Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil V) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 15
12. Kapitel.
Uns Schloß Schönrode.
ОглавлениеEin volles Jahr war Rose-Marie in der Pension gewesen.
Nun war es wieder herrliche Frühlingszeit. Die Holunderbüsche in Frau Doktors Garten dufteten wundervoll.
Rose-Marie hatte sich früh mit ihrer Toilette beeilt. Nun stand sie fertig angekleidet am Fenster.
Heute sollte sie die Pension verlassen.
Aus dem wilden, jungenhaften Kinde war nun eine reizende junge Dame geworden.
Anmutig und kleidsam waren jetzt die goldblonden Flechten zu einer entzückenden Krone aufgesteckt.
Aus dem schöngeschnittenen Gesicht, das noch immer den apfelblütengleichen Teint gesunder Jugend besaß, leuchteten die dunkelblauen Augen wie ein Paar große Saphire.
Sie hatte sich prächtig entwickelt. Ihre Gestalt war schlank und jugendkräftig, und zeigte edle Linien.
Sie bewegte sich voll Grazie, kraftvoll und energisch, und doch nicht mehr so unbeherrscht wie früher.
Jedenfalls war sie ein sehr schönes Mädchen geworden.
Als sie dann ihr Zimmer verließ, wurde sie schon draußen von ihren Pensionsschwestern empfangen, die ihr alle Blumen und kleine Geschenke zum Abschied überreichten.
Rose-Marie dankte herzlich und umarmte ihre Freundinnen.
Dann ging es ins Frühstückszimmer. Dort standen Frau Doktor und Adolfine Winzer wartend am gedeckten Tisch.
Ein großer, verlockend duftender Napfkuchen prangte in der Mitte. Das war Frau Doktors Abschiedsgabe.
Sie hielt eine salbungsvolle Rede, die nur viel zu lang war für die ungeduldige Mädchenschar, und mit einer Ermahnung schloß, daß Rose-Marie ihrem Institut Ehre machen solle.
»Wonnebummel« hatte schon lange in schmerzlicher Sehnsucht nach dem Napfkuchen geschielt, und atmete er löst auf, als die Köchin die große Kaffeekanne brachte.
Nun wurde fröhlich geschmaust, und Wonnebummel leistete das Menschenmögliche und aß für drei.
Gleich nach dein Frühstück mußte Rose-Maine aufbrechen.
Alle Pensionärinnen gaben ihr bis zum Bahnhof das Geleite. Rose-Maries Gepäck war schon befördert worden, sie trug nur eine kleine Handtasche und die Blumen.
Großtante hatte ihr ein sehr hübsches, elegantes Reisekostüm mit dieser Handtasche geschickt. Das trug sie nun zum ersten Male und wurde sehr bewundert darin.
Bisher hatte sie Trauerkleider getragen.
Ehe sie das Haus verließen, kam Dr. Krüger noch mit einem Blumenstrauß für Rose-Marie, die seine Lieblingsschülerin geworden war.
Frau Doktor ging als Avantgarde mit.
Unterwegs mußte Rose-Marie allen Pensionsschwestern eine Blume von Dr. Krügers Strauß schenken.
Dann kam der letzte Abschied auf dem Bahnhof.
Frau Doktor suchte aufgeregt nach dem Frauenabteil und verstaute ihren Schützling in diesem mit viel Umständlichkeit.
Rose-Marie schaute nun mit umflortem Blick zum Fenster heraus auf all die blonden und braunen Köpfe.
Marga Kurz und Trude Behnisch weinten jammervoll, und auch Frau Doktors Doppelkinn zitterte ein wenig vor Rührung.
Wonnebumrnel erstickte ihren Seelenschmerz mit einer im Automaten erstandenen Tafel Schokolade, und Fifi Kurz ärgerte sich über ein paar Studenten, die vom nächsten Wagen aus den schmerzlichen Abschied der Pensionärinnen lachend glossierten.
Der Zug setzte sich in Bewegung.
»Leb’ wohl, Amazone — leb’ wohl — leb’ wohl — schreib’ bald — auf Wiedersehen!«
»Ade all ihr Lieben — ade Frau Doktor — vielen Dank auf Wiedersehen!«
So klang es herüber und hinüber. Tücher wurden geschwenkt, die Studenten winkten fleißig mit — zu Frau Doktors Entrüstung.
Dann waren sie sich aus den Augen entschwunden.
