Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil V) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 21
Das Geheimnis einer Namenlosen
ОглавлениеHerr Kommerzienrat lassen das gnädige Fräulein in sein Arbeitszimmer bitten.“
„Gut, ich komme gleich.“
Damit entließ Dagmar Ruthart den Diener. Sie ging in ihr Ankleidezimmer und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Dann eilte sie hinüber in den anderen Flügel der weitläufigen Villa und stand gleich darauf vor ihrem Vater.
„Du hast mich rufen lassen, Papa?“
Er nickte. „Ja, ich habe dich rufen lassen.“
„Was wünschst du?“
„Bitte, nimm Platz, ich habe etwas mit dir zu besprechen!“
Dagmar ließ sich in dem Sessel nieder, den er ihr zuschob; er selbst nahm an seinem Schreibtisch Platz. Eine Weile spielte er mit einem Brieföffner, und Dagmar wollte es scheinen, als wisse er nicht recht, in welche Form er seine Wünsche kleiden sollte. Sie war das gar nicht von dem sonst so zielsicheren Mann gewöhnt.
Endlich wandte er sich ihr mit einem kleinen Lächeln zu und sagte zögernd: „Du bist eine sehr schöne junge Dame geworden, Dagmar, eigentlich viel zu schön für eine so reiche Erbin, wie du es sein wirst.“
Das Blut stieg der jungen Dame ins Gesicht. „Ich weiß nicht, ob ich schön bin, Papa“, erwiderte sie unbehaglich, weil sie nicht wusste, wo hinaus der Vater wollte.
Ein sprödes Lachen des Vaters antwortete ihr: „Hat dir das dein Spiegel noch nicht gesagt?“, fragte er.
Sie zuckte leicht die Achseln. „Mein Spiegel verrät mir, ob mich dieses oder jenes Kleid, die eine oder andere Frisur besser kleidet. Er sagt mir auch, dass ich nicht hässlich bin, dass meine Züge rein, meine Augen klar und mein Teint fehlerlos sind, aber ob das alles genügt, um mich schön nennen zu können, weiß ich nicht.“
„Aber es ist dir doch wichtig, zu wissen, dass du schön bist?“
Mit ernsten Augen sah sie ihn an. „Schöne Menschen sind nicht immer glücklich und hässliche brauchen nicht immer unglücklich zu sein.“
„Du bist sehr gründlich. Aber jedenfalls hörst du es doch nicht ungern, wenn dir gesagt wird, dass du schön bist. Du wirst es oft genug hören von den zahlreichen jungen Herren, die sich um deine Gunst bemühen.“
Dagmars Lippen zuckten. „Ich gebe nichts auf wohlfeile Schmeicheleien.“
Er nickte zufrieden. „Recht so! Lass dir keinen blauen Dunst vormachen, sondern behalte einen klaren Kopf. Das ist klug, meine Tochter. Aber wenn ich dir sage, dass du schön bist, so kannst du es mir glauben. Ich halte dich nicht für so töricht, dass dich meine Worte eitel machen könnten. Schönheit ist eine Gabe der Natur, man kann sie nicht als Verdienst anrechnen. Nur dumme Menschen bilden sich etwas auf ihre Schönheit ein, und für dumm halte ich dich nicht. Aber um dir das zu sagen, ließ ich dich nicht rufen.“
„Das kann ich mir denken, Papa.“
„Ich möchte dich fragen, ob einer der jungen Herren, die sich um dich bemühen, einen besonderen Eindruck auf dich gemacht hat – ich meine, ob du einen von ihnen, ohne dass ich es vielleicht beachtet hätte, besonders auszeichnest.“
Sie sah ihn erstaunt an. „Nein Papa, von den Herren, mit denen ich verkehre, ist mir keiner besonders interessant oder einer Auszeichnung wert erschienen.“
„Bravo! Das freut mich! Die Tochter von Klaus Ruthart muss sich bewusst sein, dass sie mit ihrer Gunst etwas Großartiges verschenkt. Ich war meiner Sache auch ziemlich sicher, denn ich habe dich scharf beobachtet. Ich habe mich also nicht getäuscht, wenn ich annehme, dass dein Herz noch frei ist.“
Nur einen Moment zögerte Dagmar, einen Moment, in dem sich ihre Lippen fest aufeinander pressten und ihre Augen starr vor sich hinsahen. Dann richtete sie sich aber straff empor und sagte ruhig: „Mein Herz ist frei. Aber um das festzustellen hast du mich sicher auch nicht rufen lassen, Papa.“
Ein kleines, überlegenes Lächeln flog über das harte Männergesicht. „Nicht, um dies festzustellen. Aber diese Feststellung steht mit dem, was ich dir zu sagen habe, in Verbindung. Und nun ohne Umschweife, Dagmar: Ich habe dich rufen lassen, um dir mitzuteilen, dass ich dir in diesen Tagen einen jungen Herrn vorstellen werde, den ich zu deinem künftigen Gatten ausersehen habe.“
Dagmar zuckte zusammen und erblasste. Sie erhob sich mit einem jähen Ruck. „Wie könnte das sein, Papa? Wie könntest du mir einen Gatten bestimmen, den ich noch nicht kenne, von dem ich nicht weiß, ob ich ihn lieben könnte?“
Mit einem ungeduldigen Achselzucken warf Klaus Ruthart den Brieföffner hin. „Du sprichst wie ein sentimentaler Backfisch“, sagte er unmutig. „Ich habe dich für vernünftiger gehalten. Junge Damen in deiner Lage müssen über dem Niveau kleinbürgerlicher Sentimentalität stehen. Reichtum verpflichtet. Und ich wünsche, dass du deine Hand so vergibst, wie ich das für meine Erbin für ersprießlich halte.“
Bis ins Herz hinein fror Dagmar bei diesen Worten ihres Vaters. Sie fühlte in dieser Stunde intensiver denn je, wie fremd sie einander im Herzen gegenüberstanden.
Kommerzienrat Ruthart hatte nie viel Zeit für seine Tochter gehabt, und deshalb hatte er sie nach dem Tod ihrer Mutter kurzerhand in ein vornehmes Erziehungsinstitut nach Genf gegeben. Dort war sie bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr geblieben.
Und Dagmar musste gerade jetzt an ihre verstorbene Mutter denken. Diese war immer bedrückt und traurig gewesen, und Dagmar hatte sie oft mit verweinten Augen gesehen. Die Mutter hatte ihr eine innige Zärtlichkeit bewiesen, und danach sehnte sie sich oft mit schmerzlicher Inbrunst. Jetzt stieg diese Sehnsucht stärker als sonst in ihr auf. Zugleich überkam sie ein Gefühl tiefer Angst.
Ihre Lippen wurden trocken und ihre Hände krampften sich zusammen. „Wen willst du mir zum Gatten bestimmen, Papa?“, fragte sie heiser vor unterdrückter Erregung.
Er ignorierte ihre Unruhe und lächelte überlegen. „Du wirst dich nicht zu beklagen haben über meine Wahl. Der Mann, den ich dir zum Gatten bestimme, ist eine sehr sympathische und interessante Persönlichkeit. Und was mir die Hauptsache ist: Er ist Träger eines altadligen Namens und einer Grafenkrone. Er heißt Graf Günter Taxemburg. Um dir diese Gründe für meine Wahl klarzulegen, höre folgendes: Du wart ja vorigen Sommer, als wir nach der Schweiz reisten, vorübergehend mit mir auf Schloss Taxemburg zu Gast und hast den kürzlich verstorbenen Grafen Herbert Taxemburg kennen gelernt. Erinnerst du dich?“
Dagmar neigte den Kopf. Sprechen konnte sie nicht.
Ihr Vater fuhr fort: „Graf Herbert Taxemburg ist seit langen Jahren mein Schuldner gewesen. Er hat große Ländereien, die seinen Besitz umgeben, verkaufen müssen. Diese Ländereien habe ich erworben. Das Schloss selbst ist nach dem Tod des Grafen Herbert auch in meine Hände übergegangen oder richtiger, es gehörte schon vorher mir, und ich habe nur meine Besitzerrechte bis zu seinem Tod nicht geltend gemacht. Ich habe dem verstorbenen Grafen sogar bis zu seinem Tod einen Teil der Einkünfte gelassen, und er hat mir dafür sozusagen den Besitz verwaltet. Seit seinem Tod bin ich nun unumschränkter Besitzer der ganzen Grafschaft und des Schlosses. Es ist ein wahrhaft fürstlicher Besitz, und die Herrin dieses Besitzes sollst du sein. Es würde aber nicht in meine Pläne passen, wenn du auf Schloss Taxemburg, das ich übrigens bereits neu ausstatten lasse, mit einem Gatten residiertest, der irgendeinen beliebigen bürgerlichen Namen führte. Meine Tochter soll als Gräfin Taxemburg leben. Ich muss gestehen, dass mir der Gedanke, dich mit Graf Günter Taxemburg zu verheiraten, erst kürzlich gekommen ist. Graf Herbert hatte nie davon gesprochen, dass er einen Sohn besaß. Es lagen da besonders schwierige Verhältnisse vor, von denen du später hören wirst. Kurz vor seinem Tod erst eröffnete mir Graf Herbert, dass er einen Sohn habe. Ich lernte ihn kennen, und er gefiel mir ausnehmend. Sofort stieg der Gedanke in mir auf, dich zur Gräfin Taxemburg zu machen. Ich habe mit Graf Herbert gesprochen. Er ging sogleich auf meinen Plan ein und sagte mir: „Wenn mein Sohn einverstanden ist – ich bin es mit tausend Freuden, denn es wäre mir ein tröstlicher Gedanke, wenn Taxemburg auch in Zukunft den Grafen Taxemburg gehörte.“
In einer Art Lähmung hatte Dagmar zugehört. Nun richtete sie sich aus ihrer Erstarrung auf. „Und sein Sohn?“, fragte sie heiser.
Klaus Ruthart sah auf seine tadellos manikürten Hände herab und lächelte sein kaltes, überlegenes Lächeln. „Sein Sohn ist einverstanden. Er befindet sich bereits in der Stadt und wird uns in Kürze aufsuchen. Ich werde dich mit ihm bekannt machen und erwarte von dir, dass du dich meinem Wunsch fügst. Es ist gut, wenn du dich mit dem Gedanken vertraut machst, dass du in wenigen Tagen die Braut des Grafen Günter Taxemburg sein wirst.“
Dagmar presste die Hände fest zusammen. Sie erhob sich halb und wollte protestieren, aber die Augen ihres Vaters ruhten mit einem starren, strengen Blick auf ihr und hypnotisierten sie förmlich. So sank sie wieder in sich zusammen und konnte nur einige Worte hervorstammeln: „Lass mir Zeit – das kommt mir so unerwartet – ich – ich kann jetzt keinen Entschluss fassen.“
Er hob die Hand. „Überlasse es mir, Entschlüsse zu fassen! Du wirst vernünftig sein und einsehen, dass dein Vater gut für dich gewählt hat. Törichten Sentimentalitäten wird meine Tochter nicht nachgehen. Im Übrigen sieh dir Graf Taxemburg erst an, dann wirst du dich leichter meinen Wünschen fügen. Ich verzichte jetzt auf deine definitive Zustimmung- sie ist mir sicher. Und jetzt muss ich dich bitten, mich allein zu lassen, ich habe vor Tisch noch notwendige Geschäfte zu erledigen.“
Damit hatte sich Klaus Ruthart zu seiner imponierenden Höhe erhoben und reichte seiner Tochter die Hand. Sie legte die ihre hinein, unfähig etwas zu erwidern. Wie ein gefangener Vogel ruhte ihre Hand einen Moment in der seinen, und er umschloss sie mit festem Druck, seines Sieges gewiss.
Still ging Dagmar hinaus und suchte ihr Zimmer wieder auf. Als sie allein war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand sie eine Weile ganz benommen, wie unter einem suggestiven Eindruck. Sie starrte vor sich hin, als wisse sie nicht, was soeben geschehen war.
Endlich atmete sie tief auf, strich sich wie besinnend über die Stirn. Und plötzlich richtete sie sich straff empor. „Nein!“
Fest und klar klang dieses Nein durch die Stille des Zimmers, so dass sie selbst vor dem hellen Laut erschrak.
Sie drückte die Hand aufs Herz. „Nein, hier hört die Macht meines Vaters auf – hier muss sie aufhören. Darüber muss ich selbst bestimmen dürfen, wem ich mich zu Eigen geben soll fürs ganze Leben. In dieser Frage bin ich nicht eine Sache, die mein Vater nach Willkür dirigieren kann, sondern ein denkender, fühlender Mensch. Über mein Schicksal darf ich mir das Selbstbestimmungsrecht nicht aus der Hand nehmen lassen.“
So sagte sie zu sich selbst, und die Erstarrung wich mehr und mehr von ihr.
Ihre Augen blickten jetzt wieder klar und entschlossen. Sie wusste, dass es einen Kampf mit ihrem Vater geben würde, aber diesen Kampf wollte sie auskämpfen. Er konnte ihr vielleicht verbieten, einen Mann zu heiraten, der ihm nicht zusagte, aber er konnte und durfte sie nicht zwingen, einem Mann anzugehören, den sie nicht heiraten wollte. Sie wurde ruhiger und ging langsam, in tiefe Gedanken versunken, durch ihre Zimmer.
Auf diesem Weg betrat sie auch ihr Arbeitszimmer. Hier stand ein solider Schreibtisch am Fenster. Das war nicht der Schreibtisch einer verwöhnten Modedame. Es standen nicht zahllose Nippes darauf. Ein schweres, zweckmäßiges Schreibzeug aus schwarzem Marmor und daneben die Fotografie ihrer verstorbenen Mutter sonst befand sich nichts auf der Platte.
Dann ließ sie sich am Schreibtisch nieder und öffnete ein verschlossenes Fach.
Aus diesem Fach nahm sie eine Kassette. Sie war verschlossen. Den Schlüssel dazu trug Dagmar an einem feinen Goldkettchen um den Hals. In Gedanken versunken zog sie den Schlüssel hervor und öffnete die Kassette.
Briefe lagen darin. Sie nahm sie heraus; um ihre Lippen zuckte es wie verhaltenes Weinen.
Und während ihre Hände die Briefe auseinander falteten, flogen ihre Gedanken in jene Zeit zurück, da sie geschrieben worden waren.
***
Dagmar Ruthart war in der Pension mit einer jungen Dame befreundet gewesen. Sie hieß Käthe von Berndorf, und ihre Eltern besaßen in Thüringen ein großes Gut. Zweimal war Dagmar mit ihrer Freundin nach Berndorf gereist, einer Einladung von Käthes Eltern folgend. Es waren wunderschöne Wochen für Dagmar gewesen, denn sie lernte in Berndorf zum ersten Mal ein richtiges, harmonisches Familienleben kennen.
Käthe war das einzige Kind ihrer Eltern und wurde mit Liebe verwöhnt. Und Dagmar fühlte in jener Zeit deutlicher als je zuvor, was sie hatte entbehren müssen.
Als Dagmar das zweite Mal in Berndorf war, stand ihre Heimkehr ins Vaterhaus nahe bevor. Von Berndorf aus sollte sie nicht mehr in die Pension zurückkehren, sondern direkt nach Hause reisen. Auch Käthe kehrte nicht mehr in das Erziehungsinstitut zurück. Auf Dagmars Bitte hatte ihr der Vater für Berndorf noch einmal zwei Monate Urlaub gewährt.
Und diese zwei Monate sollten für Dagmar von einschneidender Bedeutung werden. Sie verlor in jener Zeit ihr Herz.
Das war so gekommen:
In der Nachbarschaft von Berndorf lagen noch zwei andere Güter. Das eine davon gehörte einem Herrn von Thorau, und das andere war vor einer Zeit an einen ehemaligen Fabrikbesitzer, der sich zur Ruhe setzen wollte, verkauft worden. Er hieß Rothberg und hatte eine Tochter. Lisa Rothberg war verlobt mit einem Naturforscher, Dr. Günter Friesen.
Lisa Rothberg war ein sehr schönes Mädchen. Dagmar lernte sie in Berndorf kennen, als sie dort mit ihren Eltern einen Besuch machte. Trotz ihrer Schönheit machte Lisa Rothberg einen unangenehmen Eindruck auf Dagmar. Und auch Käthe von Berndorf mochte die schöne Lisa nicht leiden.
„Sie ist sehr schön, aber ich kann ihr nicht gut sein“, sagte Käthe.
Und Dagmar erwiderte: „Sie hat etwas Unechtes, Unwahres in ihrem Wesen.“
Trotzdem wurde Lisa Rothberg von ihrem Verlobten sehr geliebt, und alle, die ihn kannten, rühmten ihn als einen sehr liebenswerten und interessanten Mann.
Lisa Rothberg erzählte Dagmar und Käthe mit eitlem Lächeln von ihren Triumphen und sagte ihnen, dass ihr Verlobter mit Herrn von Thorau befreundet wäre. Sie kannte Herrn von Thorau noch nicht persönlich, wusste aber, dass er ihren Verlobten auf einer Forschungsreise begleitet hatte.
„Herr von Thorau kehrt in den nächsten Tagen von seiner Reise auf sein Gut zurück, und mein Verlobter wird ihn begleiten, um den Sommer in meiner Nähe zu verleben. Er behauptet, es vor Sehnsucht nach mir nicht aushalten zu können“, sagte sie.
Käthe und Dagmar fanden die Worte unzart, sprachen aber nicht darüber. Käthe sagte nur: „Da trifft es sich ja gut, dass Herr von Thorau Ihr Nachbar ist, Fräulein Rothberg.“
„Ja, es trifft sich ausgezeichnet. Was ist denn Herr von Thorau für ein Mensch? Ich kenne ihn noch gar nicht, obwohl mein Verlobter oft von ihm spricht. Er scheint viel von ihm zu halten, aber das will nicht sagen, dass er mir auch gefällt. Frauen beurteilen die Männer ganz anders, als diese es gegenseitig tun. Und ich möchte deshalb von Ihnen hören, was Herr von Thorau für ein Mensch ist.“
Käthe zuckte die Achseln. „Herr von Thorau ist ein sehr liebenswürdiger und lustiger Mensch – mehr weiß ich nicht von ihm.“
Lisa Rothberg lachte. „Ob er fesch und schneidig ist, werden Sie doch wissen?“
Dagmar und Käthe sahen sich an und fanden es sonderbar, dass sich Lisa Rothenberg so sehr dafür interessierte, ob Herr von Thorau „fesch und schneidig“ sei.
„Das ist Geschmackssache“, antwortete Käthe.
Als sie dann später mit Dagmar allein war, sagte sie lächelnd: „Dass ich einmal für Herrn von Thorau geschwärmt habe, brauche ich doch Fräulein Rothberg nicht zu sagen, nicht wahr?“
„Ganz gewiss nicht“, antwortete Dagmar lächelnd, „das ist einzig deine Angelegenheit. Also du hast für ihn geschwärmt?“
„Ja, heftig.“
„Am Ende tust du es noch, Käthe?“
Diese schüttelte energisch den Kopf. „Ach nein, Dagmar. Ich erkannte bald, dass er ein Blender war.“
„Ein Blender?“
„Nun ja, einer von den Menschen, die durch ihr liebenswürdiges Wesen bestricken, deren Persönlichkeit aber keinen tieferen Wert hat. Du weißt ja, ich lernte dann Kurt von Roschwitz kennen, und ich habe Vergleiche gezogen, die zu seinen Gunsten ausfielen. Findest du Herrn von Roschwitz nicht auch sehr liebenswert?“
„Er gefällt mir sehr gut, und ich habe auch bemerkt, dass er dich nicht aus den Augen lässt, wenn er in Berndorf ist. Und er ist sehr oft in Berndorf“, scherzte Dagmar.
Käthe lachte. „Nun ja, warum soll er nicht? Sein Vater ist mit dem meinen befreundet, und als er in die nahe Garnison versetzt wurde, war es doch selbstverständlich, dass er oft nach Berndorf kam. Die anderen Offiziere seines Regiments sind doch auch oft hier.“
Schelmisch sah Dagmar die Freundin an. „Aber er ist doch noch ein wenig öfter hier als die anderen, und jedenfalls bin ich darüber beruhigt, dass dir Herr von Thorau nicht mehr gefährlich werden kann.“
Käthe umarmte Dagmar. „Ach liebe, liebe Dagmar, ich glaube wirklich, dass ich mein Herz rettungslos an Kurt von Roschwitz verloren habe.“
Sinnend sah Dagmar vor sich hin. „Ich möchte wissen, wie das ist, wenn man sein Herz verliert.“
Käthe seufzte. „Du das ist ein ganz sonderbarer Zustand. Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Nun, du wirst es noch zeitig genug an dir selbst erfahren.“
Und das sollte bald in Erfüllung gehen. Eines Morgens saßen die beiden jungen Damen im Berndorfer Park auf einem Luginsland, der sich über die Parkmauer erhob. Sie sahen schweigend auf das reizende Landschaftsbild zu ihren Füßen. Und auf diesem Weg kamen zwei Herren geritten. Sie unterhielten sich eifrig und bemerkten die beiden jungen Damen nicht.
Diese aber konnten die beiden Herren mit Muße betrachten. Und Dagmar Rutharts Blick heftete sich groß auf den einen dieser Herren, der einen Schimmel ritt. Er hatte elastische Bewegungen und eine vornehme Haltung. Sein kühn geschnittenes Gesicht, das in Luft und Sonne einen hellen Bronzeton erhalten hatte, war bartlos. Um so besser kam der energische Zug um Mund und Kinn zur Geltung. Stahlblaue Augen sahen unter der schön geformten Stirn klar und energisch, aber nicht ohne Güte hervor.
Dagmar konnte ihren Blick nicht von diesem anziehenden Männergesicht lösen. Ein seltsames Gefühl stieg in ihr auf. Das Blut jagte ihr rebellisch zum Herzen, und ihre Augen hingen wie von einem Zauber gebannt an seinem Antlitz.
Als die beiden Herren vorüber waren, erwachte Dagmar wie aus einer Erstarrung. Sie fasste in verhaltener Erregung Käthes Arm. „Wer war das?“
Käthe sah sie lachend an. „Das war Herr von Thorau. Gelt, er ist ein schöner Mensch? Aber, halte dein Herz fest, ich sagte dir ja, er ist ein Blender. Und mein Vater sagte einmal von ihm: Er läuft jeder Schürze nach.“
Dagmars Blick folgte den beiden Herren. „Welcher von beiden ist Herrn von Thorau, der auf dem Goldfuchs oder der auf dem Schimmel?“
„Der auf dem Goldfuchs ist Thorau. Der andere wird vielleicht sein Freund Dr. Friesen sein, Lisa Rothbergs Verlobter.“
Leise zuckte Dagmar zusammen. Sie hatte ein Gefühl, als krampfe sich ihr Herz zusammen. Der Gedanke, dieser Mann könne Lisa Rothbergs Verlobter sein, tat ihr weh.
