu holen!«
»Und Du bist ganz allein von Burgau hierher gekommen mit Pferd und Wagen?«
»Hm — was ist denn dabei?«
»Verstehst Du Dich denn aufs Fahren?«
Rose-Marie lachte.
»Na, davon kannst Du Dich ja auf der Rückfahrt überzeugen. Aber nun los, Vetter Hans. Ach so — wir sollen ja auch noch Euer Gepäck mitbringen; ruf doch mal schnell den Hausknecht, daß er es auf den Wagen legt!«
Der junge Mann strich sich über die Stirn wie im Traum.
»Also Du sollst mich wirklich holen?«
»Ja doch. Nun schnell, das Gepäck.«
Hans Ramberg lief ins Haus und kam mit dem Hausknecht zurück, der Rose-Marie mit freundlichem Grinsen begrüßte.
Er kannte sie und ihren Vater wohl.
Rose-Marie trieb ihn mit einigen Kraftworten zur Eile an und er verstaute die beiden großen Koffer schnell auf den Wagen.
Hans reichte ihm ein Trinkgeld und kletterte dann zu Rose-Marie auf den Wagen.
Sie rückte beiseite, um ihm Platz zu machen, und schob ihm eine Decke hin zum Draufsetzen.
»So, nun kann es wohl losgehen?« fragte sie vergnügt.
Hans nickte nur.
Rose-Marie ergriff die Zügel und berührte das Pferd aufmunternd mit der Peitsche.
»Los, Brauner, jetzt geht es wieder heim,« sagte sie.
Und das Pferd verstand diese Worte, es setzte sich sogleich in Trab.
Eine Weile fuhren die beiden jungen Menschen schweigend durch den hellen Sommertag.
Rose-Maries Zopf ringelte sich seitwärts über Hans Rambergs dunklen Rockärmel.
Er mußte immer wieder darauf niedersehen. Was war das für ein dicker Zopf! Und die Farbe — sie schien doch noch etwas heller, goldiger, als bei dem Haar seiner Mutter.
Ob dies Haar in der Verwandtschaft öfter vorkam?
Rose-Marie wurde das ungewohnte Schweigen unbequem.
»Du wirst nun immer bei uns bleiben,« sagte sie aufatmend, und ein frohes Gefühl stieg dabei in ihr empor, trotzdem ihr Begleiter ein für ihren Geschmack viel zu ernstes Gesicht machte.
Er sah sie an.
»Meinst Du, daß ich das darf?« fragte er unsicher, erwartungsvoll.
»Natürlich darfst Du! Vati hat es mit Deiner Mutter doch schon ausgemacht!«
Er faßte in freudiger Erregung ihren Arm.
»Ist das wahr?«
Sie sah ihn verwundert an und sagte:
»Na, ich werde Dich doch nicht anlügen. Lügen ist gemein — damit befasse ich mich nicht!»
Er blickte in ihr offenes, wahrhaftes Gesicht.
»Sei nicht böse, kleine Rose-Marie. Du ahnst ja nicht, was diese Nachricht für mich bedeutet. Es ist mein sehnlichster Wunsch, unter Deines Vaters Leitung ein tüchtiger Landwirt zu werden!«
Rose-Maries Augen strahlten stolz aus.
»Du, da bist Du aber auch gleich an die beste Schmiede gegangen. Mein Vati ist im ganzen Umkreis der tüchtigste Landwirt. Und ein herrlicher Mensch — mein Vati. Seinesgleichen gibt es nicht so leicht auf der Welt, das kannst Du mir glauben!«
Hans Ramberg nickte überzeugt und sagte:
»Meine Mutter hat mir viel Gutes von ihm erzählt!«
Rose-Marie strahlte ihn an.
»Alle Menschen, die ihn kennen, sprechen Gutes von ihm. Böllermann sagt, so einer kommt nur alle hundert Jahre auf die Welt!«
»Wer ist Böllermann?«
»Unser Großknecht!«
»Du hast wohl Deinen Vater sehr lieb?«
Rose-Marie nickte, ein weicher Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.