Rose-Mark Wurf sich in ihre Ecke. Nun war auch diese Episode ihres Lebens vorüber. Zum ersten Male in ihrem Leben hatte sie Freundinnen besessen und hatte ihnen in ihrem Herzen einen Platz eingeräumt.
Nun ging es einem neuen, unbekannten Leben entgegen. Wie würde sie ihr neues Amt bei Großtante ausfüllen, wie würde sich die alte Dame zu ihr stellen?
Und Musch? Ob sie sich erholt, ob sie den herben Verlust ein wenig verwunden hatte?
»Ach, Vati! Unvergessener, inniggeliebter Vati, schaust Du auf Deine Rose-Marie herab, bist Du mit ihr zufrieden?
Bleib bei mir mit Deinem Schutz und Segen, ich fürchte mich vor Hans Rambergs Großmutter; mir ist, als müßte alles Licht, alle Wärme aus meinem Leben weichen in ihrer Nähe!«
Der Zug eilte weiter. Bald hatte Rose-Marie Eisenach erreicht und fand, wie ihr Musch geschrieben hatte, den Schönroder Wagen am Bahnhof.
Fast zwei Stunden fuhr Rose-Marie dann im Wagen durch ein wundervolles, waldiges Gelände, immer aufwärts.
Es duftete herrlich nach frischem Grün. Der Wald trug ein zartgrünes Kleid und zeigte sich im schönsten Schmuck. Jetzt ließ er noch zuweilen den Ausblick in die Ferne frei.
Der Kutscher zeigte ihr die Wartburg in der Ferne, und andächtig blickte Rose-Marie auf diesen malerischen Denkstein deutschen Wesens.
Rose-Marie hatte Musch gebeten, sie erst in Schönrode zu empfangen, damit sie recht frisch sei, denn Wagenfahrten strengten ihren Kopf zu sehr an.
Oben auf der Höhe verließ der Wagen den Wald.
Weite Wiesen und Felder breiteten sich vor Rose-Marie aus. Sie atmete tief auf. Das erinnerte sie an Burgau. Ach, wie heimatlich wurde ihr zumute.
Interessiert betrachtete sie die bestellten Felder.
»Ein guter Boden hier, nicht wahr?« fragte sie den Kutscher.
»Jo, jo — alles Schönroder Acker — und alles Schönroder Wald ringsum!« antwortete dieser.
Rose-Marie versank in träumerisches Sinnen.
Ein wenig verlor sich ihre Furcht vor der nächsten Zukunft. Heimatgefühl schlich sich in ihre Seele.
Wie schön war es hier, wie gut, daß sie jetzt hier sein durfte, statt in der engen Stadt.
War es nicht töricht von ihr, sich vor Großtante zu fürchten?
Hatte sie nicht gut und edel an ihr und Musch gehandelt, obwohl sie gar keine Verpflichtung dazu hatte?
Sie war ihr auch so dankbar gewesen, nur war keine rechte Freudigkeit bei diesem Danke, weil sie immer wieder die hartherzige Mutter Tante Annas in Marianne Heydebrecht sah. Aber jedenfalls wollte sie alles tun, um ihren Dank abzutragen.
Sie wollte sich sehr nützlich machen in Schönrode, und vor allem ihr Amt als Vorleserin und Sekretärin mit aller Kraft und allem Können ausfüllen.
Vielleicht durfte sie sich auch sonst noch betätigen und alles das verwerten, was sie von Vati gelernt hatte.
Rose-Marie schrak aus ihrem Sinnen empor.
Der Wagen beschrieb eine Kurve und nun ging es wieder in dichten Wald hinein.
Nach einer Viertelstunde passierte er ein eisernes Parktor und fuhr unter herrlichen uralten Buchen auf breitem, gutgepflegten Wege bis zum Schönroder Herrenhaus.
Vor dem Portal hielt der Wagen an.
Wirtschaftsgebäude sah Rose-Marie nicht, die lagen nach der anderen Seite hinter dem schloßähnlichen Gebäude mit seinen langen, blitzenden Fensterreihen.
Aber seltsam still war es ringsum, als sei alles Leben erstorben.
Mit bangen Augen blickte das junge Mädchen zu dem massigen, steinernen Portal mit der schweren, eisenbeschlagenen Eichentür empor.
Warum blieb sie geschlossen?