Käthe achtete nicht auf Dagmars verhaltene Erregung. Sie erhob sich schnell. „Komm, Dagmar, lass uns ins Haus zurückkehren! Wahrscheinlich wird Herr von Thorau mit seinem Freund einen Besuch in Berndorf machen. Und da müssen wir doch dabei sein.“
Auch Dagmar erhob sich, und die beiden jungen Damen gingen durch den Park nach dem Herrenhaus von Berndorf. Sie sahen, als sie zwischen den Bäumen hervortraten, dass ein Reitknecht den Schimmel und den Goldfuchs auf und ab führte.
„Lass uns durch die Hinterpforte eintreten, Dagmar! Wir sind noch in Morgenkleidern und müssen uns rasch umziehen“, sagte Käthe.
Sie beeilten sich sehr. Aber als sie nach einer Weile hinunterkamen, war nur noch Herr von Thorau anwesend. Dr. Friesen hatte sich schon wieder verabschiedet, weil er von seiner Braut erwartet wurde.
Herr von Thorau begrüßte die jungen Damen und machte ihnen ein wenig den Hof. Aber er konnte keine Eroberung machen. Käthe ließ ihn übermütig abfallen, und Dagmar reagierte überhaupt nicht. Sie zeigte sich ihm sehr ernst und zurückhaltend. Von allem, was Herr von Thorau sprach, interessierte sie nur, was Dr. Günter Friesen betraf. Sie hörte, dass er den ganzen Sommer als Gast in seinem Haus wohnen und jeden Morgen nach dem Gut seines künftigen Schwiegervaters reiten würde, um seine Braut zu besuchen. Und der Weg führte am Berndorfer Park vorüber!
Dagmar Ruthart hatte von diesem Tag an für den Luginsland eine noch größere Vorliebe als bisher. Und sie sah Dr. Günter Friesen täglich an der Parkmauer vorüberreiten. Zuweilen war er allein, zuweilen in Herrn von Thoraus Begleitung. Jedes Mal klopfte Dagmars Herz bis zum Hals hinauf, wenn der Reiter auf dem Schimmel auftauchte, und sie hielt den Atem an, um ja nicht in ihrem Versteck entdeckt zu werden.
Es fiel ihr auf, dass er meist düster vor sich hinsah, wenn er allein war, und es wollt ihr scheinen, als verschärfe sich der düstere Ausdruck seiner Züge von Tag zu Tag.
„Er sieht nicht sehr glücklich aus“, sagte Käthe eines Tages, als sie neben Dagmar auf dem Luginsland saß und Dr. Friesen vorüberreiten sah.
Dagmar schwieg dazu, aber in ihrem Herzen fragte sie sich beklommen: „Warum sollte er nicht glücklich sein?“
Mit fieberhafter Ungeduld wartete sie darauf, dass er in Berndorf seinen Besuch wiederhole, aber er kam nicht. Nur Herr von Thorau kam noch einige Male, und als Frau von Berndorf ihn eines Tages fragte, ob ihn sein Freund nicht wieder einmal begleiten würde, erwiderte er lachend: „Er ist ein sonderbarer Mensch, für ihn gibt es eigentlich nur zwei Dinge auf der Welt – seine Arbeit und seine Braut. Bis zu seiner Verlobung hat er einzig für seine Arbeit Interesse gehabt.“
„Also ist er ein sehr fleißiger Mensch?“, fragte Käthe.
„Ja, unheimlich fleißig. Und vielleicht vergisst er eines Tages über seiner Arbeit, dass er eine Braut hat. Wenn er nicht bis über beide Ohren in sie verliebt wäre, hätte er sie wohl schon vergessen. Fräulein Rothberg beklagte sich schon neulich bei mir, dass ihr Verlobter seiner Arbeit mehr Zeit widme als ihr.“
„Nun, wenn. sie weiter keine Nebenbuhlerin hat als seine Arbeit, dann braucht sie sich nicht zu beklagen“, bemerkte Frau von Berndorf lächelnd.
„Was arbeitet Dr. Friesen eigentlich?“, fragte Käthe.
„Er ordnet jetzt erst einmal die wissenschaftliche Ausbeute unserer Reise. Ich habe ja immer nur als sein Gehilfe fungiert und mich an den Forschungen nur beteiligt, wenn ich gerade Lust dazu hatte. Deshalb kann ich ihm auch jetzt wenig helfen, aber ich mache mich ihm dadurch nützlich, dass ich seiner Braut die Langeweile vertreibe, wenn er sich zu lange in seine Arbeit vergräbt.“
„Damit dürfte sie freilich nicht sehr einverstanden sein“, meinte Frau von Berndorf.
Herr von Thorau zuckte mit einem seltsamen Lächeln die Achseln. „Wer weiß!“
***
Am nächsten Tag machte Frau von Berndorf mit ihrer Tochter und Dagmar einen Besuch bei Rothbergs. Dagmar hatte heftiges Herzklopfen, weil sie annahm, dass sie Dr. Friesen vielleicht bei seiner Braut antreffen würde. Sie sehnte sich danach, ihn kennen zu lernen, und fürchtete sich zugleich, ihm gegenüberzutreten.
Aber Dr. Friesen war nicht anwesend, nur Herr von Thorau war da und kam mit Lisa Rothberg von einer Tennispartie aus dem Garten.
Es fiel nicht nur Dagmar unangenehm auf, dass Lisa Rothberg merklich mit Herrn von Thorau kokettierte. Auch Frau von Berndorf und ihre Tochter sprachen auf dem Heimweg darüber.
„An Dr. Friesens Stelle würde ich es nicht dulden, dass sich meine Braut so intensiv mit Herrn von Thorau beschäftigt“, sagte Käthe empört.
Ihre Mutter machte eine abwehrende Bewegung. „Sprich so etwas nicht aus, Käthe, man soll an solche Dinge nicht rühren“, sagte sie ermahnend. Aber im Stillen musste sie ihrer Tochter beipflichten.
Dagmar wurde von Tag zu Tag stiller. Käthe fragte sie besorgt, was ihr sei, und sie antwortete ausweichend: „Ich fürchte mich ein wenig, nach Hause zurückzukehren. Nach den Wochen in eurem Familienkreis werde ich mich doppelt einsam fühlen im Haus meines Vaters.“
Das war Wahrheit, obwohl es nicht der eigentliche Grund war für Dagmars stilles Wesen.
Sie liebte, und diese seltsame, einseitige Liebe schlug immer tiefere Wurzeln in ihrem Herzen. Voll Unruhe lief sie jeden Tag auf den Luginsland und wartete auf Dr. Friesens Erscheinen. Und sie merkte, dass sein Gesicht immer ernster und düsterer wurde.
Noch einmal war Dr. Friesen mit Herrn von Thorau in Berndorf gewesen, aber gerade an diesem Tag waren die drei Damen in die nahe Garnisonstadt gefahren, um Einkäufe zu machen.
Dagmar hatte ein seltsames Empfinden, als sie heimkam und von dem Besuch hörte.
„Das Schicksal scheint nicht zu wollen, dass ich ihn kennen lernen soll – und es ist gut so“, dachte sie.
Aber sie sehnte sich doch danach, ihm nur ein einziges Mal Aug’ in Auge gegenüberzustehen. Es sollte aber nicht dazu kommen. Nur Käthe hatte schließlich Dr. Friesens Bekanntschaft gemacht, als sie eines Morgens mit ihrem Vater ausgeritten war. Dagmar war nicht mit ausgeritten, weil sie ihre Sehnsucht nach dem Luginsland trieb. Käthe und ihr Vater waren Herrn von Thorau und Dr. Friesen begegnet, und Käthe berichtete das der Freundin und sagte: „Weißt du, Dagmar, dieser Dr. Friesen ist anscheinend eine viel zu wertvolle Persönlichkeit für Lisa Rothberg. Und er hat so unglückliche Augen, mir schien, als bedrücke ihn ein tiefes Leid. Vielleicht sieht er schon ein, dass seine Wahl ein Missgriff war.“
Über diese Worte musste Dagmar unablässig nachdenken. Und als sie am nächsten Morgen Dr. Friesen wieder vorüberreiten sah, dachte sie beklommen: „Nein, glücklich sieht er nicht aus, sondern wie ein Mensch, der ein schweres Schicksal zu tragen hat.“
Und ihr Herz krampfte sich in schmerzlichem Mitleid zusammen. Wieder war Dagmar eines Morgens auf dem Luginsland gewesen, aber diesmal war Dr. Friesen nicht vorübergeritten. Auch am folgenden Morgen kam er nicht vorüber.
Als Dagmar an diesem Tag zu Tisch kam, vernahm sie eine aufregende Kunde. Herr von Berndorf erzählte, dass Dr. Friesen vor einigen Tagen seine Braut in den Armen des Herrn von Thorau gefunden hatte, und zwar in einem Pavillon, in dem sie sich schon öfter ein Stelldichein mit ihm gegeben hatte. Dr. Friesen musste wohl schon Verdacht geschöpft haben, denn er war heimlich dem Freund gefolgt und hatte ihn in inniger Umarmung mit Lisa gefunden.
Es war zu einer peinvollen Szene gekommen, der die unausbleibliche Katastrophe folgte.
Dr. Friesen war nicht in das Haus des Herrn von Thorau zurückgekehrt, sondern war in ein Hotel der nahen Garnisonstadt übergesiedelt. Er hatte seiner Braut den Ring zurückgegeben und die Verlobung gelöst. Am nächsten Morgen war das Duell vorbereitet worden, und heute am frühen Morgen hatte es im Amselgrund stattgefunden. Dr. Friesen hatte Herrn von Thorau erschossen. Sein Sekundant hatte bezeugt, dass Dr. Friesen nach dem Arm seines Gegners gezielt hatte. Dieser hatte jedoch im letzten Moment eine Bewegung gemacht und war ins Herz getroffen worden. Dr. Friesen hatte sich sofort der Behörde gestellt, und Herr von Berndorf meinte, dass er zu Festungshaft verurteilt werden würde.
Alles dies hatte Herr von Berndorf von dem völlig fassungslosen Vater Lisa Rothbergs selbst erfahren.
Dagmar war vor Entsetzen wie gelähmt, und ihre Knie zitterten vor Erregung. Da aber alle sehr erregt waren, fiel es nicht auf. Sie vermochte keinen Bissen zu essen und zog sich nach Tisch, Kopfweh vorschützend, in ihr Zimmer zurück.
Als sie allein war, brach sie haltlos zusammen – vor Angst und Not um den Mann, den sie liebte. Und in ihrer Seele war ein dumpfer Groll gegen Lisa Rothberg, die durch ihren Verrat ein solches Unheil heraufbeschworen hatte.
Sie war froh, dass am nächsten Tag ihr Urlaub zu Ende war. Der Frieden von Berndorf war ihr in ihrer zerrissenen Stimmung unerträglich geworden. Sie nahm alle Kraft zusammen, um sich an diesem letzten Tag nicht zu verraten. Es gelang ihr auch, da ihre Gastfreunde durch die Duellaffäre auch in einer ziemlich bedrückten Stimmung waren und nicht wie sonst auf sie achteten.
Am nächsten Tag reiste sie nach herzlichem Abschied von ihren Gastgebern und ihrer Freundin Käthe ab.
***
Im Haus ihres Vaters hatte Dagmar dann die kühle, nüchterne Atmosphäre umfangen, die sie dort gewohnt war. Sie hatte ihr diesmal geholfen, ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden.
Aber unaufhörlich musste sie an Dr. Günter Friesen denken. Im Wachen und im Traum sah sie ihn vor sich, mit düsterem, blassen Gesicht.
Einige Tage nach ihrer Heimkehr erhielt sie von Käthe von Berndorf einen Brief. Sie teilte ihr unter anderem mit, Dr. Friesen habe seine Festungshaft angetreten.
Dagmar sah ihn nun im Geist einsam seiner Verzweiflung preisgegeben, zwischen den engen Festungsmauern. Und da kam ihr ein Gedanke, der ihr zuerst fast abenteuerlich erschien, von dem sie aber nicht wieder loskam.
So sehr sie sich dagegen wehrte, das zu tun, was ihr Herz begehrte – schließlich gab sie doch dem Drängen in ihrem Innern nach und schrieb an Dr. Friesen einen Brief.
Er lautete:
Sehr geehrter Herr Doktor!
Verzeihen Sie einer Ungekannten, Namenlosen, dass sie sich mit einem Schreiben in das Elend Ihrer Stimmung hineindrängt. Ich habe von Ihrem Schicksal gehört – gleichviel durch wen.
Mir ist, als müsste ich einer Seele, die in tiefe Not geraten ist, zu Hilfe kommen. Weil ich Ihnen nachempfinden kann, welche Schmerzen und Nöte Sie jetzt bedrohen, habe ich das Bedürfnis, Ihnen ein Trostwort zu sagen, das sie aufrichten kann in Ihrer Einsamkeit und Verbitterung. Ich wünsche so stark, Ihnen ein wenig über das Schwerste hinweghelfen zu können, dass ich meine, es müsste mir gelingen.
Dass Sie verraten wurden von der Frau, die Sie lieben, darüber muss Ihnen Ihr starker Geist hinweghelfen. Sie war Ihrer nicht wert, sonst hätte sie Ihnen das nicht angetan. Und dass der treulose Freund seinen Verrat mit dem Leben bezahlte, das haben Sie nicht gewollt. Ich habe das bestimmte Empfinden, dass dieses Duell, zu dem Sie gezwungen waren, nach Ihrem Willen einen anderen Ausgang haben sollte. Vielleicht wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn Sie gefallen wären.
Aber das Schicksal bestimmte es anders – es war in diesem Fall gerecht, und Sie dürfen sich die Schuld an diesem Ausgang nicht zumessen.
Ich hoffe, Ihre Arbeit wird Ihnen über diese schwere Zeit hinweghelfen. Und vielleicht ist es Ihnen doch ein leiser Trost, dass irgendwo in der Welt ein Menschenherz innig mit Ihnen empfindet.
Ich weiß, dass Sie allein im Leben stehen, dass Sie keine Verwandten, keine Mutter, keine Schwester haben. Nehmen Sie an, ich empfinde wie eine Schwester für Sie. Und wenn es Sie danach verlangen sollte, sich auszusprechen, dann tun Sie es mir gegenüber – aber nur, wenn Sie sich Erleichterung davon versprechen. Ich werde immer für Sie eine Namenlose bleiben, und was Sie mir anvertrauen, soll keines anderen Menschen Auge lesen als das meine. Wenn Sie mir schreiben wollen, senden Sie den Brief postlagernd, Berlin W 15, unter „Tropenflora“.
Verzagen Sie nicht – es wird auch für Ihre Wunden Heilung geben.
Eine Namenlose
Ohne diesen Brief noch einmal durchzulesen, machte ihn Dagmar postfertig. Sie trug ihn selbst zur Post.
In nervöser Unruhe verbrachte sie die nächsten Tage. Dabei lief sie mit scheinbar ruhigem Gesicht im Haus umher, saß ihrem Vater bei Tisch gegenüber und plauderte in ihrer kühl reservierten Art mit ihm.
Fast eine Woche wartete sie, ehe sie sich auf das Postamt wagte. Sie fuhr mit dem Auto dahin, ließ es halten und fragte am Schalter nach einem Schreiben unter „Tropenflora“.
Und ihr Herzschlag setzte fast aus, als ihr der Beamte wirklich ein Schreiben aushändigte. Sie barg es in ihrer Handtasche und fuhr nach Hause zurück.
Erst als sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, warf sie sich in einen Sessel und öffnete mit bebenden Händen das Schreiben.
An eine Namenlose!
Anders kann ich Sie, meine Gnädigste, nicht nennen, und ehe ich auf Ihr liebes Schreiben eingehe, möchte ich Sie fragen: Was befähigte Sie, in meinem Herzen zu lesen? Ich kann Ihnen nicht sagen, wie Ihre Worte auf mich gewirkt haben. Ich befand mich wirklich in einer tiefen Herzensnot, befinde mich jetzt noch darin, und ich warf Ihr freundliches, barmherziges Schreiben erst ungelesen zur Seite. Aber die klaren Schriftzüge auf der Adresse verfolgten mich auf meinem ruhelosen Gang durch das Zimmer, in dem ich meine Haft verbüße, als seien es freundliche Augen.
Ich erbrach Ihren Brief und las.
Ich las ihn zweimal und hatte sogleich das Gefühl: Hier empfindet eine Seele ehrlich mit dir, stoße sie nicht zurück! In der folgenden Nacht schlief ich das erste Mal wieder fest und ruhig – seit der Katastrophe, die mein vermeintliches Glück vernichtet hat.
Und am nächsten Morgen las ich Ihren Brief zum dritten Mal, und es war mir, als lege sich eine sanfte, kühle Hand auf mein schmerzendes Hirn. Ihre Worte erschienen mir nun schon lieb und vertraut. Und nun will ich Ihnen danken für Ihre Teilnahme, schlicht und ehrlich, ohne Überschwang. Ich weiß nicht, wie es Ihnen möglich war, sich so ganz in meine Empfindungen hineinzuversetzen – es hat mir wohlgetan. Helfen können Sie mir nicht, niemand kann das, und Trost finde ich vorläufig auch nicht, aber ich verspreche Ihnen, dass ich versuchen will, mich wiederzufinden.
Und wenn Sie mir wieder einmal ein freundliches Zeichen Ihrer Teilnahme zukommen lassen wollen, dann werde ich Ihnen ehrlich dankbar sein.
Ich begrüße die barmherzige Namenlose in dankbarer Ergebenheit.
Günter Friesen
In tiefster Erregung presste Dagmar diesen Brief an ihr Herz, als sie ihn gelesen hatte. Am liebsten hätte sie ihn gleich beantwortet, aber sie bezwang sich einige Tage. Dann schrieb sie wieder an ihn.
Sehr geehrter Herr Doktor!
Es hat mich innig gefreut, dass Sie mein Schreiben nicht falsch aufgefasst haben. Und so wage ich es heute schon wieder, Ihnen einige Zeilen zu senden. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Herzenseinsamkeit verbittern und unglücklich machen kann, und es hat Stunden in meinem Leben gegeben, in denen ich viel für ein warmes, teilnahmsvolles Wort gegeben hätte. Vielleicht lenken Sie mein Schreiben, auf kurze Zeit wenigstens, von Ihren Schmerzen ab. Dann haben sie ihren Zweck erfüllt. Wenn Sie nur erst über die erste, schlimmste Zeit hinweg sind, dann finden Sie schon wieder Kraft, sich selbst aufzurichten. Nur so lange, bis das geschehen ist, vielleicht so lange, wie Sie sich in Festungshaft befinden, will ich zuweilen an Sie schreiben, wenn es Ihnen nicht lästig wird. Kehren Sie dann ins Leben zurück, dann werde ich verstummen, und Sie können vergessen, was ich Ihnen schrieb
Eine Namenlose
Auf dieses Schreiben erhielt Dagmar folgende Antwort:
An eine Namenlose!
Ihr liebenswürdiges Schreiben hat mir wiederum sehr wohlgetan. Mir ist, wenn ich Ihre Briefe lese, als käme ein kleiner Vogel an mein Gefängnisfenster geflogen, der mir mit lieblichem Gezwitscher Trost spenden will.
Ich will nicht fragen, weshalb Sie mir Ihre Teilnahme schenken, sondern will sie annehmen als das großherzige Geschenk einer gütigen Frau. Unwillkürlich habe ich versucht, mir von Ihnen ein Bild zu machen, habe mich gefragt, ob Sie jung oder alt, Fräulein oder Frau sind, und welcher Lebenssphäre Sie angehören. Auch habe ich mich gefragt, was Sie befähigt hat, sich in die Seele eines Einsamen, Verbitterten zu denken. Manches in Ihren Briefen deutet auf große Jugend, manches auf eine reifere Weltanschauung. Aber alles verrät, dass Sie eine Frau von guter Erziehung sind und großen Herzenstakt besitzen. Gerade dass Sie namenlos für mich bleiben wollen, verrät viel Takt. Mein letztes schweres Erlebnis, das mich hierher gebracht hat, ist derart gewesen, dass es mich an den Frauen zweifeln lässt. Ich habe zuvor nicht viele Frauen kennen gelernt und keine genug, um mir ein richtiges Urteil über Frauen zuzutrauen. Aber einer schenkte ich mein ganzes Herz – und wurde betrogen. Und ich weiß, dass ich nun nie wieder eine Frau werde lieben können, dass ich keiner volles Vertrauen entgegenbringen werde. Vielleicht werde ich trotzdem eines Tages heiraten, denn ich halte es für die Pflicht eines Mannes, eine Familie zu gründen. Aber dann werde ich nur eine Vernunftehe eingehen. Mein Herz werde ich für alle Zeit fest im Zügel halten, es wird nie wieder sprechen.
Sie sehen, was Sie heraufbeschworen haben, meine Gnädigste. Ich spreche mit Ihnen, der Namenlosen, wie ich noch nie mit einem Menschen gesprochen habe. Vielleicht bereuen Sie nun schon, die Geister gerufen zu haben. Verzeihen Sie, wenn ich Ihre Güte missbrauchte. Ein Wort von Ihnen, und die Geister sind gebannt.
Ihr ergebener und dankbarer
Günter Friesen
Auch dieser Brief erregte Dagmar sehr. Sie sah lange auf die Worte herab:
„Und ich weiß, dass ich nun nie wieder eine Frau werde lieben können.“
Sie verstand ihn. Er war nicht ein Mann, der seine Gefühle in kleiner Münze an viele Frauen verzettelte, wie es wohl Herr von Thorau getan hatte. Er hatte einmal alles geschenkt und würde ein zweites Mal nichts zu geben haben.
Aber ihre Liebe war wunschlos, sie wollte nichts als ihn trösten und aufrichten. Und dass er sie in sein Inneres sehen ließ, war dennoch ein Gewinn für sie. Es gab ihrem Leben einen Inhalt.
Diesen Brief beantwortete sie sofort. Sie schrieb:
Sehr geehrter Herr Doktor!
Es hat mich sehr gefreut, dass Sie mir so viel Vertrauen entgegenbringen. Ich bereue ganz sicher nicht, die Geister gerufen zu haben. Sie dürfen mir alles sagen, was Sie mir sagen wollen, und zu danken brauchen Sie mir nicht. Es ist mir Dank genug, dass ich Ihnen ein wenig aus Ihrer düsteren Stimmung helfen konnte. Wenn man erst über seine Schmerzen sprechen kann, sind sie schon halb überwunden.
Ob ich alt oder jung, Fräulein oder Frau bin – darüber sollen Sie nicht nachdenken. Ich will ganz gegenstandslos für Sie bleiben. Nehmen Sie an, dass eine verwandte Seele durch diese Briefe den Weg zu Ihnen fand, eine Seele, die in einer kühlen, liebeleeren Atmosphäre vegetieren muss. Ich lebe unter Menschen, die, bildlich gesprochen, meine Sprache nicht verstehen. Sie leben in einer Einsamkeit, in der Sie auch kein Verständnis finden können. So wollen wir durch unsere Briefe miteinander reden wie zwei Menschen, die sich im fernen Land begegnen und erkennen, dass sie in einer Sprache sprechen. Seien Sie gegrüßt von
Einer Namenlosen
Auf diesen Brief erhielt Dagmar sehr schnell eine Antwort. Sie lautete:
An eine Namenlose!