»Lieber als alle anderen Menschen, noch lieber sogar als Musch — und die hab’ ich doch schon sehr lieb! Weißt Du, ich bin doch sehr neugierig, ob es Dir bei uns gefällt!«
»Es wird mir sicher gefallen, Rose-Marie. Nur eins wird mich betrüben, daß ich mich von meiner Mutter trennen muß.«
Sie wandte ihm schnell das Gesicht zu.
»Ach, das mußt Du ja gar nicht. Ich habe ja ganz vergessen, Dir zu sagen, daß Deine Mutter auch bei uns bleibt!«
Der junge Mann fuhr kerzengerade empor.
»Bei Euch bleibt? Wie meinst Du das?«
Sie lachte.
»Genau so, wie ich es sage. Vati und Musch, die lassen Tante Anna gar nicht wieder fort. Was soll sie auch draußen in der Welt? Sie braucht sich doch nicht von Dir zu trennen!«
Hans Ramberg atmete gepreßt.
»Das ist ja viel zu schön, um wahr zu sein!«
Rose-Worte sah ihn von der Seite an.
Wieder wurde ihr so seltsam beklommen wie vorhin zumute, als sie sein kühnes Profil betrachtete und den sonderbaren halb frohen, halb düsteren Blick bemerkte.
»Es ist aber ganz gewiß wahr; ich habe es selbst gehört, wie Vati mit Deiner Mutter über alles sprach. Jawohl — auch von Deiner bösen Großmutter haben sie gesprochen!«
Seine Stirn zog sich in finstere Falten. Ein harter, abweisender Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.
»Ich habe keine Großmutter!« sagte er scharf.
»O, Du hast ganz recht, daß Du sie verleugnest und nichts von ihr wissen willst! Vati sagt freilich, man wüßte nicht, wie weh ihr das trotzige Herz tut.
Aber Vati ist auch schrecklich gut und verteidigt immer alle Menschen — auch die bösen.
Ich kann nicht so gut sein und finde es gar nicht schön von der alten Frau, daß sie sich nicht um Euch kümmert! Aber wir wollen uns die Laune nicht verderben und gar nicht mehr von ihr sprechen.«
»Das ist mir lieb, Rose-Marie,« pflichtete Hans Ramberg bei. »Sag’ mir lieber noch einmal, daß meine Mutter wirklich und wahrhaftig bei Euch bleibt!«
Rose-Marie war glücklich, daß sie ihm sagen konnte:
»Gelt, Du freust Dich sehr darüber? Deine Mutter hatte auch vor Freude feuchte Augen, als Vati ihr sagte, daß sie bleiben soll.«
»Dein Vater muß wirklich ein sehr edler, großmütiger Mensch sein. Du glaubst nicht, kleine Rose-Marie, wie ich mich darum sorgte, daß meine arme Mutter nun allein ihr schweres Leben tragen mußte. Sie hat ja niemand mehr auf der Welt, als mich!
Und ihr Herz ist krank geworden von all dem Jammer und Leid, das ihr die alte Frau in Schönrode aufgeladen hat.«
Der Arzt sagt ja, sie kann alt dabei werden, aber es sei auch möglich, daß sie einmal einen sehr schnellen Tod haben würde. Nun denke Dir, daß sie weit weg von mir wäre und stürbe, ehe ich zu ihr eilen könnte!«
Rose-Marie seufzte vor Mitgefühl.
»Ich kann Dir das nachfühlen. Unsere arme, kleine Musch ist ja auch immer krank und macht uns Sorge. Aber gelt, wir wollen unsere Mütter schon pflegen und behüten, daß sie gesund bleiben. Und siehst Du, für meine Musch ist es so gut, daß sie nun Tante Anna hat, die ihr Gesellschaft leisten kann. Vati und ich, wir haben so wenig Zeit für Musch!«
Hans Ramberg sah lächelnd in ihr Gesicht.