Endlich öffnete sich das Tor und der alte Gustav, den Rose-Marie schon kannte von jener ersten Reise mit Großtante her, erschien mit freundlichem Lächeln aus der Schwelle.
Er gab dem Kutscher mit halber Stimme Weisung wegen des Gepäcks und bat Rose-Marie, ihm zu folgen.
Sich selbst Mut zusprechend, schritt Rose-Marie hinter ihm her durch einen weiten, hallenartigen Flur, eine breite, dunkelgebeizte Eichentreppe empor nach dem ersten Stock. Ein langer Gang wurde passiert, der mit Teppichen belegt war, so daß die Schritte lautlos verhallten. Ganz gespensterhaft kam das alles dem jungen Mädchen vor. Und nun öffnete Gustav lächelnd eine Tür und ließ sie eintreten.
Helles, warmes Sonnenlicht flutete ihr entgegen, Und dann lag Rose-Mark plötzlich in den Armen ihrer Mutter.
»Musch, Herzensmusch, liebe, kleine Musch, endlich hab’ ich Dich wieder!«
»Mein Kind — meine Rose-Marie!«
Tränen überströmten der Mutter Antlitz.
Rose-Marie führte sie liebevoll zu einem Sessel.
»Weine doch nicht, nun haben wir uns ja wieder; ach, Musch, Du bist ja noch viel kleiner geworden!« rief sie halb lachend, halb weinend.
»O nein, Kind, Du bist so groß geworden, so groß. Ist das wirklich mein wirbeliger Wildsang, die stattliche junge Dame? Wo ist denn mein kleines Mädchen geblieben?«
Rose-Marie lachte. Dieses junge, frohe Lachen klang seltsam von den Wänden zurück.
Frau Gerhard lauschte mit inniger Freude diesen in Schönrode so ungewöhnten Tönen. Erst jetzt wurde ihr ganz klar, wie schwer sie ihr Kind entbehrt hatte all die Zeit.
»Herzensmusch, nun ist Dir am Ende gar nicht recht, daß sich Dein ruscheliger Wildfang in eine gesittete und wohlerzogene Dame verwandelt hat?«
Die Mutter nahm ihr den Hut ab und streichelte mit zitternden Händen über das goldene Gelock.
Gar nicht satt sehen konnte sie sich an dem schönen jungen Gesicht, das ein ganz klein wenig von seiner kindlichen Fülle eingebüßt hatte, aber dafür viel hübscher und ausdrucksvoller geworden war.
Eine ganze Weile dauerte es, bis sich Mutter und Tochter satt geherzt und geküßt hatten.
Dann legte Rose-Marie ihre Jacke ab und sah sich staunend im Zimmer um.
»Musch, was ist dies für ein vornehmes Zimmer?«
»Das ist mein Wohnzimmer, Kind. Du wirst staunen, wenn Du erst die anderen Räume im Hause siehst. In Schönrode ist alles vornehm und gediegen.
Sieh’, dies ist mein Schlafzimmer, und komm, gleich hieran schließen sich zwei reizende Zimmer für Dich. Tante Marianne hat das so angeordnet, damit wir dicht beisammen wohnen.«
Rose-Marie schrie vor Entzücken laut auf, als sie ihre Zimmer betrat.
Sie waren reizend eingerichtet, in ganz hellen Farben gehalten und im echtesten Biedermeierstil.
Die Möbel stammten aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts waren aber sehr gut erhalten.
Es waren zwei reizende, richtige Mädchenstübchen, und die Fenster lagen nach dem Schloßpark hinaus.
»Musch, das soll nun mein neues Reich sein? Ach, mein Gott, da komme ich mir wie eine Prinzessin vor, und ich bin doch nur ein ganz armes Mädchen!«
»Gelt, Rose-Marie, schön ist es hier?«
»Wunderschön! Ach, Musch, und all das Schöne hat — Tante Anna hinter sich gelassen, um ihrem Mann in ein sorgenvolles Dasein zu folgen: sie muß ihn sehr lieb gehabt haben!«
»Ja, Kind, sehr lieb, denn sie hat nicht nur Glanz und Reichtum ausgegeben seinetwillen, sondern auch ihre Mutter verlassen, die sie innig liebte. Leicht ist ihr das nicht geworden. Aber still davon — hier in Schönrode darf Tante Annas Namen nicht genannt werden!«
Rose-Maries Augen blitzten auf.