Ist es nicht seltsam, dass ich Ihrem Schreiben mit einer leisen Sehnsucht entgegensah? Ich freute mich, als es so bald eintraf, und beeile mich, Ihnen darauf zu antworten. Es kann ja nicht anders sein, auch Sie müssen Schweres erfahren haben. Glückliche Menschen können sich nicht in die Seelen Unglücklicher hineindenken. Und gerade, dass Sie namenlos für mich bleiben wollen, löst mir die Zunge, wie sie mir noch nie gelöst wurde.
Ich habe nie einem Menschen anvertrauen können, was im tiefsten Innern in mir lebt, auch nicht einmal der Frau, die ich liebte. Sie war zu jung, zu sehr an Glanz und Glück gewöhnt, als dass sie mich restlos hätte verstehen können, selbst wenn sie mich wirklich geliebt hätte, wie ich es glaubte. Deshalb behielt ich zurück, was mich im Innersten bewegte – ich wollte es für eine Zeit verwahren, in der sie ganz eins mit mir geworden sein würde.
Es kam anders. Ich habe mich ihr nie ganz erschließen können und weiß auch nun, dass ich nie verstanden worden wäre.
Ihnen gegenüber fällt es mir nicht schwer, ganz offen zu sein. Ich würde es wahrscheinlich auch nicht können, wenn Sie mich mit menschlichen Augen ansehen würden, denn ich bin eine herbe, verschlossene Natur. Aber der verwandten Seele, die in meiner tiefsten seelischen Bedrängnis lindernde, verständnisvolle Worte zu mir sprach, will ich mich erschließen, wie sich vielleicht eine sensitive Natur einem verschwiegenen Tagebuch anvertraut.
Ich habe nie einen Menschen ganz mein eigen genannt. Meine Mutter starb, ehe ich ahnte, was eine Mutter ist. Sie starb, wie man mir sagte, an gebrochenem Herzen. Mein Vater war schuld daran.
Meinen Vater nahm mir nicht der Tod, sondern das Leben. Im Grunde habe ich nie einen Vater gehabt. Geschwister habe ich nie besessen, auch keinerlei Verwandte. Freunden konnte ich mich nie ganz erschließen, weil sie mich nicht verstanden hätten. Das wahre Wesen der Freundschaft halte ich überhaupt für einen so ideellen Begriff, dass es sich nicht ganz verwirklichen lässt. Selbst der Mann, der sich mein Freund nannte und der mich dann betrog, weil er zu schwach war, einer Lockung zu widerstehen, war mir immer nur ein guter Kamerad und Weggenosse, nicht mehr.
Trotzdem hat es mich bis ins tiefste Herz getroffen, dass er mich verriet. Noch tiefer hat es mich freilich getroffen, dass meine Hand es war, die ihm den Tod brachte – sehr gegen meinen, Willen. Ich war der Meinung, dass ich nie in die Lage kommen würde, ein Duell auszufechten. Nun ist es doch geschehen. Ein junges Leben ist daran verblutet, und ein anderes Leben, das meine, hat dadurch eine noch düstere Signatur erhalten als bisher. Das Duell kann niemals eine gerechte Sühne bedeuten. Auch wenn der Schuldige fällt, wird der Unschuldige mitgetroffen, vielleicht dann am härtesten, wenn er Art von meiner Art ist.
Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Und doch wird das Duell nicht abgeschafft werden, solange es als Schmach gilt, beleidigt zu werden. Erst wenn jede Beleidigung auf den Beleidiger als Schmach zurückfällt, wird das Duell ein Ende haben.
Aber ich verliere mich in philosophische Betrachtungen über das Duell – das ist wirklich kein Thema für eine Dame. Verzeihen Sie mir, meine Gnädigste! Ich bin ein ungeschickter Mensch und habe vergessen, dass ich mit einer Dame korrespondiere. Ich fürchte, Sie werden nach dieser Probe meines Ungeschicks keine Lust mehr spüren, den Briefwechsel mit mir fortzusetzen. Und das würde mir sehr Leid tun.
Ihr dankbar ergebener
Günter Friesen
Aber Dagmar hatte natürlich auch auf diesen Brief geantwortet und die Korrespondenz war beiderseitig mit Eifer fortgesetzt worden.
Die beiden Menschen hatten sich mehr und mehr ihr tiefstes Inneres erschlossen. Dabei behielt die Korrespondenz trotz aller Vertraulichkeit etwas Unpersönliches. Es waren tatsächlich eine Art Tagebuchblätter, die sie austauschten, wenigstens von Dr. Friesens Seite, für den seine Partnerin tatsächlich ein wesenloser Begriff war.
Er hatte freilich zuweilen versucht, sich ein Bild von der Namenlosen zu machen, aber nie war er auf den Gedanken gekommen, dass sie ein so junges Geschöpf war.
Dagmar lebte in dieser Zeit nur noch in den Briefen.
Sie bildeten ihren eigentlichen Lebensinhalt. Was sie sonst noch im Haus ihres Vaters erlebte, glitt an ihr vorbei wie etwas, das nicht zu ihr gehörte und ihr innerstes Sein nicht berührte.
Im regsten Briefwechsel verging die Zeit. Dann bekam Dagmar eines Tages die Nachricht, dass Dr. Friesen im Gnadenweg der Rest seiner Festungshaft erlassen werden würde. Er schrieb ihr in diesem Brief unter anderem:
Ich gedenke sofort nach meiner Entlassung eine neue Forschungsreise nach den Tropen anzutreten. Es treibt mich hinaus, und ich hoffe, in der Wildnis am schnellsten mein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Diese Monate auf der Festung waren eine Qual für mich, weil ich eine Natur bin, die keinen Zwang verträgt. Wenn ich sie so leidlich überstanden habe, danke ich es nur Ihnen und Ihren lieben Briefen. Lassen Sie mich im Geist Ihre liebe, gütige Hand küssen, die so viel Tröstliches für mich niederschrieb. Ich möchte gern, sehr gern, Ihnen persönlich meinen Dank abstatten. Sie wollen es nicht, wollen für mich die Namenlose, Unbekannte bleiben, und ich muss mich Ihren Wünschen fügen. Sie haben mir geschrieben, dass an dem Tag, da ich die Festungshaft verbüßt habe, unsere Korrespondenz aufhören muss, und ich nehme an, dass Sie bestimmte Gründe dafür haben und muss mich bescheiden. Vielleicht fügt es das Schicksal dennoch, dass wir uns einmal begegnen.
Leben Sie wohl, und wenn Sie je eines Menschen bedürfen, der Ihnen helfen kann, so rufen Sie mich. Und wenn Sie mir jemals noch etwas zu sagen haben, so werde ich mich immer freuen, ein neues Lebenszeichen von der gütigen Namenlosen zu erhalten. Unten angefügte Adresse genügt. Von dort aus erhalte ich alle Briefe nachgesandt, wo ich auch weile.
Nochmals in inniger Dankbarkeit und Ergebenheit
Ihr Günter Friesen
Darauf hatte auch Dagmar die letzten Zeilen an ihn gesandt.
Sehr geehrter Herr Doktor!
Viel Glück wünsche ich Ihnen auf dem Weg in die Freiheit. Meine guten Wünsche sollen Sie überall begleiten. Es hat mich froh gemacht, dass meine Briefe Ihnen etwas sein konnten in der schweren Zeit, die hinter Ihnen liegt. Nun ist Ihnen das Leben wieder erschlossen und ruft mit tausend Stimmen den Schaffenslustigen und Tatendurstigen. Sie bedürfen meiner nun nicht mehr. Die barmherzige Schwester entlässt den geheilten Kranken aus ihrer Pflege. Wenn ich mir in diesen Monaten zuweilen Vorwürfe darüber machte, dass ich diese ganz aus dem Rahmen des Herkömmlichen fallende Korrespondenz mit Ihnen begann, dann sagte ich mir immer: Du tust es nur, solange er in Festungshaft sitzt und kein anderer Mensch ihm beistehen, ihn trösten kann. Wird er entlassen, hört die Korrespondenz auf, in die Welt hinaus trägst du sie nicht. Darauf gab ich mir mein Wort. Und man muss Wort halten – sich selbst am meisten.
Deshalb ist dies mein letztes Schreiben an Sie. Ich glaube nicht, dass wir uns im Leben je begegnen, aber sollte es auch sein – ich habe mir den Schwur abgelegt, mich Ihnen nicht zu verraten. Deshalb will ich jetzt von Ihnen Abschied nehmen. Gott mit Ihnen und viel Erfolg für Ihre Arbeit! Von Ihrem Schaffen werde ich vielleicht durch die Öffentlichkeit hören und mich dann still Ihrer Erfolge freuen. Zum letzten Mal einen herzlichen Gruß von
Einer Namenlosen
***
Seit dieser Zeit hatte Dagmar Ruthart nichts mehr von Dr. Günter Friesen gehört als einige kurze Zeitungsnotizen, in denen mitgeteilt wurde, dass er eine neue Forschungsreise angetreten habe.
Das Aufhören der ihr lieb gewordenen Korrespondenz ließ sie viel entbehren. Die Briefe Günter Friesens waren ihr ein Heiligtum. Sie las immer wieder darin, wenn sie in ihrer Umgebung im Herzen darbte und fror.
Zuweilen war freilich eine Stimme in ihr laut geworden, die ihr vorwurfsvoll zuraunte: „Warum hast du ihn zurückgewiesen, als er dir seinen Dank persönlich abstatten wollte?“
Aber dann sagte sie sich doch wieder: „Nein, nein, es ist gut so, wie es ist.“
Reichlich drei Jahre waren nun seit der Abreise Dr. Friesens vergangen. Und noch immer dachte Dagmar an ihn, noch immer lebte in ihrem Herzen diese seltsame, hoffnungslose Liebe. Dabei fehlte es ihr nicht an Verehrern, die sich um ihre Hand bewarben. Zuweilen war ihr einer ein wenig sympathischer geworden als die anderen. Dann hatte sie mit dem Gedanken gespielt, dass sie vielleicht in einer Ehe mit ihm ganz zufrieden werden könne. Aber das waren nur spielerische Gedanken gewesen.
Heute war sie nun plötzlich der Wirklichkeit nahe gerückt, und sie war im tiefsten Herzen darüber erschrocken.
Hätte der Vater ihr zwischen ihren Bewerbern die Wahl gelassen, so hätte sie sich vielleicht in den Gedanken an eine Ehe hineinfinden können. Aber er hatte ihr keine Wahl gelassen, hatte einfach diktatorisch einen Bewerber bestimmt, ihm wohl gar schon ihre Hand zugesagt. Alles in ihr setzte sich zur Wehr gegen einen Mann, der sich bereit erklärte, sich um sie zu bewerben, ohne sie nur ein einziges Mal gesehen zu haben.
In tiefes Grübeln versunken saß sie noch über ihren Briefen, als der Gong im Vestibül zu Tisch rief. Hastig schloss sie die Kassette mit den Briefen fort und begab sich hinunter ins Speisezimmer.
Mit ihr zugleich trat Klaus Ruthart ein. Die Hausdame, Baronin Steinberg, eine vornehm wirkende Erscheinung mit kunstvoll frisiertem weißen Haar, war bereits anwesend. Vater und Tochter begrüßten sie höflich. Man nahm an einem runden Tisch Platz.
Auf einen Wink der Baronin begannen die Diener zu servieren. Die Baronin Steinberg war eine kluge, wohlunterrichtete Dame und verstand amüsant und witzig zu plaudern. Der Kommerzienrat liebte bei Tisch eine anregende Unterhaltung, und die Baronin hatte immer einige interessante Tagesfragen bereit, über die es lohnte zu plaudern. So auch heute.
Dagmar war aber heute noch stiller als sonst. Ihr Vater nahm jedoch scheinbar keine Notiz davon, obwohl er zuweilen verstohlen in ihr blasses Gesicht sah.
Als der Nachtisch serviert worden war, sagte er wie beiläufig zur Baronin: „Morgen Abend erwarte ich Gäste – etwa zwanzig. Sie sorgen bitte für ein exquisites Souper. Ich möchte Ehre damit einlegen. Graf Günter Taxemburg ist unter den Gästen, und ihm zu Ehren soll die kleine Feier stattfinden. Also exquisit, liebe Baronin! Die Tafelordnung überlasse ich Ihnen und meiner Tochter, hier ist die Liste der Geladenen. Eine Bedingung habe ich, Dagmar – Graf Taxemburg soll dich zu Tisch führen.“
Dagmar neigte erblassend das Haupt, ihre Lippen pressten sich zusammen, als müsse sie eine Entgegnung ersticken.
Die Baronin beeilte sich, noch einige Fragen an den Hausherrn zu richten. Er beantwortete sie kurz und präzise. Dann zog er sich mit seiner Tochter in ein Nebenzimmer zurück, während die Diener abservierten und die Baronin selbst in einer silbernen Kaffeemaschine den Mokka bereitete.
Inzwischen sagte Klaus Ruthart zu seiner Tochter: „Du tust gut daran, dich ein wenig auf die Unterhaltung mit Graf Taxemburg zu präparieren. Er ist ein weit gereister, kluger und sehr interessanter Mann. Du liebst ja tiefgründige Themen in der Unterhaltung. Da wird er dich zufrieden stellen, und du wirst dich sicher gut mit ihm unterhalten.“
Mit einem leisen Protest sah ihn seine Tochter in die Augen. „Ich werde ihm begegnen wie jedem anderen Gast unseres Hauses, Papa.“
Er beugte sich vor und sah sie zwingend an. „Du wirst ihm begegnen, wie ich es wünsche, Dagmar.“
Scharf klangen diese Worte, und unter seinem zwingenden Blick zerbrach Dagmars Auflehnung, noch ehe sie sich recht ans Licht gewagt hatte.
Als Dagmar eine halbe Stunde später in ihren Zimmern allein war, kam sie sich vor wie ein gefangener Vogel, der alles tun musste, was man von ihm verlangte. Aber außerhalb des Bannes, den ihres Vaters Augen auf sie ausübte, empörte sich nun wieder ihr ganzes Empfinden gegen den Zwang.
Wie sollte sie sich aber diesem Zwang entziehen?
Sie dachte lange darüber nach, und endlich richtete sie sich entschlossen auf.
„Ich werde Graf Taxemburg sagen, dass mich mein Vater zwingen will, ihn zu heiraten, werde an seine Ritterlichkeit appellieren. Vielleicht ist er Kavalier genug, dann selbst zurückzutreten“, dachte sie.
Und dieser Entschluss machte sie etwas ruhiger.
Im Lauf des Nachmittags las sie noch einmal alle Briefe Günter Friesens durch, und ihr Herz war voll Trauer.
Erst zur Teestunde verließ sie ihre Zimmer, um mit der Baronin den Tee einzunehmen. Der Kommerzienrat war um diese Zeit meist abwesend. So auch heute. Die beiden Damen plauderten über gleichgültige Dinge. Während sie beim Tee saßen, wurde Post gebracht, ein Brief an Dagmar von ihrer ehemaligen Pensionsfreundin Käthe, die schon seit Jahresfrist die Gattin des Herrn von Roschwitz geworden war und jetzt mit ihrem Mann in einer rheinischen Garnison lebte. Sie war mit Dagmar im Briefwechsel geblieben. Ihr heutiger Brief lautete:
Meine liebe Dagmar! Diesmal habe ich dich länger als sonst auf einen Brief warten lassen. Ich schäme mich meiner Saumseligkeit. Aber sei du nur erst einmal verheiratet, dann wirst du einsehen lernen, was für eine anspruchsvolle Persönlichkeit ein Mann ist. Er duldet andere Götter nicht neben sich, sogar auf eine Pensionsfreundin ist er eifersüchtig.
Aber ich wünsche dir, dass du bald ebenso glücklich verheiratet sein mögest, wie ich es bin.
Ich möchte dich gern einmal wiedersehen, liebste Dagmar. Im September, wenn mein Mann im Manöver ist, gehe ich nach Berndorf zu meinen Eltern. Könntest du uns dann nicht in Berndorf besuchen? Ich hätte dann viel Zeit für dich, und wir könnten uns wieder einmal nach Herzenslust ausplaudern. Das wäre doch reizend. Und nun eine Neuigkeit. Denke dir, Lisa Rothberg hatte sich ein zweites Mal verlobt, und auch diese Verlobung ist wieder auseinander gegangen.
Ich habe bei dieser Nachricht lebhaft an die aufregenden Tage von damals zurückdenken müssen. Herr von Thorau ist nun schon fast vier Jahre tot. Und denke dir, heute sah ich in der Auslage meines Buchhändlers unter den neu erschienenen Büchern ein Werk von Dr. Günter Friesen: „Eine Reise durch die Wildnis der Tropen“. Ich muss mir das Buch kaufen und, wenn mir mein Mann Zeit lässt, es lesen. Dr. Friesen war doch immerhin eine der interessantesten Persönlichkeiten, die ich kennen gelernt habe. Fandest du ihn nicht auch sehr interessant?
Aber darüber wollte ich eigentlich nicht schreiben. Ich habe dir noch etwas Wichtiges mitzuteilen. Also im nächsten Jahr wird mein Mann seinen Abschied nehmen und sich unter meines Vaters Leitung zum Landwirt ausbilden. Vater ist ruhebedürftig und will sich entlasten. Und da wir doch eines Tages Berndorf übernehmen müssen, ist es ganz gut, wenn wir uns jetzt schon einrichten. Ich freue mich auf mein altes, liebes Berndorf. Dann werden wir zwei uns auch wieder öfter sehen. Denn von Berndorf bis Berlin ist es ja nur ein Katzensprung. Vorläufig hoffe ich dich aber im September wiederzusehen.
Bitte schreib mir bald und sei herzlichst geküsst von
Deiner Käthe
Aus dem Inhalt dieses Schreibens erscheint Dagmar nur eins wichtig: dass ein wissenschaftliches Werk von Dr. Günter Friesen erschienen war. Darüber vergaß sie vorläufig alles andere. Mit Herzklopfen faltete sie den Brief zusammen.
Und nach einer Weile sagte sie: „Ich möchte noch ausfahren, um eine Besorgung zu machen, Frau Baronin.“
Erstaunt sah diese auf. „Jetzt noch, Fräulein Dagmar? Sie haben wohl vergessen, dass Sie heute Abend mit Ihrem Herrn Vater in die Oper fahren werden?“
Dagmar strich sich über die Stirn. „Richtig, das hatte ich vergessen. Wie spät ist es jetzt? Zwanzig Minuten nach fünf Uhr. Ich möchte mir nur ein Buch besorgen, das mir eben meine Freundin Frau von Roschwitz empfohlen hat. Das hält ja nicht lange auf. Ich werde jedenfalls gleich zur Buchhandlung fahren, dann bin ich noch rechtzeitig zurück, um mich für die Opfer umzukleiden.“
Und Dagmar sprang lebhaft auf und klingelte. Dem eintretenden Diener befahl sie, das kleine Auto vorfahren zu lassen, das der Vater ihr für ihren persönlichen Gebrauch geschenkt hatte. Wenige Minuten später fuhr sie davon.
In der Buchhandlung verlangte Dagmar mit klopfendem Herzen das Werk von Dr. Günter Friesen. Sie war voll Unruhe, ob sie es gleich bekommen würde, und atmete auf, als es ihr der Buchhändler auf den Tisch legte. Sie bezahlte und drückte das Buch wie einen kostbaren Schatz an sich. Es war ein stattlicher Band. Sie ließ ihn nicht aus den Armen, als sie nach Hause fuhr. Kaum konnte sie die Zeit erwarten, bis sie darin lesen konnte. Am liebsten wäre sie heute Abend zu Hause geblieben, um gleich mit der Lektüre des Werkes zu beginnen. Aber ihr Vater konnte sehr ungehalten werden, wenn seine Bestimmungen durchkreuzt wurden. Er hatte für heute Abend den Opernbesuch angesetzt, und Dagmar wusste, dass sie sich darein zu fügen hatte.
So kleidete sie sich nach ihrer Heimkehr sofort um, nachdem sie das Buch wie einen kostbaren Schatz verwahrt hatte. Ihre Zofe hatte ihr schon alles zurechtgelegt und half ihr mit flinken Händen in die elegante Robe.
Pünktlich schritt Dagmar die Treppe hinab ins Vestibül. Hier legte ihr ein Diener einen kostbaren Spitzenmantel über die Schultern.
Es war ein lauer Frühlingsabend, und die Sonne war erst im Untergehen. Die Theatersaison ging ihrem Ende entgegen, aber es gastierte heute Abend eine Berühmtheit, und deshalb war noch einmal alles, was zur guten Gesellschaft gehörte, in der Oper. Klaus Ruthart führte seine Tochter mit korrekter Höflichkeit in die Loge.
Sie nahm ihren Platz an der Logenbrüstung ein und wurde von verschiedenen Seiten begrüßt. In der ihr eigenen, anmutig zurückhaltenden Weise erwiderte sie die Grüße.
Auch Klaus Ruthart begrüßte sich mit verschiedenen Persönlichkeiten. Er war eine bekannte Erscheinung.
Ziemlich teilnahmslos glitten Dagmars Augen über die ersten Platzreihen. Aber plötzlich zuckte sie zusammen. Ihr Gesicht verfärbte sie jäh, und wie im tiefsten Erschrecken blieb ihr Blick an einem kühn geschnittenen Männergesicht hängen, dessen Bronzeton zwischen den weißen Gesichtern besonders auffiel. Unter Tausenden hätte sie dieses charakteristische Gesicht wiedererkannt.
Sie lehnte sich, kaum imstande, ihre Erregung zu bezwingen, in ihren Sessel zurück und schloss die Augen. Wie eine heiße Woge rauschte es über sie hin. Ihr Herz klopfte laut, und ihre Hände krampften sich zusammen.
Die Stimme ihres Vaters klang an ihr Ohr, noch ehe sie ihre Fassung wiedererlangt hatte. Ihr war, als töne sie aus weiter Ferne zu ihr. Sie verstand nicht, was er sagte, aber sie bezwang mit allen Kräften die Erregung in sich nieder.
Langsam ebbte diese ab.
Sie öffnete die Augen wieder und sah hinunter ins Parkett. War es ein Traum gewesen, saß wirklich da unten Günter Friesen? Ihr Blick hing in tiefer Ergriffenheit an seinem Gesicht. Es war, als übte ihr Blick eine geheime Anziehungskraft aus. Günter Friesen hob die Augen, und sein Blick traf mit dem ihren zusammen. Aber seine Augen schweiften interesselos weiter, und sie fühlte mit leisem Erschauern, dass sie nichts weiter für ihn war als eine gleichgültige Fremde, während er ihres Herzens Schicksal darstellte.
Plötzlich bemerkte sie, dass seine Augen sich auf ihren Vater richteten. Dieser sah in demselben Augenblick zu ihm hinab, und zu Dagmars grenzenloser Überraschung grüßten die beiden Herren einander.