»Du auch nicht?«
»Nein, ich auch nicht. Da brauchst Du gar nicht zu lachen. Was meinst Du wohl, was ich alles zu tun habe? Soll ich es Dir einmal alles aufzählen?«
»Er nickte.
»Ja, ich höre Dir gern zu. Du sprichst so frisch und lieb, man möchte Dir immer zuhören!«
Ihr Gesicht rötete sich. Hastig zählte sie alles auf.
Er hörte aufmerksam zu, dann sagte er Ieise:
»Du verstehst, scheint mir, sehr viel von der Landwirtschaft!«
Sie seufzte und sprach offenherzig:
»Aber sonst bin ich schrecklich dumm. Denkst Du, ich behalte Geschichtszahlen, oder die schrecklichen französischen Vokabeln? Keine Ahnung, ich werfe alles durcheinander wie Kraut und Rüben!
Frau Pastor sagt immer: Rose-Marie, Dein Kopf ist ein Sieb mit großen Löchern, es fällt alles durch. — Und Klavierspiel, Schreiben und Handarbeiten erst — ja — es ist wirklich schauderhaft. Musch ist oft ganz unglücklich, daß ich so unwissend bin.
Das will ich Dir nun alles gleich selbst sagen, ehe Du es von anderen erfährst, oder selbst merkst. Du bist wohl furchtbar klug, hm?«
Er lachte.
»Es läßt sich halten. Weißt Du, ich will Dir einen Vorschlag machen: wir wollen uns gegenseitig helfen. Jch kann Dir bei den Vokabeln und den Geschichtszahlen von Nutzen sein, Du zeigst mir dafür, wie man mit Pferden und Rindern und all den anderen Tieren umgeht. Denke Dir, ich habe zum Beispiel noch nie einen Zügel in der Hand gehalten.«
»Ach, das ist furchtbar einfach. Sieh — so macht man das!«
Sie erklärte ihm eifrig die Zügelhaltung und hielt ihm einen richtigen, fachlichen Vortrag.
Er war sehr aufmerksam und bat sie dann, ihn zur Probe ein Stück fahren zu lassen.
Sie nickte und gab ihm die Zügel richtig in die Hand.
Nun dirigierte sie und gab ihm Verhaltungsmaßregeln.
Es ging famos. Im Eifer glühten beider Wangen.
Sie lachten sich an und waren gut Freund, noch ehe sie den halben Weg zurückgelegt hatten.
»Du kannst wohl auch nicht reiten?« fragte Rose- Marie.
»Nein!«
»Nun, das mußt Du zuerst mit lernen. Ein Landwirt, der nicht reiten kann, ist wie ein anderer Mensch ohne Beine.«
»Du reitest wohl schon sehr sicher?«
Sie nickte stolz.
»Vati sagt, wie ein Husar. Ich habe sogar »Mordskerl« zahm gekriegt und darf ihn jetzt immer reiten. Du — das war ein Racker. Er wollte mich partout abwerfen. Aber ich hing wie eine Klette fest und er mußte nachgeben. Jetzt geht er mir leicht und sicher unter der Hand.«
Hans seufzte tief auf; er meinte:
»Ich werde viel lernen müssen. Hoffentlich verliert Dein Vater die Geduld nicht mit mir!«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wenn er sieht, daß sich einer Mühe gibt, ist er sehr geduldig. Nur Schlafmützen und Faulpelze mag er nicht leiden. Na — und Du siehst mir nicht aus, als ob Du eine Schlafmütze wärst!«
Sie lachten alle beide.
Rose-Marie wurde immer fröhlicher, und Hans gefiel ihr immer besser.
Der war gar nicht überlegen und von oben herab, weil er das Gymnasium besucht hatte.
Und wie hübsch und stattlich er aussah. Sein ernstes Gesicht würde schon fröhlicher werden in Burgau.
Es war wirklich famos, daß ihr das Schicksal einen so netten Vetter beschert hatte.
In bester Eintracht kamen sie an das Dorf heran.
Es lag malerisch mit der hübschen, kleinen Kirche im Sonnenlicht.