»O, es hat wohl nur niemand den Mut, es zu tun!«
»Und Dir prickelt es schon in allen Gliedern, diesen Mut zu beweisen, nicht wahr?«
Rose-Marie seufzte.
»Ach, Musch, vor Großtante hab’ ich doch eine große Angst, aber trotzdem, ich werde schon den Mut dazu finden!«
Frau Gerhard schüttelte besorgt den Kopf.
»Sei um Himmels willen nicht unbedacht mit Deinen Reden, Kind. Tante Marianne wäre furchtbar böse, wenn Du Tante Anna oder Hans erwähntest.
Du weißt doch, wie sie Dich damals zurechtwies. Und daß ich es Dir nur gleich sage, wenn wir wieder nach Eisenach fahren, um Hans zu treffen, dürfen wir ihr nicht sagen, wen wir dort wiedersehen wollen!«
Rose-Mairie umfaßte ihre Mutter und sah ihr ernst in die Augen.
«Musch, ich kann Dir gar nichts versprechen. Als ich vorhin meinen Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzte, sagte ich mir: dies ist Hans Rambergs Erbe! Und mir war, als hörte ich Vati sagen: »Jetzt ist die Zeit gekommen, Rose-Marie, wo Du Deine Mission, Großmutter und Enkel zu versöhnen, erfüllen kannst.«
Und danach will ich handeln. Vatis Segen ist bei mir und wird mich schützen!«
»Ach, Kind, Du wirst Großtante erzürnen. Sei nicht unbedacht!«
»Das verspreche ich Dir, Musch. Ich bin nicht mehr das unbesonnene Kind. Nebst vielem anderen hab’ ich gelernt, mich im Zaum zu halten. Außerdem muß ich erst lernen, meine Furcht vor Großtante zu besiegen. Aber nun muß ich ihr wohl erst einmal »Guten Tag« sagen. Wo finde ich sie?«
»Sie ist jetzt nicht zu sprechen, Rose-Marie. Nur der Verwalter und der Diener Gustav dürfen ihr Arbeitszimmer betreten, und dann auch nur, wenn sie gerufen werden.
Ich treffe nur bei der Mittagstafel mit ihr zusammen. Die übrigen Mahlzeiten werden mir hier in meinem Zimmer serviert, und zwar wird dabei sorgsam mein Befinden berücksichtigt.
Überhaupt, ich werde wie eine Prinzessin gepflegt. Tante hat für alles gesorgt. Nur sprechen mag sie nicht viel mit mir, es ist, als hätte sie das Reden verlernt. Auch mittags bei Tisch wechseln wir selten ein Wort. Wenn ich einen Wunsch habe, muß ich ihn Gustav sagen, dann wird er sofort erfüllt.«
»Aber schrecklich einsam ist es dann für Dich hier gewesen, meine arme Musch!«
»Ich habe mich daran gewöhnt und die Ruhe hat meinen Nerven sehr wohlgetan. Außerdem hatte ich, gute Bücher und die Briefe von Dir und Haus.
Und nun bist Du bei mir. Sollst sehen, wie behaglich wir leben werden. Warte nur erst den Sommer ab, dann ist es herrlich hier. Großtante wird Dich kaum viel in Anspruch nehmen!«
»Aber ich will Arbeit haben, Musch, will mein Brot nicht umsonst essen!«
»Darüber mache Dir keine Kopfschmerzen. Großtante hat ohnedies für niemand zu sorgen!«
»Aber ich mag mir nichts schenken lassen von ihr!«
»Du bist wie Dein Vater, Kind, ein bißchen schwerfällig in solchen Dingen und unbändig stolz. Er wollte auch niemand etwas verdanken als sich selbst!«
Rose-Marie breitete mit leuchtenden Augen die Arme aus.
»Mein herrlicher Vater! Er soll mir immer ein Vorbild sein!«
Frau Gerhard seufzte.
»Du wirst Dir das Leben damit nur schwer machen!«
Rose-Mark streichelte zärtlich ihr Haar.
»Meine Musch, es gibt zweierlei Menschen, sagte unser famoser Dr. Krüger. Kampfesnaturen die sich selbst den Weg bahnen, und passive Naturen, die sich schieben lassen von den Ereignissen.