Alles Blut schoss Dagmar zum Herzen. Sie bemerkte, dass Dr. Friesens Augen jetzt mit erwachtem Interesse zu ihr zurückkehrten und sie forschend und prüfend betrachteten.
In demselben Augenblick begann die Ouvertüre. Das Licht erlosch, es wurde dunkel im Zuschauerraum.
Nach einer Weile beugte sich ihr Vater zu ihr und sagte leise: „Graf Taxemburg ist anwesend in der Oper. Nach Aktschluss werde ich ihn dir zeigen, sobald es hell wird im Zuschauerraum. Du kannst ihn dir dann erst einmal in Ruhe betrachten, ehe ich ihn dir vorstelle. Sicher wird er in der großen Pause nach dem zweiten Akt unsere Loge aufsuchen.“
Dagmar hörte diese Worte ohne Interesse. Was galt ihr jetzt Graf Taxemburg! Sie wusste nur, dass sie nie, niemals dessen Gattin werden konnte, nun da sie Günter Friesen wiedergesehen hatte.
Von den Vorgängen auf der Bühne sah und hörte sie nichts. Es drang wenigstens nichts davon über ihre Bewusstseinsschwelle. Immer wieder flog ihr Blick, die Dunkelheit durchdringend, zu Dr. Friesen hinunter. Und einmal glaubte sie zu bemerken, dass er nach ihrer Loge heraufsah. Vielleicht galt sein Blick aber nur ihrem Vater.
Jedenfalls befand sich Dagmar in einer unbeschreiblichen Aufregung, und als der Vorhang fiel, musste sie sich gewaltsam fassen, damit der Vater ihre Erregung nicht bemerkte. Sie sah, dass er wiederum lächelnd zu Günter Friesen hinunterblickte, und wunderte sich, dass es in so verbindlicher Art geschah. Dr. Friesen nickte lächelnd zurück.
Dann wandte sich der Vater zu ihr. „Hast du den Herrn bemerkt, Dagmar, dem ich eben zunickte?“, fragte er.
Fest presste sie die Handflächen zusammen. „Du meinst den Herrn in der dritten Parkettreihe, mit dem gebräunten Gesicht?“, fragte sie, ihrer Stimme Festigkeit gebend.
Ihr Vater nickte. „Ganz recht, den meine ich. Es ist Graf Taxemburg.“
Betroffen zuckte Dagmar zusammen. Sie sah erst ihren Vater an, dann zu Günter Friesen hinab. „Das ist wohl ein Irrtum, Papa. Ich meine den Herrn, der in der Mitte der dritten Parkettreihe zwischen dem Kürassieroffizier und der Dame im königsblauen Kleid sitzt – er sieht eben wieder zu uns herauf.“
Klaus Ruthart nickte. „Ja, ja, just den meine ich auch. Es ist Graf Taxemburg.“
Fassungslos sah Dagmar in ihres Vaters Gesicht. „Das – das soll Graf Taxemburg sein?“, stieß sie heiser hervor.
Ihr Vater lachte. „Er soll es nicht sein, er ist es“, sagte er ruhig.
Vor Dagmars Augen drehte sich der ganze Zuschauerraum. Der Mann da unten, den sie mit Bestimmtheit unter Tausenden erkannt hätte, wurde von ihrem Vater als Graf Taxemburg bezeichnet. Wie konnte das möglich sein? Hatte Günter Friesen einen Doppelgänger?
Aber nein, nein, dieser schmale, rassige Kopf, dieses herbe, düstere Gesicht, diese stahlblauen Augen nein, das konnte es nicht noch einmal geben. Irgendein Irrtum musste da vorliegen – ihr Vater musste sich täuschen.
Als der zweite Akt begann, lehnte sie sich ganz erschöpft in ihren Sessel zurück. Das Blut jagte ihr durch die Adern. Das Herz klopfte bis zum Hals hinauf, und die berühmte schöne Tenorstimme des Gastes erschien ihr als ein störendes Geräusch, das sie am Nachdenken hinderte.
Sie atmete wie erlöst auf, als der Vorhang sich senkte und der Zuschauerraum sich erhellte. Ihre Augen suchten Günter Friesen. Er hatte sich erhoben und ging langsam dem Ausgang zu.
Sie sah ihren Vater an. „Gehen wir ins Foyer, Papa?“, fragte sie mit tonloser Stimme.
„Wir wollen hier bleiben, Dagmar. Graf Taxemburg kommt sicher herauf, und es ist mir sehr lieb, dass ihr euch auf neutralem Boden kennen lernt“, erwiderte er.
Dagmar ließ sich im Hintergrund der Loge in einen Sessel nieder. Ihre Knie versagten ihr den Dienst. Sie hatte sich so platziert, dass ihr Gesicht im Schatten blieb.
Nie waren ihr wenige Minuten so endlos lang erschienen wie die nächsten. Endlich wurde die Logentür geöffnet, und in ihrem Rahmen erschien ein großer, schlanker Mann. Mit unruhigen Augen sah Dagmar ihm entgegen. Und sie erkannte in dem Eingetretenen Dr. Günter Friesen, den sie so oft in Berndorf gesehen hatte, der mit Lisa Rothberg verlobt gewesen war und dem sich ihr Herz so eigenwillig zugewandt hatte.
Ihr Vater begrüßte den jungen Mann mit Handschlag. „Schon in Berlin angelangt, Herr Graf? Es freut mich, Sie begrüßen zu können. Sie gestatten, dass ich Sie meiner Tochter vorstelle.“
Der junge Herr verneigte sich ernst. „Ich bitte um den Vorzug“, erwiderte er artig.
Und es war auch Günter Friesens Stimme und Aussprache. Dagmar hatte ihn ja im Vorüberreiten oft genug mit Herrn von Thorau sprechen hören. Ihr Herz klopfte in wilden, harten Schlägen.
„Gestatte, liebe Dagmar – Graf Günter Taxemburg, meine Tochter Dagmar“, stellte Klaus Ruthart vor.
Graf Taxemburg verneigte sich vor. Dagmar. Seine ernsten, düsteren Augen hefteten sich auf ihr Gesicht.
Wie es ihr möglich war, seinen Blick auszuhalten und die Fassung nicht zu verlieren, wusste sie nicht. Sie benahm sich wie ein Automat, neigte das Haupt und erwiderte einige formelle Worte. Sie vermochte es sogar, ein Urteil über den berühmten Gast abzugeben. Was sie sprach und was er erwiderte, hätte sie später nicht mehr zu sagen gewusst. Es waren nur gesellschaftliche Phrasen ohne jede persönliche Note – hüben wie drüben. Sie wunderte sich nur, dass sie ihre Fassung nicht verlor und so ruhig und formell mit ihm plaudern konnte. Graf Taxemburg hatte keine Ahnung, mit welchen Gefühlen ihm Fräulein Dagmar Ruthart gegenüberstand. Er hielt ihr Wesen für kühle Förmlichkeit, und ihre Schönheit ließ ihn daher völlig kalt.
„Sie legt anscheinend nur Wert darauf, Gräfin Taxemburg zu werden. Das ist wohl alles, was sie in einer Ehe mit mir sieht. Also brauche ich mir wenigstens keine Vorwürfe zu machen, dass ich ihr nicht mehr zu geben habe, als sie mir“, dachte er.
Aber er blieb während der ganzen Pause in der Loge. Der Kommerzienrat verwickelte ihn in ein Gespräch, in das Dagmar nur zuweilen einige Worte einwarf.
In ihrem Innern rang sie noch immer nach Fassung, und vergeblich zermarterte sie sich den Kopf, wie es möglich sei, dass Günter Friesen plötzlich als Graf Taxemburg vor ihr stand.
Sie hätte sich vielleicht Klarheit verschaffen können, wenn sie ihn gefragt hätte, ob er sich vor vier Jahren als Dr. Friesen in Thüringen aufgehalten habe. Er hätte ihr dann Antwort geben müssen. Aber sie fürchtete, sich ihm damit irgendwie zu verraten. Nie, niemals durfte er ahnen, dass sie ihn heute nicht zum ersten Mal sah, dass sie die Namenlose war, mit der er monatelang in Briefwechsel gestanden hatte.
Die Pause war zu Ende. Graf Taxemburg verabschiedete sich und fragte Dagmar artig, ob er sich am nächsten Tag nach ihrem Befinden erkundigen dürfe. Sie neigte zustimmend das Haupt. Er verbeugte sich dankend, und reichte ihrem Vater die Hand. Dann verließ er die Loge.
Klaus Ruthart sah auf seine Tochter herab, die bleich und in verhaltener Erregung ihren Sessel an der Logenbrüstung wieder einnahm.
„Du warst kühler und förmlicher Graf Taxemburg gegenüber, als es mir wünschenswert erschien, Dagmar. Ich erwarte, dass du es morgen gutmachst“, sagte er.
Mit einem unsicheren Blick sah sie zu ihm auf.
„Lass mir Zeit, Papa!“, bat sie tonlos.
Ein wenig ungeduldig zuckte er die Achseln. „Solange du Graf Taxemburg nicht persönlich kennen gelernt hattest, war ich nachsichtig. Ich meine, einem Freier wie ihm könntest du etwas freudiger entgegensehen. Du hast Zeit bis morgen, dich zu besinnen, und ich hoffe dass du ihm dann anders als heute begegnest.“
Stumm neigte sie das Haupt. Die Vorstellung ging weiter, und in Dagmars Seele wogte ein Chaos von Empfindungen.
***
Kommerzienrat Ruthart empfing Graf Günter Taxemburg, als er ihm am nächsten Tag gemeldet wurde, in einem vornehm eingerichteten Empfangszimmer seiner Villa.
„Es freut mich, Herr Graf, Sie in meinem Haus begrüßen zu können“, sagte Ruthart liebenswürdig. „Bitte nehmen Sie Platz!“
„Danke sehr.“
Die Herren nahmen einander gegenüber Platz, und Graf Taxemburg fuhr fort: „Ich darf um die Ehre bitten, das gnädige Fräulein begrüßen und mich nach ihrem Befinden erkundigen zu dürfen?“
„Gewiss! Ich werde meine Tochter rufen lassen. Ein glücklicher Zufall hat es gefügt, dass Sie schon gestern Abend mit ihr bekannt wurden.“
Der Graf verneigte sich. „Es war mir eine Ehre. Und ich muss gestehen, dass mir Ihr Fräulein Tochter in Wirklichkeit noch schöner und liebenswürdiger scheint, als ich nach der Fotografie annehmen konnte, die sie mir zeigten. Ich weiß wirklich nicht, ob es nicht vermessen ist von mir, die junge Dame zu fragen, ob sie meine Frau werden will.“
„Warum vermessen, Herr Graf?“
„Weil sie dazu geschaffen ist, geliebt und um ihrer selbst willen begehrt zu werden. Sie wissen, dass ich nur den Entschluss gefasst habe, um ihre Hand anzuhalten, weil Sie und mein Vater es so wünschten. Meinen Vater lockte dabei der Gedanke, dass Schloss und Grafschaft Taxemburg wieder einem Grafen Taxemburg gehören würde.“
„Ganz recht. Und es wäre doch auch schade, wenn das nicht der Fall wäre.“
Ein Lächeln, das ein wenig ironisch war, huschte um den Mund des Grafen. „Ich weiß nicht, ob es schade wäre, ich denke darüber etwas anders als mein Vater. Aber ich wollte ihm vor seinem Hinscheiden noch eine Freude machen, weil er gerade in der letzten Zeit – vielleicht zum ersten Mal wirklich väterlich für mich empfand. Und so habe ich meine Einwilligung gegeben. Aber ich muss doch der Wahrheit die Ehre geben und darf nicht verschweigen, dass es nur diese Gründe sind, die mich bewegten, um die Hand Ihres Fräulein Tochter anzuhalten. So sympathisch mir auch die äußere Erscheinung der jungen Dame ist – um sie lieben zu können, ist sie mir zu fremd, und ich glaube auch nicht, dass ich je wieder eine Frau lieben werde, Herr Kommerzienrat. Darüber habe ich Sie nicht im Zweifel gelassen, und das muss ich Ihnen jetzt noch einmal wiederholen, nachdem ich Ihr Fräulein Tochter persönlich kennen gelernt habe.“
Lächelnd wehrte Ruthart ab. „Sie machen sich unnötige Skrupel, lieber Graf. Vernunftheiraten sind viel öfter zu guten Ehen ausgeschlagen als Verbindungen, die im Rausch der Leidenschaft geschlossen wurden. Und meine Tochter weiß, dass Sie sich um sie bewerben werden. Sie wird Ihnen ihr Jawort geben, dafür bürge ich.“
Graf Taxemburg sah eine Weile schweigend vor sich hin. „Also sucht Dagmar Ruthart in einer Verbindung mit mir nichts als einen Grafentitel! Nun, das kann mir nur lieb sein. So brauche ich ihr an Empfindungen nichts schuldig zu bleiben“, dachte er.
Und er neigte das Haupt und sagte ruhig und gemessen: „Dann werde ich mir also in Bälde die Ehre geben, Ihrem Fräulein Tochter die entscheidende Frage vorzulegen.“
„Tun Sie das, mein lieber Graf. Heute Abend hoffe ich Sie in meinem Haus zu sehen. Ich habe einige Gäste geladen, einen kleinen intimen Kreis, und ich rechne auf Ihr Erscheinen.“
Graf Taxemburg verneigte sich. „Ich werde kommen – mit Vergnügen.“
Der Kommerzienrat klingelte. „Ich werde jetzt meine Tochter rufen lassen“, sagte er.
Und als der Diener eintrat, gab er ihm entsprechende Befehle. Dagmar hatte den Wagen vorfahren sehen, dem Graf Taxemburg entstieg. Es war ein einfaches Mietsauto.
Mit Herzklopfen hatte sie, hinter dem Store verborgen, seinem Kommen entgegengesehen. Ihr war, als schreite mit ihm ihr Schicksal über die Schwelle des Hauses.
Nun harrte sie des Rufs ihres Vaters und folgte diesem sogleich.
Dagmar trug ein weißes Kleid, das sich schlicht an ihren Körper schmiegte. Die verhaltene Erregung und die mangelhafte Nachtruhe hatten alles Blut aus ihren Wangen getrieben. So sah sie nicht vorteilhaft aus, zumal sie ihre Züge zu steinerner Ruhe zwang.
Graf Taxemburg verneigte sich vor ihr und sah sie mit seinen ernsten Augen forschend an. „Ein schöner Körper ohne Seele“, dachte er.
Aber es war ihm recht so. Er wollte nicht eine Frau heimführen die ihn liebte, die ihm Herz und Seele zu geben hatte. Denn er hatte ja auch nichts zu geben.
„Mein gnädiges Fräulein, ich hoffe, der gestrige Abend ist Ihnen gut bekommen“, sagte er mit formeller Artigkeit.
Sie hätte aufweinen mögen über seine kühlen Worte. Aber sie steiften ihr zugleich den Nacken und halfen ihr, eine stolze, kalte Ruhe zur Schau zu tragen.
„Ich danke Ihnen, Graf Taxemburg. Waren Sie mit der Oper zufrieden?“
„Außerordentlich – ich habe lange keine gute Musik gehört und bin immer ein dankbarer Zuhörer. Leider haben mir in den letzten Jahren meine Reisen wenig Zeit gelassen, Opern und Konzerte zu besuchen.“
„Sie sind viel gereist, Herr Graf?“, fragte Dagmar konventionell, obgleich ihr das Herz bis in den Hals hinauf klopfte.
Er verbeugte sich. „So ist es, mein gnädiges Fräulein. Ich habe in meinem Beruf große Reisen unternommen.“
Verstohlen presste Dagmar die Handflächen zusammen. „Sind Sie nicht Landwirt, Herr Graf?“
Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Nein, mein gnädiges Fräulein, bisher war ich das nicht. Aber auch mein Beruf hängt so innig mit der Natur zusammen wie der des Landwirtes – ich bin Naturforscher.“
Dagmars Wangen röteten sich, aber sie behielt sich in der Gewalt. „Das ist eine sehr interessante Wissenschaft. Aber sicher haben Sie sich spezialisiert. Die Naturwissenschaft umfasst doch viele Gebiete.“
„Allerdings, ich habe die Botanik zu meinem Spezialfach erwählt.“
„Dann sind Sie sicher ein großer Blumenliebhaber.“
„Allerdings. Und mein Interesse gilt hauptsächlich der Tropenflora. Ich habe die Absicht, in den großen Gewächshäusern, die jetzt in Taxemburg ganz brachliegen, Tropenpflanzen zu ziehen. Allerlei Sämereien habe ich mir mitgebracht, und ich hoffe, gute Erfolge zu erzielen.“
„Das muss sehr interessant sein.“
Er verneigte sich wieder. „Es freut mich, dass Sie das annehmen, mein gnädiges Fräulein.“
Der Kommerzienrat hatte ruhig zugehört. Nun, da eine Pause in der Unterhaltung entstand, griff er gewandt ein und brachte ein anderes Thema auf. Nach einiger Zeit erhob sich der Graf. „Ich will jetzt nicht länger stören. Gestatten Sie, dass ich mich empfehle.“ Auch der Kommerzienrat und Dagmar erhoben sich.
„Also heute Abend auf Wiedersehen, Herr Graf“, sagte der Kommerzienrat.
Graf Taxemburg wandte sich zu Dagmar. „Ich hoffe, Ihnen nicht ungelegen zu kommen?“
Unter dem Bann von ihres Vaters Augen sagte Dagmar mit einem matten Lächeln: „Ich werde mich freuen, Sie wieder zu sehen.“ Dagmar hatte bis zum Abend in dem Werk Dr. Günter Friesens gelesen. Mit heißen Wangen und glänzenden Augen war sie ihm auf seinen Forschungsreisen und Expeditionen durch die Tropenwildnis gefolgt. Das Werk war sehr interessant und lebendig geschrieben. Der Autor erwähnte darin verschiedentlich seinen Begleiter aus seiner ersten Forschungsreise, Herrn von Thorau. Er hatte seine Verdienste ins hellste Licht gerückt.
Dieses Zeichen seines großdenkenden Charakters erschütterte Dagmar. Und ihre Liebe zu ihm entfaltete sich immer mehr zu leuchtender Blüte.
Mit größter Sorgfalt machte sie dann für die Festlichkeit am Abend Toilette. Als sie fertig war, nahm sie Dr. Friesens Werk mit hinüber in die Gesellschaftsräume. Sie legte es auf ein kleines Tischchen in einem Salon neben dem Speisesaal, und zwar recht auffällig. Das tat sie in einer bestimmten Absicht. Sie wollte sich heute, wenn es irgend möglich war, Gewissheit darüber verschaffen, weshalb Graf Taxemburg vor vier Jahren als Dr. Friesen in Thüringen aufgetreten war und sein Werk unter diesem Namen herausgegeben hatte. Sie wollte seine Aufmerksamkeit wie zufällig auf das Werk lenken und die Rede darauf zu bringen versuchen. Dann musste er doch Farbe bekennen.
Als sie das Werk platziert hatte, begab sie sich in den großen Empfangsraum, wo ihr Vater sie erwartete. Gleich darauf trafen die ersten Gäste ein. Die Gesellschaft war nicht groß, sie bestand aus zwanzig Personen.
Graf Taxemburg erschien als der letzte.
Er war entschieden die interessanteste Erscheinung des kleinen Kreises. Seine hohe, schlanke Gestalt, wirkte sehr vornehm in dem tadellos sitzenden Frack.
Und als er vor Dagmar stand und sie begrüßte, schlug ihr das Herz bis zum Hals hinauf.
Bald darauf ging man zu Tisch, und Graf Taxemburg bot Dagmar seinen Arm, um sie in den Speisesaal zu führen. Es gab ein auserlesenes Mahl und erstklassige Weine. Man war sehr zufrieden und vergnügt.
Nach aufgehobener Tafel zerstreute sich die Gesellschaft in die Nebenräume.
Dagmar hatte den Grafen wie zufällig an das Tischchen herangeführt, auf das sie sein Werk gelegt hatte.
Sie ließ sich in einem Sessel daneben nieder und bot ihm den anderen an, der ihr gegenüberstand.
Durch die offenen Schiebetüren konnten sie die Gesellschaft überblicken und auch von dieser gesehen werden. Aber sie waren doch allein.
Dagmar presste die Hände fest zusammen und sagte, ihrer Stimme Festigkeit gebend: „Sie sprachen davon, dass Sie Naturforscher sind. Ich hege ein großes Interesse für Ihre Wissenschaft. Gerade jetzt lese ich ein interessantes Buch. Ich denke eben daran, weil ich es hier vor mir liegen sehe. Kennen Sie dieses Werk?“
Graf Taxemburg hatte bereits, als er sich niederließ, das Buch entdeckt, und er hatte einen Moment gestutzt. Jetzt huschte ein Lächeln über seine ernsten Züge. Er fasste nach dem Buch und strich mit der Hand darüber hin. „Dieses Buch kenne ich allerdings ganz genau, mein gnädiges Fräulein.“
„Sie haben es schon gelesen?“, fragte sie in verhaltener Erregung.
„Nicht nur gelesen, sondern auch geschrieben.“
Unsicher sah sie ihn an. „Sie selbst? Der Verfasser heißt aber doch Dr. Günter Friesen.“
„Ganz recht, mein gnädiges Fräulein. Und mit diesem Dr. Günter Friesen bin ich identisch.“
Forschend sah sie ihn an. „Ah, so ist dieser Name wohl Ihr Pseudonym?“, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein, das liegt anders. Sie sehen mich erstaunt und fragend an, mein gnädiges Fräulein – es ist aber jetzt nicht die passende Gelegenheit, Ihnen zu erklären, wie das zusammenhängt. Wir können hier jede Minute gestört werden, und dieses Thema verträgt keine Störung. Aber wenn Sie mir morgen gestatten wollen, Sie aufzusuchen, dann würde ich Ihnen das erklären. Ich habe auch ohnedies etwas mit Ihnen zu besprechen. Darf ich Sie bitten, mir eine Zeit anzugeben, wann ich Ihnen einen Besuch machen darf? Ich werde mir die Erlaubnis, Sie allein sprechen zu dürfen, von Ihrem Herrn Vater erbitten.“
Dagmar war sehr blass geworden. Ihre Hände waren wie im Krampf verschlungen. Aber seine kühle Ruhe teilte sich ihr mit und weckte ihren Stolz. „Ich werde morgen Nachmittag um vier Uhr für Sie zu Hause sein, Herr Graf“, erwiderte sie scheinbar gelassen.
Er verneigte sich. „Ich danke Ihnen, mein gnädiges Fräulein“, sagte er.
Aber er musste denken: „Sie weiß doch, was ich sie morgen fragen werde. Aber es lässt sie anscheinend ganz kühl. Sie muss sehr oberflächlich sein – eine seelenlose Weltdame. Aber es ist gut so.“
Und in höflicher Gemessenheit fuhr er fort, das Buch wieder auf das Tischchen legend: „Sie gestatten mir, mein Befremden zu äußern, dass Sie ein so ernstes wissenschaftliches Werk wie das meine lesen.“
„Warum befremdet Sie das?“, fragte sie ruhig.