Und Gerhards stattliches Haus hob sich schon deshalb über all die anderen empor, weil es auf dem Hügel lag.
Rose-Marie zeigte mit der Hand hinauf.
»Dort oben liegt unser Haus!«
Mit brennenden Blicken sah Hans hinauf zu dem stattlichen Gehöft.
Dort sollte nun seine Heimat sein! Wie friedlich und glückverheißend lag es da. Seine Brust dehnte sich weit.
Rose-Marie beobachtete ihn gespannt.
»Ist es nicht schön bei uns?«
Stumm drückte er die kleine, braune Mädchenhand, die jetzt wieder so sicher und fest die Zügel führte.
Rose-Marie verstand diese wortlose Zustimmung, und ihr war so froh zumute, wie einem guten Menschen, wenn er etwas verschenken kann, was dem Beschenkten Freude macht.
Sie feuerte den Braunen an, damit er den Hügel leichter hinauffahren konnte.
Wenige Minuten später hielten sie im Hofe.
Böllermann kam herbeigeeilt, um Pferd und Wagen in Empfang zu nehmen und das Gepäck abzuladen.
Er war eben erst mit den Leuten vom Felde heimgekommen.
Frau Gerhard und Anna Ramberg standen erwartungsvoll Hand in Hand auf der Veranda.
Rose-Marie zog Hans mit sich die Stufen hinauf.
»Da bringe ich Dir Deinen Hans, Tante Anna,« sagte sie fröhlich.
Mutter und Sohn umfaßten sich wortlos. Dann sagte die Mutter bewegt:
»Hast Du es schon gehört, Hans, ich darf mit Dir zusammen hierbleiben!«
Er nickte. Sprechen konnte er nicht, aber man sah ihm die tiefe Erregung an. Dann löste er sich aus den Mutterarmen und beugte sich über Frau Gerhards Hand, die er an die Lippen führte, Sie nahm ihn aber ohne Umstände beim Kopf und küßte ihn auf die Wange.
»Herzlich willkommen, mein lieber Hans. Möge Gott Deinen Eingang in unser Haus segnen!«
»Wo ist Vati?« fragte Rose-Marie.
»Noch in seinem Zimmer. Der Getreidehändler ist eben erst fort.«
Sie nahm seine Hand.
»Komm, Hans, nun will ich Dich zum Vati führen.«
Die beiden jungen Menschen traten ins Haus hinein.
Henriette sah wohlgefällig dem stattlichen, hübschen Menschen nach.
»Was ist Dein Sohn für ein schöner Mensch — welch ein vornehmes, sympathisches Gesicht,« sagte sie bewundernd.
Anna Ramberg strich sich über die Augen.
»Ich freue mich, daß Dir sein Anblick sympathisch ist, Henriette. Ich kann wohl ohne Überhebung sagen, sein Inneres ist noch wertvoller, als sein Äußeres.« — —
Rose-Marie und Hans hatten inzwischen Hand in Hand des Vaters Zimmer betreten.
»Da sind wir, Vati.«
Gerhard erhob sich vorn Schreibtisch. Eine Weile sah er still und prüfend in das Gesicht des jungen Mannes.
Seine Augen schienen dazu angetan zu sein, einen Menschen zu durchschauen, als ob er von Glas wäre. So lieb und gut sie auch blickten, waren sie doch auch scharf und klar.
Die Prüfung schien gut ausgefallen zu sein.
Er trat an Hans heran und faßte mit warmem Druck die Hand, die ihm dieser bittend entgegenstreckte. Sein Blick wurde warm und herzlich.
Rose-Marie hatte den Vater forschend angesehen, nun atmete sie befriedigt auf. Sie wußte, Hans Ramberg gefiel dem Vater.
»Guten Tag, mein Junge,« sagte dieser herzlich. »Also wir beide wollen nun miteinander arbeiten. Glück auf zu Deinem Entschluß, Landwirt werden zu wollen.