Manchmal kommen die letzteren viel eher zum Ziel, aber sie haben nicht soviel Freude daran, als die Kämpfer, die sich mit eigener Kraft durchgerungen haben. Na, Musch, und nun sieh’ Dir mal diese Arme an, da ist viel überschüssige Kraft drinnen. Und die soll mir nicht verkümmern. Ich habe schon ein Ziel im Auge!«
»Dieses Ziel ist, Hans hier in Schönrode die Heimat zu gewinnen, nicht wahr?«
»Ja, Musch, das soll das erste Ziel sein!«
Die Mutter seufzte ängstlich.
»Wenn das nur gut geht. Deines Vaters Kampfesnatur hat ihn auch nur in den Tod getrieben!«
»Musch, er hat neun Menschen das Leben gerettet!«
»Und sein eigenes, viel wertvolleres dabei verloren!«
»Das war Gottes Schickung, Musch. Sei nur nicht verzagt, es geht ja bei mir nicht um Tod und Leben!«
»Aber um eine sorgenlose Existenz. Kind, ich wäre unglücklich, müßten wir hier wieder fort!«
»Sorg’ Dich nicht, Musch, ich will ja sehr vorsichtig sein!«
* *
*
Mutter und Tochter hatten sich noch soviel zu erzählen, daß die Zeit bis zur Mittagstafel schnell verging.
Ein dumpfer Ton drang durch das Haus.
»Was ist das, Musch?« fragte Rose-Marie.
»Das Zeichen, zu Tisch zu gehen. Komm schnell. Großtante ist sehr pünktlich und wartet nicht gern!«
Arm in Arm schritten sie den Gang entlang und die Treppe hinunter. Unten in der Halle stand vor einer hohen Flügeltür Gustav und ließ die Damen eintreten.
In demselben Augenblick öffnete sich drinnen im Speisezimmer die entgegengesetzte Tür, die in die Zimmer der Hausherrin führte, und Marianne Heydebrecht trat ein.
Sie trug ein ebensolches schlichtes, graues Kleid, wie damals, als sie die Todesnachricht ihrer Tochter erhielt.
Auch sonst schien sie unverändert, nur ihr Haar schien noch etwas grauer geworden zu sein.
Rose-Marie ging ihr mit klopfendem Herzen entgegen, ergriff ihre Hand und berührte sie mit ihren jungen, warmen Lippen.
Leise zuckte diese Hand zusammen unter der ungewohnten Berührung und zog sich schnell zurück, als habe sie sich verbrannt.
»Ich hörte von Deiner Ankunft, Rose-Marie. Sei willkommen in Schönrode und lasse es Dir gefallen!« sagte sie kühl.
»Ich danke Dir für das Willkommen, liebe Großtante!«
Marianne Heydebrecht neigte fast unmerklich den Kopf.
»Wir wollen Platz nehmen, die Suppe wird gleich aufgetragen. Du sitzest da drüben neben Deiner Mutter. Guten Tag, Henriette!«
»Guten Tag, Tante Marianne. Geht es Dir gut?«
»Danke, ich bin gesund!«
Sie nahmen Platz.
»Wenn Du wüßtest wie froh ich bin, daß ich meine Rose-Marie wieder habe!« sagte Henriette erregt.
Marianne Heydebrecht antwortete nicht, aber Rose-Marie sah, daß in ihren Augen jäh jenes heiße, unbeherrschte Weh aufzuckte, das Sie schon damals bemerkt hatte. Sie sah auch, daß ihre Hände ins Leere griffen, als schiebe sie etwas Quälendes von sich.
Ihre Serviette entfiel ihr.
Rose-Marie hob sie schnell auf, und während sie ihr dieselbe überreichte sahen ihre warmen klaren Augen mitleidig in das bereits wieder versteinerte Gesicht.
Mariane Heydebrecht wich diesem Blick hastig aus.
In demselben Augenblick brachte Gustav die Suppe.
Schweigend wurde sie verzehrt.
Rose-Marie fand dies Schweigen drückend.
»Schönrode ist ein wundervoller Besitz, Großtante, so schön hatte ich es mir nicht vorgestellt!« begann sie mutig ein Gespräch.
Henriette legte mahnend ihre Hand auf den Arm ihrer Tochter.
»Ich liebe es nicht, wenn bei Tisch gesprochen wird!« sagte die Hausherrin.
Das junge Mädchen wurde rot.
»Verzeih’!« sagte es leise.
Marianne nickte nur.
So wurde das Mahl schweigend zu Ende geführt.