„Weil es keine Lektüre für eine junge Dame der Gesellschaft ist. Wenn ich nicht genau wüsste, dass Sie hinter dem Namen des Verfassers meine Person nicht vermuten konnten, hätte ich angenommen, dass es eine Artigkeit für mich sein könnte, dass das Buch hier lag. Haben Sie wirklich darin gelesen?“
Ein leichtes Rot färbte Dagmars Wangen. „Ja, ich habe wirklich darin gelesen – mehr als die Hälfte des Buches, bin ich schon durch. Da Sie den Inhalt so genau kennen, brauchen Sie mir nur zu examinieren, damit ich den Beweis erbringen kann.“
Er hob die Hand. „Ihre Versicherung genügt mir.“
Sie plauderten nun noch eine Weile über den Inhalt des Buches und er konnte sich wirklich überzeugen, dass sie es mit Verständnis gelesen hatte.
***
Dagmar Ruthart lief am nächsten Nachmittag in nervöser Erregung durch ihre Zimmer, und die Röte kam und ging in ihrem Antlitz.
Ihr Vater hatte kurzerhand die Baronin Steinberg unterrichtet, dass es sein Wunsch und Wille war, dass seine Tochter den Grafen Taxemburg allein empfangen sollte. Er hatte durchblicken lassen, dass eine Verlobung seiner Tochter bevorstand, und die Baronin hatte sich deshalb zurückgezogen, noch ehe der Graf erschien.
Klaus Ruthart war daheim geblieben. Er erwartete in seinem Arbeitszimmer das Ergebnis der Unterredung zwischen dem Grafen und seiner Tochter. So war Dagmar also allein.
Sie war in einer unbeschreiblichen Unruhe.
Aber in dem Moment, da ihr der Diener Graf Taxemburg meldete, wurde sie plötzlich ruhig. Sie wusste in diesem Augenblick, dass sie Ja sagen würde, dass sie nicht die Kraft hatte, ihn abzuweisen.
Hochaufgerichtet stand sie mitten in ihrem kleinen Empfangszimmer, als er eintrat. Er verneigte sich vor ihr. „Mein gnädiges Fräulein, ich danke Ihnen, dass Sie mich empfangen haben. Darf ich Sie bitten, mir eine Weile Gehör zu schenken?“
Dagmar wies ihm einen Platz und setzte sich ihm gegenüber.
Es fiel Graf Taxemburg auf, dass sie sehr blass und ernst aussah. Aber es wehte ihm kühl entgegen, als sie höflich fragte: „Was haben Sie mir zu sagen, Graf Taxemburg?“
Er sah sie an, als wollte er ihr tiefstes Wesen ergründen. Sie hielt seinem Blick stand, und keine Wimper zuckte. Er atmete tief auf. „Mein gnädiges Fräulein, Ihr Herr Vater wird Ihnen gesagt haben, mit welchen Wünschen ich sein Haus betreten habe. oder irre ich mich?“
„Nein, Herr Graf, Sie irren sich nicht“, sagte sie, fast wie ein Automat.
Er verneigte sich und fröstelte bis ins Herz hinein. „So darf ich ohne Umschweife reden. Sie wissen, dass ich gekommen bin, um Sie zu bitten, meine Frau zu werden. Ehe ich Sie aber um Ihre Entscheidung bitte, habe ich Ihnen noch einiges zu sagen. Ich bin Ihnen volle Ehrlichkeit schuldig. Sie sollen wissen, weshalb ich mich um Ihre Hand bewerbe und warum ich es in dieser Weise tue. Darf ich ganz rückhaltlos sprechen?“
„Ich bitte darum“, klang es tonlos von Dagmars Lippen.
Er lehnte sich leicht in seinen Sessel zurück. „Sie fragten mich gestern Abend, wie es möglich sei, dass ich mit Dr. Günter Friesen identisch bin. Ich muss Ihnen erklären, dass ich bis vor kurzer Zeit einfach Günter Friesen hieß und dass ich weder auf den Namen noch auf den Titel eines Grafen Taxemburg Anspruch hatte.“
Überrascht richtete sie sich auf. „Sie sind nicht Graf Taxemburg?“, fragte sie atemlos.
Er lächelte seltsam. „Bitte, beruhigen Sie sich, mein gnädiges Fräulein! Jetzt habe ich ein verbrieftes und versiegeltes Recht, mich Graf Taxemburg zu nennen. Aber ich bin nicht Aristokrat durch die Geburt – ich bin einer jener Enterbten, denen das Gesetz nicht einmal den Namen ihres Vaters zubilligt – ein Rechtloser.“ Er sah sie unruhig an.
„So war Graf Taxemburg nicht Ihr Vater?“, fragte sie erregt.
Er deutete ihre Erregung falsch, glaubte, sie sorge sich darum, dass ihm der Grafentitel auch wirklich gehöre. „Ich bitte Sie nochmals, sich zu beruhigen. Graf Herbert Taxemburg war mein Vater, aber er war nicht mit meiner Mutter verheiratet und hat mich erst wenige Monate vor seinem Tod adoptiert, um mich nachträglich in die Rechte einzusetzen, die mir durch meine illegitime Geburt entzogen waren.“
Dagmar hätte am liebsten tröstend über seine Stirn gestreichelt, denn sie merkte, wie die Bitterkeit noch in ihm gärte. Aber sie fasste sich mühsam und fragte heiser: „Weiß mein Vater darum?“
Er neigte das Haupt. „Gewiss, dies alles ist Ihrem Herrn Vater bekannt. Gestatten Sie, dass ich auch Ihnen in groben Umrissen meine Lebensgeschichte erzähle?“
Sie neigte zustimmend das Haupt.
Einen Moment sah er vor sich nieder. Dann begann er: „Meine Mutter war eine Waise, völlig auf sich allein angewiesen und ohne jedes Vermögen. Sie war zur Bühne gegangen, um sich ihren Unterhalt zu verdienen. Ihr Talent mag nicht sehr groß gewesen sein, aber sie war sehr schön und deshalb bekam sie ein bescheidenes Engagement. Ihre Schönheit besiegelte ihr Schicksal. Sie lernte meinen Vater kennen, der damals Offizier und ein glänzender Kavalier war, der auf großem Fuß lebte. Was er von seinen Vätern ererbt hatte, war nicht viel – ich glaube, er hat von Anfang an Schulden gemacht. Meine Mutter gefiel ihm, und weil sie ein ehrenhaftes Mädchen war und ihm widerstand, versprach er ihr, dass er sie heiraten würde. Sie vertraute ihm – und ich kam zur Welt, ehe mein Vater sein Versprechen erfüllt hatte. Er hat es auch später nicht erfüllt. Nach Art leichtsinniger Kavaliere, denen die Ehre eines armen Mädchens nichts gilt, hatte er sie durch sein Versprechen nur betört. Er hatte meine Mutter immer wieder hingehalten mit dem Hinweis auf seine aristokratischen Verwandten, die es nicht dulden wollten, dass er eine bürgerliche Schauspielerin heiratete.
Nach meiner Geburt vernachlässigte er meine Mutter immer mehr und gab ihr schließlich eine Nachfolgerin in einer Kollegin vom Theater.
Das ertrug meine Mutter nicht sie ging eines Tages den Weg des Vergessens, nachdem sie meinem Vater einen Abschiedsbrief geschrieben hatte, in dem sie ihn anflehte, dass er sich wenigstens meiner annehmen sollte. – Verzeihen Sie mir, dass ich so düstere Bilder vor Ihnen aufrolle, an die Ihre Augen nicht gewöhnt sind.“
Sie machte eine abwehrende Bewegung. „Sprechen Sie weiter – es bedarf keiner Entschuldigung.“
Dankend neigte er das Haupt und fuhr fort: „Solche Geschichten geschehen alle Tage – es gibt leider viele, die irgendein Mädchen ein Opfer des Schicksals werden lassen. Aber als mein Vater vor der Leiche seines Opfers stand, schlug ihm das Gewissen. Er war in den Vorurteilen seines Standes aufgewachsen, der die Devise: ’Erlaubt ist, was gefällt’, auf sein Banner schreibt, aber er war wenigstens kein schlechter Mensch. Er bereute seinen Leichtsinn und erfüllte den Wunsch meiner Mutter – er nahm sich meiner an. Er brachte mich zu anständigen Leuten, die mich bis zu meinem zwölften Jahr aufzogen. Sie taten es streng und gewissenhaft, vielleicht in dem Glauben, dass in mir leichtsinnige Anlagen von meiner armen Mutter her ertötet werden mussten. Dass der Leichtsinn meines Vaters meinem Charakter schaden könnte, nahmen sie nicht an – mein Vater war ja ein Graf und bezahlte gut. Und im Übrigen vergaßen sie bei meiner Erziehung eine Hauptsache: dass man nämlich Kindern auch Liebe entgegenbringen muss. Nun, sie konnten nicht mehr geben, als sie empfanden. Jedenfalls wurde mir der Abschied von ihnen nicht schwer, als mich mein Vater von ihnen fort in eine Erziehungsanstalt brachte, wo ich blieb, bis ich mein Abitur hinter mir hatte. Langweile ich Sie auch nicht zu sehr, mein gnädiges Fräulein?“
Dagmar war ganz im Bann seiner Erzählung. Sie fürchtete, dass ihre Stimme nicht die nötige Festigkeit haben könnte und schüttelte nur das Haupt.
So fuhr er fort: „Ich hatte meinen Vater in all den Jahren nur sehr selten gesehen, es vergingen oft Jahre, ohne dass er sich persönlich von meinem Befinden überzeugt hätte. Er führte weiter ein flottes Leben, verbrauchte viel Geld und geriet immer tiefer in Schulden. An mich zu denken hatte er wenig Zeit – aber es war bei seiner Veranlagung immerhin viel, dass er nicht vergaß, die Kosten für meine Erziehung zu bezahlen.
Er ließ mich dann sogar studieren und gab mir einen anständigen Monatswechsel, und als ich meinen Doktor gemacht hatte, rüstete er mich zu meiner ersten Forschungsreise aus. Das habe ich ihm hoch angerechnet, denn damals war er schon in sehr schwierigen Vermögensverhältnissen.
Ehe ich meine erste Forschungsreise antrat, durfte ich ihn zum ersten Mal auf Schloss Taxemburg besuchen. Aber niemand durfte wissen, dass ich sein Sohn war, denn damals lebten noch einige seiner Verwandten. Damals war er aber schon leidend und musste dauernd in der Zurückgezogenheit von Schloss Taxemburg leben, einesteils seiner körperlichen Beschaffenheit, andernteils seiner schwierigen Vermögensverhältnisse wegen. Er sagte mir, dass er nur noch wenige Jahre für mich sorgen könne, dann müsste ich es selbst tun, er stehe dicht vor dem Ruin.
Verheiratet hatte er sich nicht, so sehr ihn auch seine Verwandtengedrängt hatten, durch eine reiche Heirat seine Verhältnisse aufzubessern.
Schon während meiner ersten Forschungsreise hatte ich von verschiedenen Zeitungen den Auftrag bekommen, Feuilletons über meine Reiseerlebnisse zu schreiben. Das tat ich auch, und da ich gute Honorare bekam, war ich in der glücklichen Lage, mir meinen Unterhalt selbst zu verdienen. Ich konnte meinem Vater einen großen Teil des Geldes zurückschicken, das er für meine Reise flüssig gemacht hatte, und teilte ihm zugleich mit, dass ich ihm im Laufe der Zeit alles zurückzahlen würde, was er für meine Erziehung ausgegeben hatte.
Als ich von meiner ersten Forschungsreise zurückkam, lernte ich eine junge Dame kennen, mit der ich mich verlobte. Lassen Sie mich schnell über dieses Thema hinweggehen – es ist ein tiefschmerzliches für mich. Ich habe geliebt – mit allen Fasern meines Seins – und wurde betrogen. Während ich rastlos, bis in die Nacht hinein arbeitete, um das zu verdienen, was ich meinem Vater schuldig war, betrog mich meine Verlobte mit meinem Freund, Hans von Thorau. Sie haben seinen Namen in meinem Werk wiederholt gelesen.“
Dagmar atmete gepresst auf. Sie hielt die Augen gesenkt, damit er nicht darin lesen konnte, wie sehr sie mit ihm litt und wie genau sie diesen Abschnitt seines Lebens kannte. „Ja, ich erinnere mich dieses Namens. Herr von Thorau war Ihr Begleiter auf Ihrer Forschungsreise“, sagte sie.
Er strich sich mit der Hand über die Stirn, seine Augen blickten düster. „Wir nannten uns Freunde, aber ich musste ihn fordern, nach der Schmach, die er mir angetan hatte. Im Duell machte meine Kugel seinem Leben ein Ende – auch das müssen Sie wissen, denn Sie müssen den Mann, dem Sie sich fürs Leben anvertrauen sollen, kennen. Erlassen Sie es mir, Ihnen zu sagen, wie dieses Kapitel aus meinem Leben auf mich wirkte. Es ist vorbei, wenn auch noch nicht ganz überwunden. Ich habe meine Festungshaft verbüßt und bin dann wieder in die Welt hinausgezogen. Zu meiner zweiten Reise brauchte ich meines Vaters Hilfe nicht – ich konnte für mich selbst einstehen.
Als ich von dieser zweiten Reise zurückkam, vollendete ich den ersten Band meines Werkes. Das Honorar, das ich bekam, konnte ich meinem Vater selbst überbringen. Er war schwer leidend und bat mich, bei ihm auf Schloss Taxemburg zu bleiben. Zum ersten Male fühlten wir beide in jenen Tagen, dass wir doch durch Bande des Blutes zusammengehörten. Er tat mir Leid in seiner elenden Verlassenheit, und er zeigte mir eine rührende väterliche Zärtlichkeit.
Inzwischen waren seine letzten Verwandten gestorben, und er sagte mir, dass er mich legitimieren und dadurch offiziell in meine Sohnesrechte einsetzen wollte. Ich widersetzte mich zuerst, meine Verbitterung brach noch einmal jäh hervor, und ich ließ mich hinreißen, ihm zu zeigen, wie mein Stolz gelitten hatte unter der Rechtlosigkeit meiner Geburt. Als ich sah, wie ihn das erschütterte, tat es mir Leid, dass ich mich hatte hinreißen lassen. Und sein inständiges Flehen besiegte meinen Widerstand. So wurde ich Graf Taxemburg.“
Noch immer saß Dagmar mit niedergeschlagenen Augen da. Die Geschichte seines Lebens hatte sie bis ins Innerste aufgerüttelt, sie war mit jeder Faser ihres Seins bei ihm gewesen, solange er davon sprach.
Aber mit ruhiger Stimme vermochte sie ihm zu antworten: „Ich danke Ihnen für ihre Offenheit, Herr Graf. Es ehrt Sie, dass Sie mir nicht Gefühle vortäuschen, die Sie nicht empfinden können. Und ich will ebenso ehrlich sein – ich – ich nehme Ihre Werbung an, weil mein Vater wünscht, dass ich Gräfin Taxemburg werde und weil es selbst meinen Wünschen entspricht. So wenig ich Sie bisher kannte, so wenig bin ich imstande, Sie zu lieben. Aber Ihre Ehrlichkeit hat mir genug Vertrauen eingeflößt, um mich darüber zu beruhigen, dass ich die Gattin eines ritterlichen Mannes sein werde. Und so wie ich überzeugt bin, dass Sie in mir immer Ihre Gattin hoch achten werden, dürfen Sie überzeugt sein, dass ich Ihren Namen stets als anvertrautes Gut betrachten und ihn hochhalten werde. Ich gebe Ihnen also mein Jawort und bitte Sie, alles Weitere mit meinem Vater zu besprechen. Was Sie mit ihm beschließen, hat im Voraus meine Billigung.“
Graf Taxemburg verneigte sich. Es überlief ihn, obwohl er selbst Dagmar kühl gegenüberstand, unter ihren Worten wie ein Frosthauch. Keine Ahnung sagte ihm, wie anders es im Innern der Frau aussah, die sich jetzt für das ganze Leben bedingungslos in seine Hände gab.
Er sah sie forschend an. „So darf ich Sie, da ich die Einwilligung Ihres Herrn Vaters habe, als meine Verlobte betrachten, mein gnädiges Fräulein?“
Sie neigte das Haupt. „Sie dürfen es, Graf Taxemburg.“
„So geben Sie mir bitte die Hand darauf, dass wir als ehrliche Menschen gemeinsam unseren Lebensweg gehen wollen.“
Sie legte ihre Hand in die seine. Eiskalt war diese schön geformte Hand. Graf Günter umschloss sie unwillkürlich mit einem kraftvollen Druck seiner Rechten, als müsse er sie erwärmen.
Und dieser warme, feste Druck ließ das Blut zu Dagmars Herzen strömen. Dann führte er ihre Hand an seine Lippen. „Was an mir liegt, soll geschehen, damit Sie es nie bereuen, mir Ihre Zustimmung gegeben zu haben. Ich danke Ihnen.“
Dagmar vermochte es jetzt endlich, ruhig zu ihm aufzusehen. „Sie brauchen mir nicht zu danken.“
Ein leises Lächeln huschte um seinen Mund. „Es ist üblich, dass Verlobte einander Du sagen – darf ich mir erlauben, dieses Vorrecht geltend zu machen, liebe Dagmar?“
Jetzt schoss plötzlich dunkle Röte in ihr Gesicht – er sprach ja zum ersten Mal ihren Namen aus! „Liebe Dagmar“. Es klang ihr wunderlich in den Ohren.
Da sie nicht antwortete, fragte er: „Darf ich nun deinem Vater mitteilen, dass du mir dein Jawort gegeben hast?“
Sie neigte das Haupt. „Ja bitte tun Sie das.“
Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Du musst dich schon entschließen, mich du und beim Vornamen zu nennen. Ich heiße Günter.“
Wieder schoss ihr das Blut ins Gesicht. „Verzeih, ich muss mich erst daran gewöhnen, Günter“, sagte sie leise.
„Willst du mich zu deinem Vater begleiten?“
Sie atmete gepresst. „Bitte geh allein! Ich werde hier warten, bis du alles Nötige mit meinem Vater besprochen hast“, sagte sie.
Er zog ihre Hand noch einmal an seine Lippen und ging hinaus. Dagmar sah ihm nach, als sei sie unfähig, sich zu rühren. Ihre Augen hefteten sich groß und brennend auf die Tür, durch die er sie eben verlassen hatte.
„Werde ich es ertragen können, wird mein Stolz mir helfen?“, dachte sie erschauernd.
Graf Günter Taxemburg blieb noch einige Zeit in Berlin. Der Kommerzienrat wünschte, dass die Verlobung seiner Tochter mit einer großen Festlichkeit gefeiert werden sollte. Gleich am nächsten Tag wurde die Liste der Gäste aufgesetzt, die zu der Feier geladen werden sollten. Und Dagmar fragte ihren Verlobten, ob er Freunde und Bekannte von seiner Seite einladen wollte. Er nannte einige Studienkollegen und einen Professor, für den er viel Verehrung hatte. Sonst hatte er keine Wünsche.
Dagmar legte ihm die Liste zur Einsicht vor. Er sah sie flüchtig durch. Aber bei einem Namen stutzte er. „Ich lese hier einen bekannten Namen, Dagmar“, sagte er.
Sie ahnte, welchen Namen er meinte, fragte aber scheinbar ganz unbefangen: „Welchen Namen meinst du?“
Er zeigte auf eine Stelle. „Herr von Berndorf auf Berndorf mit Gemahlin. Ist das derselbe, dessen Gut in Thüringen liegt?“
Scheinbar unbefangen neigte sie das Haupt. „Ja, es ist derselbe. Seine Tochter Käthe ist eine Pensionsfreundin von mir. Du findest gleich darunter deren Namen und den ihres Gatten. Sie ist mit Herrn von Roschwitz verheiratet. Ich glaube nicht, dass die Herrschaften zu unserer Verlobungsfeier nach Berlin kommen, aber ich wollte sie nicht übergehen. Sind dir die Herrschaften vielleicht bekannt?“
Er sah eine Weile düster vor sich hin. Dann atmete er auf und sagte: „Dieser Name erinnert mich an die schwersten Stunden meines Lebens. Hans von Thorau, den ich im Duell erschoss, war mit der Familie Berndorf befreundet. Ich habe einige Male in Berndorf Besuche gemacht. Aber die Herrschaften kennen mich nur unter dem Namen Friesen.“
Nervös spielte Dagmar mit der Liste. „Ist es dir unangenehm, mit den Herrschaften zusammenzutreffen?“
Er schüttelte den Kopf. „Sie werden mich an schwere Stunden erinnern, aber das wird noch öfter geschehen. Peinlich wäre es mir nur, wenn ich ihnen über meine Namensänderung Details geben müsste.“
Lebhaft richtete sich Dagmar auf. „Zu unserer Verlobungsfeier werden sie nicht kommen, aber zu unserem Hochzeitsfest werden sie sicher nicht fehlen wollen. Ich werde dir aber die Erklärung, die dir peinlich ist, abnehmen und meiner Freundin den Sachverhalt mitteilen. Sie kann ihre Eltern unterrichten, und ich werde dafür Sorge tragen, dass sie alle dir gegenüber mit keinem Wort an jene Zeit rühren. Ist dir das recht so?“
Er zog ihre Hand an seine Lippen. „Ich danke dir, Dagmar, du bist sehr gütig.“
Sie errötete, weil sie sich bewusst war, dass sie Käthe in ihrem eigenen Interesse um Stillschweigen über jene Zeit bitten wollte. Sie hatte Käthe veranlassen wollen, nichts davon zu erwähnen, dass sie in jener Zeit Gast in Berndorf gewesen war. Nun konnte sie das unverfänglicher einrichten, als es sonst geschehen wäre.
Sich bezwingend, sagte sie halblaut: „Ich kann dir nachfühlen, dass du jene schwere Zeit am liebsten ganz vergessen möchtest.“
Mit einem seltsamen Blick sah er sie an. Da sie ihm nachfühlen konnte, glaubte er nicht. Solche Stürme, wie sie damals sein Inneres durchtobt hatten, würden einem so kühlen ruhigen Charakter, wie Dagmar ihn seiner Meinung nach besaß, immer fremd bleiben.
Die furchtbaren Kämpfe und Seelennöte, die er in jenen Tagen durchlebt hatte, konnte wohl überhaupt ein anderer Mensch nicht nachempfinden.
Aber während er das dachte, tauchte plötzlich ein Erinnern in ihm auf. Doch, einen Menschen hatte es gegeben, der mit wunderbarem Verständnis, mit großem Feingefühl seinen Seelenzustand erfasst hatte. Dieser eine Mensch, eine Namenlose – hatte ihn damals vor dem Wahnsinn bewahrt, vor dem vollständigen seelischen Zusammenbruch. Durch das feinfühlige Eingehen auf seine verzweifelte Stimmung, durch die gütigen, gemütvollen Trostworte war er vor dem Schlimmsten bewahrt worden.