Der Beruf ist nicht schwerer und nicht leichter, als jeder andere, den man mit ganzer Seele und mit aller Kraft ausfüllen will. Er führt uns nahe mit der Natur und Gottes Schöpfungskraft zusammen. Du hast es Dir reiflich überlegt?«
»Ja — ich mag nichts anderes werden, als Landwirt. Und ich würde Ihnen so dankbar sein, wollten Sie mich lehren, ein tüchtiger Landwirt zu sein.«
»Daran soll es nicht fehlen. Und das »Sie« streichen wir. Ich bin Dein Onkel Fritz — deshalb nehme ich Dich nicht weniger scharf in die Lehre, als wenn Du mir ein Fremder wärest!«
»Darum bitte ich Dich, Onkel Fritz!«
»Nicht nötig. Da frag’ mal meine Rose-Marie, die muß auch parieren. Wie heißt unser Spruch, Wildfang?«
Rose-Marie stellte sich stramm auf:
»Aufgepaßt! Pünktlich sein und nicht gemuckst!« sagte sie forsch und schneidig im Kommandoton.
Gerhard lachte.
»Siehst Du, Hans, das ist das Losungswort. Rose-Marie hat es sich gut gemerkt!«
Hans sah mit frohen Augen auf Vater und Tochter und nahm gleichfalls eine militärische Haltung an.
»Aufgepaßt! Pünktlich sein und nicht gemuckst! Ich will es mir auch merken, Onkel Fritz!«
»Schön, mein Junge, dann kommen wir gut miteinander aus. Aber jetzt wollen wir zu Tische gehen, die beiden Mütter warten wohl schon auf uns!«
Hans ergriff seine Hand und drückte sie fest.
»Laß mich Dir nur erst noch danken, Onkel Fritz, daß Du Mutter und mir eine Heimat geben willst: wir sind ja heimatlos, wir beiden!«
»Schon gut, Hans, bleib’ mir mit der Dankbarkeit vom Leibe, ich kann das Wort nicht ausstehen. Dankbarkeit ist ein Begriff, den man nicht in Worte fassen kann, der muß tief in der Seele ruhen!«
»Da will auch ich ihn ruhen lassen, und ich hoffe es Dir einst durch die Tat zu beweisen, daß er mir nie verloren geht!«
Gerhard legte seinen Arm um die Schulter des jungen Mannes. Mit dem anderen umschlang er sein Kind.
»Mit Rose-Marie hast Du, wie ich merke, schon Freundschaft geschlossen. Förmlich aus der Lauer hat sie gelegen, ob Du mir gefällst. Sie merkt es gleich, ob mir ein Mensch sympathisch ist, oder nicht. Gelt, Wildfang?«
Sie sah strahlend zu ihm auf.
»Gleich weiß ich es, Vati. Wenn Deine Augen so dunkel werden, als wären sie schwarz, statt blau, dann magst Du den Menschen gern, den Du so ansiehst!«
»Sapperlot, bist Du ein feiner Beobachter!«
Sie lachte vergnügt.
»Ich werde doch meinen Vati kennen!« —
Bei Tisch ging es sehr angeregt und gemütlich zu. Man hatte sich soviel zu erzählen. Länger als sonst saß man beisammen. Aber dann erhob sich Gerhard, um seinen Geschäften nachzugehen.
»Rose-Marie, Du kannst Hans heute Nachmittag überall herumführen in Haus, Hof und Garten, damit er Bescheid weiß. Heute soll er noch Feiertag haben, morgen beginnt seine neue Tätigkeit.«
»Das war so recht ein Auftrag nach Rose-Maries Sinn.
Während Musch ihr Mittagsschläfchen hielt und Tante Anna oben in den Giebelzimmern die Sachen auspackte und es für sich und Hans heimisch machte, durchstreiften die beiden jungen Menschen das ganze Gut.
Hans mußte wieder und wieder staunend in das frische Kindergesicht sehen. So klar und verständig erklärte sie ihm alles und gab ihm Aufschluß über alles, was er wissen wollte. Sie war eine gute Führerin.