Rose-Marie war zumute, als rückten die Wände des prächtigen Zimmers immer dichter zusammen.
Gleich nach dem Dessert erhob sich die Großtante reichte mit einem: »Gesegnete Mahlzeit!« Mutter und Tochter die Hand und wollte das Zimmer verlassen. Da faßte sich Rose-Marie ein Herz und trat ihr in den Weg.
»Wann darf ich Dir meine Dienste zur Verfügung stellen, Großtante?«
Marianne Heydebrecht sah mit einem seltsamen Blick über das goldene Gelock hinweg, auf dem ein Sonnenstrahl spielte und es aufglänzen ließ wie flüssiges Gold.
Wie aus einem Traum erwachend, fragte sie dann:
»Deine Dienste? Wie meinst Du das?«
»Du wolltest mich doch als Vorleserin und Sekretärin beschäftigen; ich habe mich, soviel ich konnte, daraufhin geübt und hoffe, das Amt zufriedenstellend ausüben zu können!«
»Ach so, ja — nun, das eilt ja nicht!«
»Doch, Großtante, ich möchte schnell einen Pflichtenkreis haben, will mich nützlich machen, damit ich meine Dankesschuld etwas abtragen kann!«
Es blitzte einen Moment in den Augen der alten Dame auf.
»So, so, also stolz? Willst wohl nichts von mir geschenkt nehmen?«
»Ich mußte schon soviel annehmen. Das bedrückt mich. Laß mich meine Schuld in etwas abtragen!«
Marianne winkte hastig ab.
»Schuld? Du bist mir nichts schuldig. Ich muß Euch danken, daß Ihr mein einsames Leben teilt!«
»So laß es uns auch wirklich teilen. Ich bitte Dich herzlich, gib mir Arbeit, Pflichten. Mein Vati hat mich immer gelehrt, daß ein Mensch ohne Arbeit und Pflichten bedauernswert oder verächtlich ist.
Was soll ich auch sonst mit meiner Zeit anfangen? Ich könnte mich auch noch anders als mit Lesen und Schreiben nützlich machen, ich habe viele Dinge in der Landwirtschaft gelernt!«
Rose-Marie hatte das sehr dringlich gesagt.
Marianne Heydebrecht war einen Schritt näher getreten und ihre Augen schienen das junge Mädchen durchbohren zu wollen.
»Du bist von anderer Art als Deine Mutter, ich dachte — aber das ist ja gleich. Also gut, Du sollst Arbeit haben, laß mich aber erst überlegen, morgen Mittag erhältst Du meinen Bescheid!«
Ehe Rose-Marie noch etwas erwidern konnte, war, sie hinaus.
Das junge Mädchen atmete tief auf, dann nahm sie ihre Mutter in die Arme.
»Musch — was ist sie für eine seltsame Frau! Ist sie immer so schweigsam?«
Die Mutter lächelte.
»Kind, ich habe sie noch nie soviel reden hören als heute, seit ich in Schönrode bin!«
»Arme, kleine Musch, das war schlimm für Dich!«
Sie gingen wieder in ihre Zimmer hinauf.
Musch legte sich zum Schlafen nieder, und Rose-Marie durchstreifte mit wonnigem Gefühl den prachtvollen alten Park.
Dann ging sie nach dem Hause zurück und lugte ein Weilchen durch den Zaun in den großen Wirtschaftshof hinüber.
Das Herz lachte ihr im Leibe, so sauber und ordentlich sah das alles aus. Da würde Vati seine Freude daran gehabt haben.
Sie kannte nicht widerstehen. Durch eine Tür im Zaun trat sie ein und unternahm einen Streifzug durch die Ställe.
Ach, wie sie das alles heimatlich anmutete, nur viel größer und schöner war hier alles.
Die Leute, denen sie begegnete, grüßten sie artig, aber stumm. In Schönrode schien niemand gern zu sprechen.
Rose-Marie sprach jedoch den einen oder anderen freundlich an, ließ sich einige unbekannte neuzeitliche Einrichtungen erklären, und da gaben ihr die Leute willig Bescheid.
Im Kuhstall waren zwei Knechte um eine kranke Kuh beschäftigt. Sie trat heran und erkannte sofort mit geübtem Auge die Ursache der Erkrankung.
Schnell entschlossen schlug sie ein Mittel vor, das ihr Vater stets mit Erfolg gegen diese Krankheit angewandt hatte.