Dagmar merkte, dass er mit seinen Gedanken nicht bei ihr war. Sie glaubte, er sei mit seinen Erinnerungen bei der Frau, die er geliebt und die ihn betrogen hatte. Liebte er sie vielleicht noch immer – trotz ihres Verrats?
Sie rührte sich nicht und fühlte nur einen herben Schmerz, dass sie ihm nichts, gar nichts sein konnte.
Nach einer Weile schrak er empor. „Verzeih, ich war zerstreut“, sagte er entschuldigend.
Sie ging schnell auf ein anderes Thema über, und gleich darauf trat die Baronin Steinberg ein und fragte, ob der Graf zu Tisch bleiben würde.
Dagmar schrieb an demselben Tag an ihre Freundin Käthe:
Meine liebe Käthe!
Du sollst es nicht durch eine gedruckte Anzeige erfahren, dass ich mich verlobt habe, und zwar mit Graf Günter Taxemburg. Mein Vater wünschte diese Verbindung, und da mir der Graf sympathisch ist, habe ich eingewilligt.
Du wirst übrigens einen alten Bekannten in ihm finden. Erinnerst du dich noch an Dr. Günter Friesen? Doch ja, danach brauche ich dich nicht zu fragen. Also: Graf Taxemburg ist identisch mit Dr. Günter Friesen. Du wirst darüber staunen, wie ich es tat. Sein natürlicher Vater war Graf Taxemburg, ein Geschäftsfreund meines Vaters. Er hat vor seinem Tod seinen Sohn in alle Rechte eines legitimen Erben eingesetzt.
Spielt das Leben nicht seltsam, liebe Käthe? Das hätten wir uns nicht träumen lassen, als wir Dr. Friesen vom Luginsland das erste Mal sahen.
Du erhältst zugleich wie auch deine lieben Eltern eine Einladung zu unserer Verlobungsfeier. Ich fürchte aber, dass Ihr sie nicht annehmen könnt, weil die Zeit so kurz ist. Aber zu meiner Hochzeit am 10. September erwarte ich euch ganz bestimmt.
Nun habe ich noch eine dringende Bitte an dich. Mein Verlobter leidet noch jetzt unter der Nachwirkung jener Katastrophe, die Herrn von Thorau das Leben kostete, obwohl er nicht die Absicht hatte, ihn zu töten und nur ein unglücklicher Zufall die Kugel lenkte. Ich merke ihm an, dass er sich direkt fürchtet, daraufhin angesprochen zu werden. Auch möchte er nicht über seine Legitimierung sprechen, denn sein Stolz hat sehr unter der Rechtlosigkeit seiner Geburt gelitten. Und deshalb bitte ich dich, euch alle, nicht diese Ereignisse zu berühren, wenn ihr mit ihm zusammenkommt. Am besten, ihr sprecht von Vergangenem gar nicht mit ihm. Bitte teile auch deinen lieben Eltern meinen Wunsch mit. Ich weiß, ihr werdet verstehen, was ich von euch erbitte.
Und nun muss ich für heute schließen, es gibt allerlei für mich zu tun. Sobald ich Zeit habe, schreibe ich mehr.
Einen herzlichen Gruß deinem Mann – dir einen Kuss in Treue.
Deine Dagmar
Auf diesen Brief erhielt Dagmar nach einigen Tagen folgende Antwort:
Liebste Dagmar!
Das war eine freudige Überraschung! Mein Mann und ich wünschen dir von ganzem Herzen Glück.
Das Leben spielt wirklich seltsam. Meine Dagmar ist jetzt die Braut des Mannes, den wir damals zu schade fanden für Lisa Rothberg. Was sie wohl zu eurer Verlobung sagen wird? Ich glaube, sie hat damals nur mit Hans von Thorau angebandelt, weil er ein Freiherr war und weil sie lieber eine Freifrau als Frau Dr. Friesen geworden wäre. Wenn sie nun hört, dass Dr. Friesen ein Graf Taxemburg geworden ist, wird sie sich ärgern. Und das gönne ich ihr – sie hat es verdient. Hoffentlich verwindet dein Verlobter bald alle quälenden Erinnerungen. Du kannst ganz unbesorgt sein, weder ich noch meine Angehörigen werden auch nur mit einem Wort an jene Ereignisse rühren.
Wie du recht vermutet hast, können wir zu deinem Verlobungsfest leider nicht kommen. Kurt bekommt jetzt schwerlich Urlaub. Aber zu deiner Hochzeit erscheinen wir vollzählig, das ist selbstverständlich.
Nun nochmals: herzinnigen Glückwunsch euch beiden und einen Handkuss von meinem Mann für dich.
Einen herzlichen Kuss, meine Dagmar,
von deiner Käthe
Als Dagmar diesen Brief gelesen hatte, atmete sie auf. Gottlob, nun würde Günter von niemandem erfahren, dass sie damals in Berndorf gewesen war und ihn schon damals gesehen hatte.
Am nächsten Tag fand die Verlobungsfeier mit aller Pracht statt, die den Verhältnissen des Kommerzienrats entsprach. Eine große Gesellschaft war geladen, und man toastete viel auf das Glück des Brautpaares. Dieses ließ sich mit guter Miene und tadelloser Haltung beglückwünschen, aber die meisten Anwesenden ahnten doch, dass es sich hier nur um eine Vernunftehe handelte. Das Brautpaar machte einen so wenig zärtlichen Eindruck! Zwar zeigte sich der Bräutigam von der ritterlichsten Seite, war galant und aufmerksam und hatte nur Augen für seine Braut. Aber es lag trotzdem zu viel Förmlichkeit in seinem Wesen seiner Braut gegenüber.
Wenige Tage nach der Verlobungsfeier reiste Graf Taxemburg ab. Das Brautpaar trennte sich ohne jeden Gefühlsaufwand.
***
Schnell waren die Monate bis zu Dagmars Hochzeit vergangen. Anfang September kam Graf Taxemburg wieder nach Berlin, und das Brautpaar sah sich zum ersten Mal wieder.
Sie begegneten einander in korrektester Weise. Alles, was zwischen ihnen zu besprechen war, wurde in ruhiger Gelassenheit und Freundlichkeit vorgebracht.
Sie waren auch fast nie allein. Die Baronin Steinberg war eine gewissenhafte Ehrendame, aber kein Brautpaar hätte eine solche weniger nötig gehabt als dieses.
Aber zwei Tage vor der Hochzeit ergab sich doch einmal eine Gelegenheit zum Alleinsein. Das Brautpaar befand sich in dem kleinen Salon neben dem Speisesaal.
Die Baronin war in einer häuslichen Angelegenheit plötzlich abgerufen worden. Dagmar trat an das Fenster uns sah mit einem verlorenen Blick hinaus in die farbensatte Spätsommerpracht. Graf Günter sah seine Braut von der Seite an. Ihr reines Profil bewundernd, dachte er, wie so oft, wie schade es sei, dass dieses schöne, stolze Mädchen keine Seele besaß und nicht aus Liebe gewählt hatte und erwählt worden sei.
Als er sie so aufmerksam betrachtete, schien es ihm, als läge ein Ausdruck tiefer Trauer auf ihrem Antlitz. Und er bemerkte ganz deutlich, dass es um ihren Mund wie verhaltenes Weinen zuckte.
Er stutzte einen Augenblick. Dann erhob er sich schnell und trat an ihre Seite. „Dagmar!“
Sie zuckte zusammen und wandte sich erschrocken nach ihm um. „Du wünschst?“, fragte sie, ihrer Stimme Festigkeit gebend.
Er fasste ihre Hände. „Dagmar, ich hatte plötzlich das Empfinden, als seiest du traurig.“
Sie bezwang sich, an Selbstbeherrschung nur zu sehr gewöhnt, und vermochte sogar zu lächeln. „Warum sollte ich traurig sein?“
Forschend sah er sie an. „Es gibt Stimmungen, wo man ohne besonderen Grund traurig ist. Oder hast du nie solche Stimmungen?“
Sie atmete schnell, und ihre Hände lagen in den seinen wie gefangene Vögel. „Doch, ich kenne solche Stimmungen natürlich auch. Aber ich war jetzt nur geistesabwesend – ich – ich dachte an meine Modistin, ob sie zur rechten Zeit mein Reisekleid abliefert.“
Er ließ schnell ihre Hände aus den seinen fallen, und ein ironisches Lächeln huschte um seinen Mund. „Ah, so, solche Sorgen belasten dein Gemüt“, sagte er mit leisem Spott.
Sie hätte laut aufweinen mögen. Nein, solche Sorgen belasteten ihr Gemüt nicht. Es war eine hoffnungslose Traurigkeit in ihr, weil sie wusste, dass zwischen Günter und ihr eine Mauer stand, die nie fallen würde. Und sie wusste, dass sie ihm immer ferner rückte durch die Komödie, die sie ihm vorspielte.
War das nicht eine große Torheit von ihr, ein sinnloses Wüten gegen sich selbst? Vergab sie sich etwas damit, wenn sie ihn zuweilen einen Blick in ihr wahres Seelenleben tun ließ? Ihre Liebe würde sie ihm ja immer verschweigen, aber es war doch sicher nicht verächtlich, wenn sie ihm zeigte, dass sie keine seelenlose Puppe war.
Allen Mut zusammennehmend, sagte sie plötzlich: „Nein, ich sprach eben die Unwahrheit – ich dachte nicht an meine Modistin – ich wollte dir nur nicht sagen, dass mich in Gedanken an übermorgen ein großes Zagen überfallen hat.“
Er stutzte und sah sie an, als traue er seinen Augen nicht. Etwas wie Rührung überkam ihn. Schnell nahm er wieder ihre Hand. „Verzeih mir, Dagmar, ich hätte dich nicht fragen sollen und noch weniger hätte ich dir glauben dürfen, dass du an deine Modistin mit diesem Ausdruck der Trauer dachtest. Ich wollte mich nicht in deine Gedanken drängen. Du sagtest mir, dass dich ein Zagen überfallen hat in dem Gedanken an unsere Vereinigung. Liebe Dagmar, hoffentlich bereust du nicht, dass du dich ohne Liebe einem Mann zu Eigen geben willst.“
Seine Worte wühlten alle Tiefen in ihrer Seele auf. Nur mühsam vermochte sie sich zu fassen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, sei unbesorgt! – Ich – ich werde nie bereuen, dass ich dir mein Jawort gab. Hoffentlich wirst auch du nicht bereuen, dass du um meine Hand anhieltest.“
Mit einem tiefernsten Blick sah er sie an. Es entging ihm nicht, dass sie aus ihrem kühlen Gleichmaß herausgerissen war.
„Ein Mann kommt leichter darüber hinweg, Dagmar, er hat seine Arbeit, seinen Beruf. Für das Leben des Mannes ist die Liebe nicht so sehr Inhalt wie für die Frau, auch wenn er stark und tief empfinden kann. Wenn aber dem Leben der Frau die Liebe fehlt, dann fehlt ihr die Sonne. Sag mir ehrlich – kamen dir Bedenken in dieser Zeit? Noch ist nichts verloren, noch kannst du zurück. Ich werde dich nicht halten gegen deinen Willen.“
Sie hielt die Augen gesenkt, aber er sah, wie sie mit sich rang. Aber dann schüttelte sie heftig den Kopf. „Nein, nein, achte nicht auf meine törichte Stimmung, ich bin wohl ein wenig nervös. Du hast mein Wort, und ich halte es.“
Er führte ihre Hand an seine Lippen. „Es ist dein Wille, Dagmar. Aber versprich mir – wenn dir dennoch eines Tages das Leben an meiner Seite unerträglich werden sollte, dann komm zu mir und sag es mir offen und ehrlich. Willst du mir das versprechen?“
Sie sah ihn an. Und in diesem Moment konnte und wollte sie nicht den kühlen Ausdruck ihrer Augen festhalten. Sie sah ihn mit einem großen, warmen Blick an, so dass er erstaunt in die Schönheit dieser Augen hineinblickte. Mit verhaltener Stimme sagte sie: „Sei gewiss, dass ich dann zu dir komme. Ich weiß, dass ich dir in jeder Lebenslage vertrauen kann.“
In diesem Moment trat die Baronin Steinberg wieder ein. Gleich darauf erschien der Kommerzienrat. Die Baronin ließ den Teewagen hereinbringen. Es war zur Teestunde, und der Kommerzienrat hatte sich heute ausnahmsweise freigemacht, weil sein Schwiegersohn anwesend war. So saßen die vier plaudernd um den Teetisch. Graf Günter ließ dabei seine Augen nicht viel von Dagmars Gesicht. Sie hatte ihm heute ein Rätsel aufgegeben. Zum ersten Mal hatte er in ihren Augen einen beseelten Ausdruck gesehen, und er fragte sich, ob ihre kühle Zurückhaltung nicht vielleicht mehr Erziehungssache als Empfindungssache sei.
Jetzt zeigte Dagmar zwar wieder ihre ruhige Gelassenheit, aber ein schwaches Hoffnungsfünkchen war doch in ihm aufgewacht, dass seine Braut nicht bis ins tiefste Herz hinein so kalt war, wie sie sich zeigte.
Warum er das hoffte, darauf gab er sich keine Antwort.
Zwei Tage später fand die Hochzeit statt. Sie wurde mit aller Pracht gefeiert. Zahlreiche Gäste aus den höchsten Finanz- und Adelskreisen waren bei der Feier anwesend. Auch Käthe von Roschwitz mit ihrem Gatten und ihren Eltern war gekommen.
Der Hof des süddeutschen Staates, in dem die Grafschaft Taxemburg lag, hatte ebenfalls einen Vertreter zur Hochzeitsfeier gesandt. Und zwar war dieser Vertreter der Prinz Ludwig. Er war persönlich mit Graf Günter bekannt. Prinz Ludwig befasste sich mit botanischen Studien und hatte Günter auf der Universität kennen gelernt. Sie waren die ganzen Jahre in brieflicher Verbindung geblieben. Prinz Ludwig hatte es sich selbst ausgebeten, als Vertreter des Hofs der Hochzeitsfeier beizuwohnen, und man hatte es ihm gern gestattet.
Klaus Ruthart lächelte befriedigt, als er sah, wie vertraulich der Prinz mit seinem Schwiegersohn sprach.
***
Seit Monaten lebte Dagmar nun schon als Herrin auf Schloss Taxemburg. Und sie war in dieser Zeit viel mehr allein gewesen als bisher jemals in ihrem Leben.
Ihr Gemahl, der sich durch ihre gut gespielte Kälte, die ihr Stolz ihr diktierte, immer wieder zurückgestoßen fühlte, hatte sich mit Feuereifer der Arbeit ergeben. Im Spätsommer und Herbst gab es für ihn noch viele landwirtschaftliche Arbeiten. Er war oft draußen auf den Feldern und im Forst. Aber seit der erste Schnee gefallen war, hatte er begonnen, an der Fortsetzung seines wissenschaftlichen Werkes zu arbeiten.
Gäste kamen vorläufig wenig nach Schloss Taxemburg. Man wollte das junge Paar nicht in den vermeintlichen Flitterwochen stören. Aber diese Flitterwochen hätten sehr wohl eine Störung vertragen.
Dagmar begnügte sich, ihrem Gatten eine gleichmäßig kühle Freundlichkeit zu zeigen, und er kam ihr in gleicher Weise entgegen. Obwohl er zuweilen wärmere Gefühle für sie aufsteigen fühlte, zeigte er sie ihr nicht, um ihr nicht damit lästig zu fallen.
Aber es erging ihm seltsam: Je länger er mit ihr zusammenlebte, je weniger behagte ihm ihr zurückhaltendes Wesen. Es quälte ihn mehr und mehr, dass er ihr innerlich nicht näher kommen konnte, aber er zeigte ihr das nicht und gestand es sich selbst nicht einmal ein.
Und deshalb vermied er so viel wie möglich, mit ihr zusammenzukommen. So sahen sie sich fast nur bei den Mahlzeiten. Er warf sich der Arbeit in die Arme und glaubte, sie sei ganz damit einverstanden, dass er sie nicht mit seiner Anwesenheit belästigte.
Dagmar litt aber unter dem eigenartigen Verhältnis zu ihrem Gatten viel mehr, als sie erwartet hatte. Es wurde ihr immer schwerer, ihre Maske zu tragen, und aus Angst, ihm ihre Liebe zu verraten, trieb sie ihr Stolz dazu, noch kühler und schroffer zu sein, als es nötig gewesen wäre. Sie schoss damit oft über das Ziel hinaus und fühlte dann tief betrübt, dass sie ihn selbst zurückstieß. War sie allein, rief ihr Herz in qualvoller Sehnsucht nach ihm. Trat er dann zu ihr ins Zimmer, dann setzte ihr Herzschlag aus und litt noch mehr, weil ihr Stolz es nicht zuließ, dass sie ihm zeigte, wie sehr sie ihn liebte. Dabei wurde sie schöner von Tag zu Tag. Ihre Schönheit wurde reifer, durchgeistigter, und ihr Gatte sah zuweilen in verstohlener Bewunderung auf sein schönes, junges Weib.
„Wenn sie eine Seele hätte, wenn sie so zu mir sprechen würde, wie es die Namenlose in ihren Briefen getan hat – ich glaube, sie könnte die versiegten Quellen in meinem Innern wieder zum Leben erwecken“, dachte er eines Tages.
Nach wie vor verkehrten sie in der korrektesten Höflichkeit miteinander. Freundlich gingen sie beide auf gegenseitige Wünsche ein, aber über ihre größten und tiefsten Wünsche schwiegen sie.
Schloss Taxemburg lag in weiß verschneiter Winterpracht. Die Türme hatten weiße Schneekappen auf. Ein wundervoller Blick bot sich aus den Fenstern des Schlosses auf die winterliche Landschaft.
Dagmar hatte den Schlitten anspannen lassen. Sie wollte in den verschneiten Wald hinausfahren. In einen kostbaren Pelzmantel gehüllt, kam sie die breite Treppe herab, die in die große Schlosshalle führte. In demselben Moment trat ihr Gatte aus der Bibliothek, wo er sich ein Nachschlagewerk geholt hatte.
Er sah bewundernd zu ihr empor. „Du willst ausfahren, Dagmar?“, fragte er.
Ihr Gesicht rötete sich leicht unter seinem Blick. „Ich bekam Lust, eine Schlittenfahrt zu machen. Es muss herrlich sein in den verschneiten Wäldern.“
Er warf einen Blick durch das geöffnete Portal hinaus ins Freie. „Du hast Recht, es muss sehr schön sein. Wenn du es mich hättest wissen lassen, wäre ich gern mit dir gefahren.“
Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie unsicher: „Ich glaubte, die Arbeit halte dich fest, sonst hätte ich es dir sagen lassen. Aber wenn du mitkommen willst – noch, ist es ja Zeit.“
Er richtete sich straff empor. „Würdest du warten? Ich müsste mich umkleiden.“
„Das dauert ja nicht lange.“
„Nein, fünf Minuten.“
„So werde ich warten.“
„Dann musst du aber deinen Pelz so lange ablegen, sonst frierst du nachher draußen.“
„Das kann ich tun.“
Er nahm ihr den Pelzmantel ab. Dann eilte er in großen Sätzen die Treppe hinauf.
Sie sah ihm nach. Und eine heiße Freude stieg in ihr auf. Jetzt so mit ihm zusammen, eng aneinander geschmiegt im Schlitten, durch die winterliche Pracht dahinfahren ach, es war doch ein Glück, bei ihm sein zu dürfen, auch wenn er sie nicht liebte.
Sie ließ sich in einen der Sessel gleiten, die in der Schlosshalle vor dem mächtigen Kamin um einen schweren, runden Eichentisch gruppiert waren.
Es kam ein weiches, träumerisches Empfinden über sie. Sie schloss die Augen und wartete auf ihn. Und dabei malte sie sich aus, wie unsagbar glücklich sie hätte sein können, wenn sie ihr Gatte aus Liebe geheiratet hätte.
Als Graf Günter die Treppe hinunterkam, zur Ausfahrt fertig, sah er sie so mit geschlossenen Augen sitzen. Er stutzte. Ganz fremd erschien sie ihm mit der seltsamen Weichheit, die auf ihren reinen Zügen lag.
Sie hatte ihn nicht kommen hören. Die dicken Teppiche dämpften seine Schritte. Er blieb eine Weile in ihren Anblick versunken stehen.
„An wen mag sie denken, wenn sie so aussieht?“, fragte er sich, und eine seltsame Unruhe erwachte in seinem Herzen.
Da bäumten draußen die Pferde ungeduldig vor dem Schlitten, und die Schellen an ihrem Zaumzeug klangen hell zu der Träumenden. Da öffnete sie die Augen, die noch in einem sehnsüchtig weichen Glanz leuchteten. Sie sah Günter nicht. Er starrte sie an wie eine Erscheinung. Wem galt dieser sehnsüchtige Glanz? Wo flogen ihre verträumten Gedanken hin? Hatte sie doch eine Seele, die sie nur vor ihm versteckte, weil sie nicht ihm gehörte?
Er sprang die Treppe vollends herab, als wollte er sogleich das Rätsel ergründen und Antwort auf die jäh in ihm aufsteigenden Fragen haben.
Sie zuckte leise zusammen und wandte ihm ihr Gesicht zu. Und so sehr hatte sie sich allezeit in der Gewalt, dass sie sogleich wieder ihre gleichmäßig ruhige Miene zeigen konnte.
Ruhig sah sie ihm in die Augen. „Schon fertig?“
„Habe ich dich nicht zu lange warten lassen?“, stieß er gepresst hervor.
„Nein, gewiss nicht.“
Er legte ihr den Pelz wieder um die Schultern. Und ihr den Arm reichend, führte er sie zum Schlitten.
Es war eine herrliche Fahrt. Sie schwiegen erst eine Weile und hingen ihren Gedanken nach. Aber als sie in den Wald kamen, schüttelte einer der Baumriesen wie im neckischen Spiel die Schneelast auf seinen Ästen über sie aus, so dass sie beide weiß überstreut wurden. Da fuhren sie lachend aus ihren Gedanken empor und reinigten sich gegenseitig vom Schnee.
Durch diesen kleinen Zwischenfall wurden sie beide lebhaft. Günter erzählte, wie sehr er sich in den Tropen nach solch einem verschneiten Wintertag gesehnt hatte, und sie schalt auf die Winter in Berlin, wo man den Schnee meist nur als schmutzige Masse zu sehen bekommt. Sie plauderten ganz angeregt, aber er sah immer wieder von der Seite in ihr von der Winterluft gerötetes Gesicht, als suche er darin den Ausdruck von sehnsüchtiger Weichheit.
Ein seltsam unbehagliches Gefühl überkam ihn. Am liebsten hätte er Dagmar jetzt gleich gefragt, ob der in ihm aufsteigende Gedanke Berechtigung hatte. Aber der Kutscher saß hinter ihnen und konnte trotz seines bis über die Ohren reichenden Pelzkragens vielleicht etwas hören.