Die Leute sahen verdutzt in das junge Gesicht, das zu dieser sachlichen Erklärung gar nicht zu passen schien.
»Tut, was Euch das Fräulein gesagt hat, vielleicht hilft es!« sagte in diesem Augenblick hinter ihnen die Stimme der Gutsherrin.
Rose-Marie wandte sich um.
»Es hilft ganz sicher, Großtante, Vati hat es oft erprobt!«
Marianne Heydebrecht nickte nur und ging stumm weiter.
Das junge Mädchen half nun selbst mit bei der Ausführung ihres Rezeptes und ging dann zu Musch zurück, die inzwischen ausgeschlafen hatte.
Gustav servierte nun den Tee.
Leckere Waffeln und kleine Butterkuchen, geröstete Brotschnitten mit Honig und köstlich frischer Butter standen zierlich geordnet mit dem Teegerät auf einem Tablett.
Rose-Marie nahm es Gustav ab und ordnete mit flinken Händen alles auf dem Tisch.
Dann rückte sie Musch einen Lehnstuhl zurecht und setzte sich ihr gegenüber.
»Musch, ich komme mir vor wie im Schlaraffenland. Wenn Wonnebummel hier an meiner Stelle säße! Hm, wie fein das Teegeschirr ist! Und wie die Kuchen duften! Ist dies alles als besonderes Festmahl zur Feier meiner Ankunft serviert?«
Frau Henriette lächelte und freute sich, daß Rose-Marie alles so flink ordnete und dann herzhaft schmauste von den guten Sachen.
»Das gibt es alle Tage. Ja, ja, Kind, man wird hier sehr verwöhnt!«
»Nun, wenn ich nur erst Arbeit habe, dann soll es mir hier gut gefallen!«
»Eilt es Dir damit so sehr? Ruhe Dich doch erst aus!«
»Ach, Musch, so eine richtige frischfröhliche Arbeit, ein Ritt über die Felder und tüchtiges Wirtschaften in Hof und Haus, das wäre herrlich!«
Nach dem Tee ging Rose-Marie nochmals zu der kranken Kuh. Als sie den Stall betrat, verließ denselben durch die andere Tür eine graugekleidete Frauengestalt.
Der Knecht sagte lächelnd:
»Es hat wirklich geholfen, Fräulein; unsere gnädige Frau war eben hier und ist sehr zufrieden!«
»Wiederholen Sie das Mittel heute Abend noch einmal, dann ist die Kuh morgen gesund!«
»Ja, ja, das wollen wir tun. Voriges Frühjahr sind uns drei Prachtkühe dabei eingegangen, da wir das, Mittel nicht kannten!«
Rose-Marie war froh, daß sie sich hatte nützlich machen können.
* *
*
In der Nacht träumte Rose-Marie ganz seltsam.
Sie stand mit Hans Ramberg auf einer schönen blumigen Wiese am Ufer eines breiten Flusses.
Drüben auf der anderen Seite stand Marianne Heydebrecht und rang verzweifelt die Hände.
Aus ihren Augen, die mit dem sonderbar wehen Blick auf sie gerichtet waren, fielen blutrote Tränen, die zu Blumen wurden, wenn sie niederfielen.
Rose-Marie quälte es, daß sie die Großtante nicht herüberholen konnte.
Hans machte ein trotziges, finsteres Gesicht. Aber da kam der Vater auf einem breiten Floß den Fluß herunter und winkte ihr lächelnd zu. Er legte drüben an und führte die alte Frau auf das Floß.
Dann brachte er sie herüber und führte sie zu Hans.
Der stand noch immer finster da. Aber als Rose-Marie mit bittendem Blick seine und der Großmutter Hand zusammenlegte, nahm er plötzlich die alte Frau und Rose-Marie zusammen in seine Arme und küßte beide.
Ringsum blühten die roten Blumen, aber als sich Rose-Marie umsah, war der Vater verschwunden.
Weit in der Ferne verschwand eben das Floß, das ihn trug. Sie schrie auf: »Vati!«
Und da erwachte sie und richtete sich hoch auf. Er- staunt blickte sie um sich. Wo war sie denn?
Und dann begriff sie lächelnd.
»Vati, lieber Vati, Du bist bei mir und meinem Tun mit Deinem Segen, ich fühle es!«
So dachte sie und schlief lächelnd wieder ein.