So schwieg er.
Aber als sie von dieser Schlittenfahrt nach Hause kamen und sich nach Tisch bei einer Tasse Mokka im Salon gegenübersaßen, sagte er mit unsicherer Stimme: „Ich möchte eine Frage an dich richten, Dagmar. Wirst du sie mir beantworten?“
Sie sah ihn fragend an. „Wenn ich kann, gewiss. Was willst du mich fragen?“
Seine Augen sahen fest in die ihren. „Ich will dich fragen, ob dich dein Vater gezwungen hat, meine Bewerbung anzunehmen.“
Ein jähes Rot schoss in ihr Antlitz. „Gezwungen? Wie meinst du das?“, fragte sie unsicher.
„So, wie ich es sage. Wurdest du einem Zwang unterworfen?“
Sie presste die Handflächen zusammen. „Gezwungen – nein – gezwungen hat mich mein Vater nicht. Aber er hätte mir auch keine andere Wahl gelassen, wenn ich mich geweigert hätte.“
Er sprang auf. „So war es doch ein Zwang!“, rief er rau. Und dann vor sie hintretend, nahm er ihre Hand und fuhr fort: „Sag mir eins, Dagmar, hast du unter diesem Zwang gelitten? Liebtest du vielleicht einen anderen, von dem du lassen musstest, als du mir gezwungen deine Hand reichtest?“
Ihre Hand zitterte in der seinen, und die Röte in ihrem Antlitz wich einer jähen Blässe. „Nein, ich liebte keinen anderen“, stieß sie hervor und zog ihre Hand aus der seinen.
Forschend sah er auf sie herab. Ganz überzeugt war er nicht. Er atmete tief auf und trat zurück. „Verzeih, dass ich dir diese Frage vorlegte, Dagmar. Aber als ich heute herunterkam in die Halle, sah ich auf deinem Antlitz Weichheit, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Und da stieg die Frage in mir auf, ob dein Herz einem anderen gehören könnte. Du sagst mir, dass es nicht so ist, und ich habe keine Ursache, an deinen Worten zu zweifeln. Aber bei dieser Gelegenheit möchte ich dir noch einmal dringend ans Herz legen, dass du in mir deinen besten, treuesten Freund sehen mögest. Ich habe einmal geglaubt, du habest kein Herz. Das glaube ich jetzt nicht mehr. Und dein Herz kann eines Tages erwachen – dann sag es mir ehrlich, dann will ich dir helfen, dass es ohne Schuld und Sünde geschehen kann.“
Sie presste die Hände zusammen. „Du bist gut und edel, ich weiß es und danke dir“, sagte sie leise.
Er fuhr sich über die Stirn und warf sich in seinen Sessel. „Sieh, einst hat mich die Frau, die ich liebte, verraten, obwohl sie mich glauben ließ, sie liebte mich. Es ist großes Unheil daraus entstanden, was zu vermeiden gewesen wäre, wenn sie mir offen bekannt hätte, dass sie einen anderen liebte. Du liebst mich nicht, wir haben unsere Ehe ohne leidenschaftliche Gefühle geschlossen. Deshalb kann auch für dich der Tag kommen, an dem du dein Herz entdeckst. Aber, ich bitte dich, komme dann offen und ehrlich zu mir, damit nicht noch einmal Unheil entsteht. Versprich mir das!“
Dagmar sah ihn an und legte ihre Hand in die seine. „Ich verspreche es dir.“
Er küsste ihre Hand mit einer Inbrunst, wie es bisher noch nie geschehen war.
Und zum ersten Mal keimte in ihrer Seele ein zartes, scheues Hoffen, dass es doch möglich sein könnte, dass sie seinem Herzen näher kam.
Sie wehrte dieses leise Hoffen schnell und ängstlich wieder ab, weil sie sich vor einer Enttäuschung fürchtete. Eine Weile saßen sie einander schweigend gegenüber. Dann erhob sich Günter. „Wenn du gestattest, ziehe ich mich jetzt zurück. Ich habe noch zu arbeiten.“
„Bitte lass dich nicht stören!“, erwiderte sie beherrscht. „Kommst du mit deinem Werk gut voran?“
„O ja, jetzt im Winter habe ich viel Zeit. Einen Teil des Manuskripts schicke ich dieser Tage fort, es soll auf der Schreibmaschine abgeschrieben werden.“
Sie sah lebhaft zu ihm auf. „Ist es nicht gewagt, so ein wertvolles Manuskript der Post anzuvertrauen?“
„Ich gebe es freilich nicht gern fort. Aber es muss abgeschrieben werden, ehe es in Druck kommt.“
Sie erhob sich. „Willst du es mir nicht zur Abschrift überlassen?“
Überrascht sah er sie an. „Du wolltest – nein, das kann dein Ernst nicht sein.“
„Doch, es würde mir viel Freude machen. Ich habe so viel freie Zeit und würde es sehr sorgfältig abschreiben.“
Noch immer sah er sie erstaunt an. „Davon bin ich überzeugt. Aber das kann ich dir doch nicht zumuten.“
„Du mutest es mir ja nicht zu, ich biete es dir selbst an“, sagte sie.
Er war noch immer unschlüssig, „Du wirst bald die Lust verlieren, es ist eine langweilige Beschäftigung.“
„O nein, für mich nicht.“
„Und die lateinischen Namen werden dir Schwierigkeiten machen.“
„Ich glaube nicht, und im Übrigen bist du ja zur Hand, dass ich dich fragen könnte. Lass es mich tun, ich bitte dich darum! Es wird mir über manche müßige Stunde forthelfen. Und im Übrigen – du weißt, dass ich mich für dein Werk interessiere. Oder fürchtest du, dass ich die Arbeit nicht zu deiner Zufriedenheit ausführe?“
Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Nein, nein, das fürchte ich nicht, ich will nur nicht, dass du dich anstrengst.“
Sie wehrte ab. „Meinst du nicht, dass es mir Freude macht, wenn ich mich auch einmal nützlich beschäftigen kann?“
„Du stehst hier dem großen Haushalt vor.“
„Hast du nicht auch viel andere Arbeit, außer deinem Werk? Lass mir doch die Freude, mich nützlich beschäftigen zu können.“
Er sah sie eine Weile schweigend an. Dann reichte er ihr die Hand. „Also gut, ich gebe dir nur zu gern meine Einwilligung. Aber du musst es mir sagen, wenn dir die Arbeit zu schwer wird.“
Sie streckte lächelnd die Arme aus. „Ich glaube nicht, dass ich dir das sagen werde. Bitte, gib mir gleich einen Teil des Manuskripts ich fange noch heute an.“
„Ich hole es sogleich herüber.“
Und er eilte davon. Nach wenigen Minuten kam er zurück mit einem Teil des Manuskripts. Sie nahm es aus seiner Hand.
Er gab ihr Anweisung, wie das Manuskript zu schreiben sei. Sie hörte ihm aufmerksam zu.
Dann verabschiedete er sich mit einem Handkuss von ihr.
Als sie allein war, drückte sie das Manuskript an ihre Brust. „So habe ich doch ein wenig Teil an seinem Schaffen“, sagte sie leise vor sich hin.
Und sie ging in ihr Arbeitszimmer hinüber, um sofort mit der Arbeit zu beginnen.
***
Am nächsten Morgen befand sich unter der Post ein Schreiben vom Prinzen Ludwig. Der Prinz bat in herzlichen Worten, dass das junge Paar doch für einige Wochen in die Residenz käme, um an den bevorstehenden Hoffestlichkeiten teilzunehmen.
Dagmar zeigte sich sehr interessiert. Im Grunde aber lag ihr wenig daran. Sie wäre viel lieber auf der Taxemburg geblieben, die sie trotz allem mit einem süßen Zauber umspann. Das sprach sie aber nicht aus. Und so glaubte Graf Günter, sie sei froh, in das glänzende höfische Treiben zu kommen, wo sie Feste feiern und selbst gefeiert werden konnte. Kurz entschlossen teilte er dem Prinzen mit, dass man seiner Einladung folgen werde.
Am Nachmittag dieses Tages saß Dagmar in ihrem Lieblingszimmer, einem achteckigen Gemach im Turm. Drei Seiten des Zimmers waren mit breiten Fenstern versehen. Am mittelsten Fenster stand der Schreibtisch.
Hier in diesem Zimmer war sie vor Störung sicher.
Günter kam nie hierher. Wenn er einmal in ihre Gemächer kam, geschah es, um den Tee mit ihr zu nehmen. Sie hatte es eingeführt, dass der Tee in ihrem Salon eingenommen wurde. Sonst trafen sie meist nur im neutralen Speisezimmer zusammen.
Und so befürchtete Dagmar keinerlei Störung, als sie, wie schon so oft, die Kassette mit Günters Briefen aus ihrem Schreibtisch nahm.
Sie wollte sie wieder einmal lesen.
Mit geröteten Wangen und glänzenden Augen sah sie auf die Briefe herab und war so versunken, dass sie erschrocken zusammenfuhr, als die Tür geöffnet wurde.
Graf Günter stand auf der Schwelle. Er sah, wie seine Frau entsetzt emporfuhr bei seinem Anblick und ein Päckchen Briefe in die Kassette warf.
Er stutzte und trat langsam näher. „Verzeih, wenn ich dich störe, Dagmar. Ich habe etwas mit dir zu besprechen, und deine Zofe sagte mir, dass ich dich hier finden würde.“
Die oft geübte Selbstbeherrschung gab Dagmar schnell ihre Fassung zurück. Sie stellte die Kassette in das Schreibtischfach zurück und sagte ruhig: „Du störst mich nicht. Was führt dich zu mir?“
Er merkte aber doch ein leises Beben in ihrer Stimme und sagte sich, dass er sie unbedingt bei der Lektüre von Briefen gestört haben musste, von deren Existenz er nichts wissen sollte. Eine quälende Unruhe befiel ihn. Zu deutlich war Dagmars Erschrecken gewesen.
Was hatte sie ihm zu verbergen? Waren diese Briefe von einer lieben Hand?
Sie mussten ihr wertvoll sein, da sie sie in einer besonderen Kassette verwahrte.
Graf Günter zwang sich zur Ruhe, aber sie zerrte an seinem Herzen. „Ich wollte dich nur bitten, mir zu sagen, wie viel Räume du im Hotel in der Residenz benötigst. Ich muss deshalb depeschieren“, sagte er.
Sie bot ihm einen Sessel an. „Ich denke, dass ich mit drei Zimmern genug habe, Schlafzimmer, Ankleidezimmer und Salon – das genügt.“
Er ließ sich nieder und sah unwillkürlich auf den Schreibtisch, als könne er jetzt noch etwas von den Briefen entdecken. Aber sie hatte keinen einzigen liegen lassen. „So werde ich also in diesem Sinne depeschieren. Hast du noch besondere Wünsche?“
„Nein, ich danke dir.“
Er hatte seinen Blick über den Schreibtisch hinweg hinausschweifen lassen. „Du hast hier nach Süden eine wundervolle Aussicht.“
„O ja! Eigentlich ist sie nach allen Seiten schön, aber hier ist sie doch am schönsten. Wenn ich am Schreibtisch sitze und meine Blicke hinausschweifen lasse, habe ich meine Freude daran.“
„Du sitzt wohl viel am Schreibtisch?“
„In letzter Zeit hauptsächlich, weil ich da außer meiner Korrespondenz deine Manuskriptarbeit besorge. Du siehst, ich habe meine Schreibmaschine hier aufgestellt.“
Er sah plötzlich zu ihr auf. „Ist es nicht sonderbar, Dagmar, dass ich noch nie deine Handschrift gesehen habe, außer deinem Namenszug, den du gelegentlich unter Schriftstücke setzen musst?“
Sie wandte sich ab, um ihr Erröten zu verbergen. „Ach weißt du, ich habe eine furchtbar unleserliche Handschrift.“
„Ah! Deshalb benutzt du meistens die Schreibmaschine?“
Sie nickte hastig. „Ja ja, deshalb tue ich es.“
„Auch für deine Privatkorrespondenz?“, fragte er zögernd.
„Ja gewiss, auch für die.“
Ein Lächeln flog über sein Gesicht. „Nun ist es mir erklärlich, weshalb du auch deine Briefe an mich während unserer Verlobungszeit auf diese Art geschrieben hast. Offen gestanden, es hat mich seltsam berührt.“
Sie hatte sich immer in der Gewalt und wandte ihm ihr Gesicht zu. Sie vermochte sogar zu lächeln. „Ich habe es nur getan, um es dir zu ersparen, dass du dich mit dem Entziffern meiner unleserlichen Handschrift plagst.“
Er fasste ihre Hand und drückte sie an seine Lippen. „Das war eine Abbitte, Dagmar“, sagte er dann.
Sie errötete. „Was wolltest du mir damit abbitten?“
„Dass ich geglaubt habe, du wolltest deinen Briefen an mich absichtlich einen geschäftsmäßigen Anstrich geben.“
Sie schüttelte hastig den Kopf. „O nein, das wollte ich ganz sicher nicht. Ich hätte es dir mitteilen sollen, warum ich es tat. Verzeih, dass ich das vergessen habe! Ich – ja ich bin es so gewöhnt, mit der Maschine zu schreiben, dass es mir gar nicht mehr als etwas Besonderes auffällt. Ganz sicher habe ich nicht daran gedacht, dass du es so auffassen könntest, das glaube mir.“
Mit sanftem Druck gab er ihre Hand frei. „Ich glaube dir. Ich halte dich für zu stolz und zu ehrlich, als dass ich an deiner Wahrhaftigkeit zweifeln könnte.“
Mit seltsam ernsten Augen sah sie ihn an. „Es gibt zuweilen zwingende Notwendigkeiten zur Unwahrheit, Günter. Ich glaube nicht, dass es einen Menschen gibt, der die Wahrheit noch nie umgangen hat.“
„Das glaube ich auch nicht. Aber es muss auch eine unbedingte Notwendigkeit zur Unwahrheit vorliegen, wenn sie entschuldigt werden soll.“
Sie neigte das Haupt. „Das ist auch meine Ansicht.“
Er erhob sich und atmete tief auf. Wenn die Briefe da drin in ihrem Schreibtisch, die sie vor ihm verborgen hatte, tatsächlich von einem Mann herrührten, so waren sie entweder, trotz ihrer Verlegenheit, harmloser Natur, oder sie stammten aus einer Vergangenheit, in der er noch keine Rechte an sie hatte.
Etwas anderes wollte er nicht annehmen. Obwohl er schon einmal von einer Frau betrogen worden war, glaubte er an Dagmars Wahrhaftigkeit. Sie würde ihn nicht betrügen, da er ihr doch gesagt hatte, dass sie offen zu ihm sein sollte.
Damit wehrte er die unruhigen Gedanken von sich ab.
***
In der Residenz herrschte lebhaftes Treiben. Die Hoffestlichkeiten hatten begonnen, und die Spuren davon drangen bis in die untersten Volksschichten.
Graf Günter Taxemburg und seine Gemahlin waren eingetroffen und hatten im vornehmsten Hotel Wohnung genommen.
Schon wenige Tage nach ihrer Ankunft war die Vorstellung des gräflichen Paares bei Hof festgesetzt. Vorher musste es verschiedene Besuche machen, hauptsächlich bei der Oberhofmeisterin.
Diese unterwarf Dagmar gewissermaßen einem Examen, ob sie auch gut gerüstet war, um von den Höchsten Herrschaften empfangen zu werden. Sie gab Dagmar mit wichtiger Geschäftigkeit allerlei Winke und Ratschläge.
Graf Taxemburg und Gemahlin wurden allseitig mit großem Interesse aufgenommen. Prinz Ludwig hatte die Parole gegeben, dass das junge Paar ein Gewinn für den Hof sei, und man hatte ihm schon erwartungsvoll entgegengesehen.
Und als nun die große Stunde gekommen war und Graf und Gräfin Taxemburg sich im Vorzimmer des Schlosses zu den zahlreichen Gästen gesellten, da gab es ein berechtigtes Aufsehen. Die Schönheit der Gräfin und die imposante Erscheinung des Grafen machten großen Eindruck. Prinz Ludwig war zur Stelle. Er hatte das gräfliche Paar schon in der Residenz willkommen geheißen. Und als er Dagmar heute sah, leuchteten seine Augen bewundernd auf.
„Gnädigste Gräfin, ich habe es nicht für möglich gehalten, dass Sie sich an Schönheit selbst übertreffen könnten – aber es ist geschehen“, sagte er, ihre Hand an die Lippen führend.
Sie sah unbefangen lächelnd zu ihm auf. „Hoheit sind sehr gnädig, sich meinetwegen mit Komplimenten in Unkosten zu stürzen“, sagte sie schelmisch.
Er betrachtete sie entzückt und sah dann seufzend zu Günter auf. „Lieber Graf, Sie sind beneidenswert. Und man wird mich von allen Seiten preisen, dass es mir gelungen ist, Sie an unseren Hof zu locken. Zwei so interessante Menschen – und so schöne Menschen das ist hier eine Seltenheit. Ja, ja, sehen Sie sich nur um! Viel Geist und Schönheit finden Sie nicht bei uns.“
„Hoheit verzeihen – aber ich sehe in diesem Saal zum mindesten viel Schönheit versammelt“, bemerkte Dagmar.
Der Prinz lächelte. „Alles nur Schein, gnädigste Gräfin, diese Blüten sind alle in der Hofluft erstickt und vertragen nicht mehr das Tageslicht. Sie dagegen brauchen die hellste Sonnen nicht zu scheuen. Aber ich will nicht mehr davon reden, sonst halten Sie mich für einen faden Menschen.“
„Das brauchen Hoheit nicht zu fürchten.“
Der Prinz lachte leise: „Ach, Sie meinen, ein Prinz müsse unter allen Umständen das Gegenteil von fad sein? Aber auch das täuscht zuweilen, gnädigste Gräfin.“
Der Prinz musste sich jetzt anderen Herrschaften zuwenden, und Graf und Gräfin Taxemburg wurden nun von anderen Seiten in Anspruch genommen.
Eine leise Unterhaltung war im Gang. Man begrüßte sich, stellte einander vor, kritisierte und konversierte, wenn man sich nicht mit Gemeinplätzen begnügte und herzbrechend langweilig war. Dabei konzentrierte sich aber das ganze Interesse auf den Moment, wo man zur großen Cour vor die regierenden Herrschaften geführt wurde.
Die Damen würden den Vortritt haben, erst wurden sie vorgestellt. Einige der Damen sahen neidisch auf die schöne Gräfin Taxemburg und mokierten sich leise, dass sie nur schlechtweg eine geborene Ruthart und dass ihr Gatte – mondieu – nur ein illegitimer Spross des gräflich Taxemburgschen Geschlechts war.
Dagmar schritt in stolzer Ruhe und natürlicher Anmut hinter den anderen Damen am Thron vorüber. Sie machte die vorschriftsmäßige Verbeugung vor den Höchsten Herrschaften, diese grüßten lächelnd die schöne Gräfin, und der große Augenblick war vorbei.
Später, als die Vorstellung zu Ende war, hielten die Höchsten Herrschaften Cercle in einem anderen Saal, wo Erfrischungen gereicht wurden. Und bei dieser Gelegenheit wurden Graf Taxemburg und seine Gemahlin mit einer längeren Ansprache ausgezeichnet.
Und wenn bisher noch jemand Anstoß daran genommen hatte, dass Graf Taxemburg ein illegitimer Sohn seines Vaters und dass seine Gattin eine Bürgerliche war, so wagte jetzt niemand mehr daran zu rühren.
Von dieser Stunde an war auch in der Hofgesellschaft die Legitimierung des Grafen Taxemburg sanktioniert. Als Dagmar später mit ihrem Gatten zusammenstand – ein Lakai hatte ihnen eben eine Erfrischung kredenzt –, kam plötzlich ein schlanker, schöner Mensch mit einem freudigen Aufstrahlen seiner Augen auf Dagmar zu.
Auch Dagmars Gesicht verriet freudige Überraschung. „Herr Hollmann! Sie hier? Das ist eine freudige Überraschung“, sagte sie, ihm die Hand entgegenstreckend.
Werner Hollmann, ein bekannter und sehr beliebter Porträtmaler, fasste Dagmars Hand und führte sie mit großer Galanterie an die Lippen. „Mein gnädiges Fräulein nein, pardon, ich habe gehört – gnädigste Gräfin, ich stehe geblendet, die Sonne ist in dieser Residenz aufgegangen.“
Graf Günter sah etwas erstaunt dieser Begrüßung zu. Dagmar merkte es und errötete unter seinem Blick. „Rechnen Sie mich nicht unter das Blendwerk, Herr Hollmann! Gestatten Sie, dass ich Sie mit meinem Gatten bekannt mache“, sagte Dagmar und stellte die Herren einander vor.
Diese verneigten sich. „Ich habe den Vorzug, Herr Graf, Ihre Frau Gemahlin schon von Berlin aus zu kennen.“
„Sie lebten früher in Berlin, Herr Hollmann?“, fragte Günter artig, aber unwillkürlich etwas reserviert.
Hollmann neigte das Haupt. „So ist es, Herr Graf. Jetzt halte ich mich aber seit fast einem Jahr hier auf. Ich habe erst die höchsten Herrschaften porträtiert und habe dann so viele Aufträge bekommen, dass ich nicht gleich wieder fortkam. Aber ich bin glücklich, gnädigste Gräfin, Ihnen hier begegnen zu dürfen.“
Dagmar sah Hollmann lächelnd an. „Ich freue mich auch, einen alten Bekannten getroffen zu haben.“
„Wie geht es Ihrem Herrn Vater?“
„Danke, gut.“
Sie plauderten noch eine Weile, und Günter wollte es scheinen, als sei das Wiedersehen dieser zwei Menschen auf beiden Seiten ein sehr freudiges. Ein unbehagliches Gefühl stieg in ihm auf. Als Werner Hollmann gleich darauf von einem Herrn begrüßt und fortgeführt worden war, fragte Günter: „Du kennst wohl Herrn Hollmann schon lange?“
Dagmar schloss einen Moment die Augen. Sie überlegte, wie lange sie Hollmann schon kannte. Er war ihr wirklich nichts weiter gewesen als ein guter Bekannter, mit dem sie sich allerdings immer gern unterhalten hatte, weil er sehr amüsant zu plaudern verstand.
„Ich glaube, ich habe ihn schon kennen gelernt, als ich aus der Pension kam.“
„Du scheinst sehr befreundet mit ihm zu sein?“
Sie sah zu ihm auf und bemerkte plötzlich wieder den düsterschmerzlichen Ausdruck in seinen Augen, den sie jetzt lange nicht gesehen hatte. Sie erschrak und verfärbte sich leicht. Er merkte es, und da er nicht wusste, weshalb sie erschrak, glaubte er, seine Frage sei schuld daran.
„Befreundet? Nein, das kann ich nicht sagen. Ich habe ihn nur etwas näher kennen gelernt in der Zeit, als er Papa porträtierte.“
„Er hat deinen Vater porträtiert?“
„Ja.“
„Ich habe das Bild nie gesehen.“
„Es ist im Konferenzsaal eines der Werke aufgehängt worden, die Papa gehören. Zu diesem Zweck wurde es gemalt.“
Sie wurden hier gestört und kamen nicht wieder auf dieses Thema zurück.
Aber als Dagmar im Verlauf des Festes noch einmal mit Werner Hollmann zusammenstand, sah Günter grübelnd zu ihnen hinüber.
Und es schoss ein quälender Gedanke durch seinen Kopf: „Ob die Briefe, die Dagmar vor mir versteckte, vielleicht von Werner Hollmann waren? Ob ihm damals in der Schlosshalle der sehnsüchtige, weiche Blick galt?“
***
Einige Tage später lud das gräfliche Paar zur Revanche zu einem Souper ein. Es fand im Saal des Hotels statt, in dem Dagmar und Günter wohnten.
Auch diese Festlichkeit war wohlgelungen und verlief glänzend. Dagmar hatte es verstanden, durch allerlei persönliche Anordnungen einen originellen Zug in das Ganze zu bringen, und so war die Stimmung von Anfang an sehr angeregt.
Es war so ziemlich die letzte Festlichkeit der Saison. Dagmar freute sich schon auf die Heimkehr nach Schloss Taxemburg. Es erschien ihr köstlich, den erwachenden Frühling dort zu erleben.
Während ihr Gatte glaubte, dass sie völlig in der Geselligkeit aufging und sich vor der Rückkehr in das stille Schloss fürchtete, sehnte sie sich danach.
Als sie eines Abends von der letzten großen Festlichkeit ins Hotel zurückkehrten, fragte Günter: „Wie lange gedenkst du noch hier zu bleiben, Dagmar?“
Sie sah ihn an. „Ich möchte sobald als möglich nach Hause zurückkehren“, erwiderte sie schnell.
Seine Augen leuchteten auf. „Wirst du jetzt nicht sehr unter der Einsamkeit leiden, nach all den rauschenden Festen?“
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich freue mich auf zu Hause, und wir bleiben ja auch nicht lange allein. Prinz Ludwig wird kommen, bald nach unserer Heimkehr. Und außerdem Papa wünscht, dass ich mich von Werner Hollmann malen lasse – auch du sollst es tun – und ich denke, er wird den Auftrag annehmen und bald nach Taxemburg kommen. Dann haben wir amüsante Gesellschaft.“
Da erlosch das Licht seiner Augen. „Du hast zu mir ja noch nicht davon gesprochen, dass du dich von Hollmann malen lassen willst“, sagte er rau.
Sie bemerkte seine Unruhe nicht. „Ich habe erst heute Morgen von Papa die Nachricht bekommen, dass es geschehen soll.“
„Also, ist es nur deines Vaters Wunsch?“
„Oh, natürlich auch der meine. Wenn ich mich porträtieren lassen soll, dann nur von Hollmann. Seine Porträts gefallen mir sehr.“
Er biss die Zähne zusammen. Dann sage er scheinbar ruhig: „Also bestimme bitte den Tag unserer Abreise.“
„Wir müssen erst noch Abschiedsbesuche machen, Günter. Aber ich denke, kommenden Montag können wir abreisen.“
„Gut, ich werde alles vorbereiten.“
Damit war das Thema erledigt.
Am nächsten Morgen beim Frühstück zeigte Dagmar ihrem Gatten den Brief ihres Vaters, in dem er davon schrieb, dass sie sich malen lassen solle von Hollmann.
Die Ahnengalerie der Grafen Taxemburg sei doch noch vollständig erhalten, und er möchte gern die Porträts seiner Kinder dort sehen, wenn er nach Taxemburg käme, so schrieb der Kommerzienrat.
Günter las den Brief mit einem sehr unbehaglichen Gefühl. Der Gedanke, dass Werner Hollmann wochenlang auf der Taxemburg weilen sollte, ließ seine Eifersucht hoch auflodern.
Aber er beherrschte sich und sagte nur: „Hast du mit Hollmann schon darüber gesprochen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich sah ihn noch nicht wieder, nachdem ich diesen Brief erhalten habe. Aber wir haben ihm doch ohnedies, versprochen, ehe wir abreisen, sein Atelier zu besuchen. Das können wir heute tun, und wir können Hollmann dann gleich beauftragen, unsere Porträts zu malen. Meinst du nicht auch?“
„Gewiss. Und da dein Vater in der glücklichen Lage ist, horrende Preise bezahlen zu können, wird sich ja Herr Hollmann bereitfinden, den Auftrag anzunehmen.“ Es klang eine beißende Ironie aus Graf Günters Worten.
Sie sah ihn fragend an. „Du magst Hollmann nicht? Er ist doch ein geistvoller, amüsanter und genialer Mensch.“
„Um so schlimmer, dass er seine Kunst zur Modesache herabwürdigt. Ein wahrer Künstler sollte sich nicht zu solchen Konzessionen verleiten lassen. Außerdem erscheint er mir in seiner Eitelkeit lächerlich. Aber verzeih, du bist wohl anderer Ansicht über ihn.“
„Ich bewundere sein Können.“
„Außerdem ist er ein schöner Mann.“ Günter ärgerte sich über sich selbst, dass er sich hinreißen ließ, über Hollmann ein abfälliges Urteil zu liefern. Aber er hatte es nicht verhindern können. Die Eifersucht quälte ihn zu sehr.
Dagmar war ahnungslos, was in ihm gärte. Unbefangen erwiderte sie: „Nun ja, er ist ein schöner Mann, und das hat ihm vielleicht zu seinem raschen Aufstieg mitgeholfen.“
Zwei Stunden später erwartete Graf Günter seine Gemahlin im Vestibül des Hotels.
Sie trug ein elegantes Kostüm aus dunkelblauem Tuch. Ein kleidsamer Hut mit einem Reihergesteck vervollständigte den vornehmen Anzug. Sie sah trotz der anstrengenden Festsaison, die hinter ihr lag, köstlich jugendfrisch aus, und er blickte ihr mit Bewunderung entgegen. Als er ihr seinen Arm bot und sie ihre Rand hineinlegte, presste er sie einen Moment fest an sich.
Sie sah zu ihm auf. „Ich fürchtete, dich zu verlieren“, sagte er, ihre Hand fest auf seinen Arm legend. Aber seine Worte hatten einen Doppelsinn.
Draußen half er ihr in den Wagen. Sie hatten sich telefonisch bei Hollmann angesagt.
Der Weg, den sie zurückzulegen hatten, war nicht weit.
Sie wurden von Hollmann in einem elegant eingerichteten Atelier empfangen. Es waren noch mehrere Besucher anwesend, zwei Herren und vier Damen, die letzteren schwärmten den Künstler an und machten ihm Elogen, die er mit einem eitlen Lächeln entgegennahm. Er benimmt sich wie eine verwöhnte Primadonna, dachte Günter bei sich.
Das eben vollendete Gemälde einer Prinzessin stand auf einer Staffelei, und trotz seines Grolles musste Günter zugeben, dass sich ein geniales Können in diesem Gemälde verriet.
Dagmar betrachtete verschiedene Skizzen und andere Gemälde mit großem Interesse, und sie bedauerte im Stillen, dass Hollmann im gleichen Maß unsympathischer geworden war, wie seine Bilder sich vervollkommnet hatten.
Als sie dann allein vor dem Porträt der Prinzessin stand, trat Hollmann neben sie. Seine Augen hefteten sich mit einem glühenden Blick auf Dagmars feines Profil.
„Gnädigste Gräfin, Sie sind unerlaubt schön geworden in der Zeit, da ich Sie nicht gesehen habe. Ich weiß nicht, was jetzt aus Ihren Zügen spricht – jedenfalls fesselt es mich und hat das Verlangen in mir geweckt, Ihre Züge im Bild festzuhalten. Leider höre ich aber eben von Ihrem Herrn Gemahl, dass Sie Montag schon abreisen wollen.“
Lächelnd wandte sich Dagmar nach ihm um. „Es braucht Sie nicht zu betrüben, Herr Hollmann, dass wir abreisen. Wenn Sie mich malen wollen, so begegnen sich unsere Wünsche. Ich möchte von Ihnen gemalt werden.“
Werner Hollmann strahlte Dagmar mit einem faszinierenden Blick an. Er wusste seine Augen gut zu gebrauchen. Sie hatten ihm schon zu manchem Sieg über Frauenherzen verholfen.
„Wirklich, gnädigste Gräfin? Sie beglücken mich!“, sagte er leise und schmeichlerisch.
Sie neigte unbefangen lächelnd das Haupt. „Wir – mein Mann und ich – sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen den Vorschlag zu machen, dass Sie bald nach Taxemburg kommen möchten, um uns zu porträtieren – auch meinen Mann. Die Bilder sollen in die Ahnengalerie kommen.“
Werner Hollmanns Augen leuchteten noch mehr. Mit einer ausdrucksvollen Gebärde nahm er ihre Hand und presste inbrünstig seine Lippen darauf.
„So soll mein heißester Herzenswunsch in Erfüllung gehen? Wie soll ich Ihnen danken, gnädigste Gräfin?“
Dagmar blieb ganz unberührt von dem Zauber, den Hollmann sonst auf Frauenherzen auszuüben pflegte. Sie war dagegen gefeit. Unbefangen lächelnd sah sie ihn an. „Danken Sie mir dadurch, dass Sie ein gutes Bild von mir malen. Wann werden Sie Zeit haben, nach der Taxemburg zu kommen?“
„Wenn Sie wünschen, jeden Tag. Ich bin, wie Sie sehen, soeben mit dem Porträt der Prinzessin Isabella fertig geworden und bin durch neue Aufträge noch nicht gebunden. Bestimmen Sie also, wann ich kommen soll, ich stehe zu Ihrer Verfügung. Und es gibt jetzt nur eine lockende Aufgabe für mich: Sie zu malen und Ihren ganzen unwiderstehlichen Zauber im Bild festzuhalten.“
Und wieder führte er ihre Hand mit Inbrunst an seine Lippen.
Graf Günter war von den anderen Herrschaften im Gespräch festgehalten worden, aber er sah unruhig zu den beiden hinüber. Das Gesicht seiner Frau konnte er nicht sehen, aber Werner Hollmanns faszinierende Blicke und seine schmeichlerische Art entgingen ihm nicht. Als der Maler jetzt Dagmars Hand so inbrünstig küsste, trat er schnell heran.
„Ich habe soeben mit Herrn Hollmann über unsere Porträts gesprochen, Günter. Er kann sofort an die Ausführung des Auftrags gehen, da er momentan frei ist“, sagte Dagmar ruhig.
„So ist es, Herr Graf, Sie können über mich verfügen. Ich freue mich sehr, zwei so interessante Persönlichkeiten im Bild festhalten zu dürfen. Ihr Kopf reizt mich ebenso wie der Ihrer Frau Gemahlin“, fügte Hollmann hinzu.
Er war jetzt einige Nuancen weniger feurig als zuvor, da er mit Dagmar allein sprach.
Graf Günter ärgerte sich über sich selbst, dass er so voll Unruhe war. „Wahrhaftig, ich bin eifersüchtig auf jeden Mann, der sich meiner Frau nähert. Was soll das heißen?“
Und sie bezwingend sagte er höflich: „Also gut, Herr Hollmann, wir erwarten Sie dann jeden Tag nach unserer Rückkehr nach der Taxemburg. Sie brauchen nur den Termin Ihrer Ankunft zu melden.“
Und der Tag wurde sogleich festgesetzt. Das gräfliche Paar blieb noch einige Minuten im Atelier des Künstlers. Dann verabschiedete es sich. Und wieder presste Werner Hollmann Dagmars Hand an seine Lippen. Günter sah es, und ihm war, als müsse er seine Frau von ihm zurückreißen.
***
Am Morgen reiste das Ehepaar ab.
Sie hatten sich kaum zu Hause wieder eingelebt, als ganz unangemeldet Dagmars Vater kam – nur auf zwei Tage. Er wollte nur einen genauen Bericht haben, wie die Hoffestlichkeiten verlaufen waren.
Mit dem Bericht war er sehr zufrieden, und da sich das junge Paar bemühte, ihm eine heitere, zufriedene Stimmung vorzutäuschen, sagte er vor der Abreise zu Günter, als er mit ihm allein war: „Ich freue mich, dass eure Ehe so friedlich und harmonisch geworden ist. So habe ich doch Recht behalten. Denke dir, Dagmar sträubte sich erst entschieden gegen diese Ehe. Sie wollte sich weigern, und ich musste ziemlich rigoros vorgehen. Ich hatte sogar Sorge, sie würde dir im letzten Moment ihr Ja verweigern. Aber nachdem sie dich gesehen hatte, war der heimliche Widerstand besiegt, das fühlte ich. Sie willigte ohne weiteres Widerstreben ein. Na, und ich denke, ihr könnt beide recht zufrieden miteinander sein.“
Über diese Worte musste Günter viel nachdenken.
Sie hatte sich erst geweigert. Also hatte es sie nicht gelockt, Gräfin Taxemburg zu werden.
Aber warum war sie dann gleich einverstanden gewesen, als er sich um ihr Jawort bewarb?
Darüber gewann er keine Klarheit. Und wieder fiel ihm ein, wie verlegen er sie eines Tages über den Briefen gefunden hatte, die sie in der Kassette verbarg.
Was waren das für Briefe? Warum verbarg sie sie so ängstlich vor seinen Blicken?
War in der Vergangenheit etwas zwischen ihr und Werner Hollmann gewesen – waren die Briefe von ihm?
Er biss die Zähne wie im Kampf aufeinander. Und er wurde immer unruhiger, je näher der Tag kam, an dem Werner Hollmann in Taxemburg eintreffen sollte.
Als Hollmann dann aber wirklich seinen Einzug in Taxemburg hielt, gab er sich so harmlos vergnügt, dass Günter einen Teil seines Grolls schwinden fühlte.
Dagmar begegnete ihm ruhig und unbefangen, und Hollmann machte ihr in ihres Gatten Gegenwart kaum noch den Hof.
So atmete Günter auf und schalt sich, dass er Hirngespinsten nachgehangen hatte.
Wenn Dagmar freilich mit Hollmann allein war, wenn sie ihm zu ihrem Bild saß, dann hatte er sein schmeichlerisch-faszinierendes Wesen, das die meisten Frauen zu berücken pflegte, und er sprach in einem Ton zu ihr, der verführerisch sein sollte.
Dieser Ton blieb aber für Dagmar völlig ungefährlich. Sie parierte ihn mit einer leichten Schelmerei, die allerdings die jäh emporgeflammte Leidenschaft des Males noch höher auflodern ließ.
War Hollmann aber in seine Arbeit vertieft, dann pflegte er in ein langes Schweigen zu verfallen. Trotz aller Eitelkeit und allem Leichtsinn war ihm seine Kunst heilig. Er war mit allen Sinnen bei seiner Arbeit, und deshalb schuf er immer Gutes. Wurde er still, dann schwieg auch Dagmar. Und dann flogen ihre Gedanken in sehnsüchtiger Träumerei zu ihrem Gatten. Und diesen Ausdruck, der ihre Züge so weich machte, hielt Hollmann im Bild fest. Er war immer da, wenn er ihn brauchte, denn er brauchte nur zu schweigen, um ihn hervorzulocken. Dagmar schrak dann immer erst aus ihren sehnsüchtigen Träumen auf, wenn Hollmann Pinsel und Palette hinlegte, um eine Pause zu machen, oder wenn Günter eintrat.
Er kam sehr oft, nicht gerade zu Hollmanns Erbauung. Aber er durfte Dagmars Bild nicht ansehen, durfte nicht hinter die Staffelei treten.
„Ich zeige meine Bilder immer erst dann, wenn sie fertig sind, sonst hat der Beschauer keinen richtigen Eindruck davon. Wenn man ein Bild entstehen sieht, kann man kein Urteil darüber haben, erst wenn es fertig ist“, hatte er gesagt.
Und er verhüllte jedes Mal, wenn er die Arbeit unterbrach, das werdende Gemälde.
Er hatte zu gleicher Zeit auch Graf Günters Porträt angefangen und arbeitete, je nach Stimmung oder Gelegenheit, an dem einen oder anderen Gemälde.
Als Hollmann ungefähr eine Woche in Taxemburg weilte, traf auch Prinz Ludwig ein. Er kam ohne jedes weitere Gefolge außer seinem Adjutanten, dem Freiherrn von Lebach, und seinem Kammerdiener.
Prinz Ludwig war in glänzender, fast übermütiger Laune. „Ich habe mich auf den Aufenthalt hier gefreut wie ein Schulbub auf die Ferien, gnädigste Gräfin, lieber Graf. Machen Sie sich darauf gefasst, dass ich vor Freude allerlei Torheiten anstelle. Herr von Lebach sträuben sich vor Entsetzen schon die Haare. Aber er wird es nicht ausplaudern, wenn ich einmal ein wenig über die Stränge schlage“, sagte er lachend, nachdem er begrüßt worden war.
Dagmar machte mit entzückender Grazie die Honneurs als Gastgeberin. Und es war zweifellos, dass alle vier Herren, Herrn von Lebach nicht ausgeschlossen, ihrem Zauber erlegen waren.
Prinz Ludwig war überrascht, den Maler Hollmann in Taxemburg anzutreffen. Aber es störte ihn nicht in seinem Behagen.
Als er hörte, dass Hollmann Graf und Gräfin Taxemburg malte, sagte er: „Sie Glückspilz, darum könnte ich Sie beneiden! Von Amts wegen dürfen Sie stundenlang ganz ungeniert die gnädigste Gräfin anschauen, und kein Mensch darf es Ihnen verbieten. Es tut mir Leid, dass ich nicht Maler bin.“
Das sagte er mit so drolligem Humor, dass selbst Günter lachen musste. Überhaupt merkte er bald, dass ihm von Prinz Ludwig keine Gefahr drohte. Der Prinz zeigte zwar unverhohlen, wie sehr er Dagmar bewunderte, er erwies ihr ritterliche Artigkeiten und machte ihr Komplimente, aber seine Verehrung blieb immer in den Grenzen der Wohlerzogenheit. Freilich, eifersüchtig war Günter darum doch.
***
Die Wochen gingen schnell dahin, der Frühling stand in voller Blüte, und vor Dagmars Augen breitete sich ihr Reich täglich in größerer Schönheit aus. Ihr schönheitstrunkenes Auge feierte andächtige Feste, wenn sie zu ihren Turmfenstern hinausschaute.
Werner Hollmann war fleißig bei der Arbeit. An Dagmars Porträt arbeitete er meist, wenn ihr Gemahl ausgeritten war. Und er tat alles, um Dagmars Gunst zu erobern. Je länger er auf Schloss Taxemburg weilte, umso heftiger schlugen die Wogen der Leidenschaft über ihm zusammen.
Es schien ihm zweifellos, dass er längst das erstrebenswerte Ziel erreicht haben würde, wenn Prinz Ludwig und sein Adjutant ihm nicht im Weg gewesen wären. Die beiden Herren waren oft im Atelier, wenn Dagmar Sitzungen hatte, und plauderten mit ihr, sofern Hollmann nicht gerade an ihrem Gesicht arbeitete. Dann verlangte er allerdings unbedingte Ruhe und trieb die Herren meist in die Flucht. Dagmar war froh, wenn die Herren zugegen waren, denn Hollmann wurde immer aggressiver in den Bemühungen um ihre Gunst, so dass sie das Ende der Sitzungen herbeisehnte.
Prinz Ludwig huldigte ihr freilich auch, aber es war doch ein großer Unterschied zwischen seinen und Hollmanns Galanterien. Der Prinz zollte ihr Bewunderung und Verehrung, aber er vergaß nicht einen Augenblick, dass sie die Frau eines anderen war. Hollmann dagegen schien das zuweilen zu vergessen, und ihm gegenüber musste sie immer auf der Hut sein.
Graf Günter vertraute dem Prinzen unbedingt, zumal dieser ihm eines Tages vertraulich mitteilte, dass er, wenn er die Taxemburg verließ, an einen befreundeten Hof zur Brautschau reisen würde.
Werner Hollmann erschien Günter aber immer gefährlicher. Mit dem sicheren Instinkt der Eifersucht merkte er, dass Hollmann in eine tiefe Leidenschaft für Dagmar verstrickt war. Wie Dagmar dazu stand, wusste er nicht, er konnte es nicht ergründen. Aber es genügte ihm schon, zu wissen, dass sie täglich stundenlang in seiner Gesellschaft war, um ihn qualvoll zu beunruhigen. Und sein einziger Trost war die Anwesenheit des Prinzen, der ja meist zu gleicher Zeit in Dagmars Gesellschaft weilte, wenn er selbst draußen auf den Feldern war.
Dann aber musste der Prinz abreisen, er konnte nicht länger bleiben, so gern er es auch getan hätte. Er musste programmmäßig an dem befreundeten Hof eintreffen. Seufzend fügte er sich in sein Schicksal.
Als er sich von seinen Gastgebern verabschiedete, sagt er herzlich: „Ich hoffe, dass es nicht das letzte Mal gewesen ist, dass ich in Ihrem Haus gastliche Aufnahme fand, gnädigste Gräfin, lieber Graf. Ich werde immer gern an diese schönen Tage zurückdenken, die Sie mir hier bereitet haben.“ Und er küsste Dagmar verehrungsvoll die Hand und schüttelte die des Grafen herzlich.
„Wir hoffen und wünschen, dass Hoheit uns recht bald wieder die Ehre und das Vergnügen geben“, erwiderte Günter.
Prinz Ludwig atmete tief auf. „Sobald ich mich wieder einmal freimachen kann. In nächster Zeit ist freilich keine Aussicht dazu vorhanden. Aber vielleicht habe ich später einmal wieder Zeit und Gelegenheit. Und jedenfalls hoffe ich darauf, meine verehrten Gastgeber nächsten Winter wieder in der Residenz zu sehen. Versprechen Sie mir das, gnädigste Gräfin?“
Herzlich sah ihm Dagmar in die Augen, aus denen ehrliche Betrübnis über seinen Abschied herausleuchtete. „Irgendwo in der Welt werden wir uns wiedersehen, Hoheit“, sagte sie. Er küsste ihr nochmals die Hand. Dann wandte er sich an Hollmann. „Leben Sie wohl, Meister Hollmann! Ich hoffe, dass es mir vergönnt sein wird, eines Tages die Porträts der gräflichen Herrschaften hier in der Ahnengalerie bewundern zu dürfen. Sie haben mir ja jeden Blick darauf verwehrt, aber bei Ihrer bekannten Meisterschaft ist es zweifellos, dass die Porträts vorzüglich werden. Ich sehe Sie wohl jedenfalls in der Residenz wieder.“
Hollmann verneigte sich. „Es wird mir eine hohe Ehre sein, Hoheit.“
„Werden Sie noch lange auf der Taxemburg bleiben?“
„Drei bis vier Wochen werde ich noch brauchen, Hoheit, um meine Arbeit zu beenden.“
„Dann haben Sie noch beneidenswerte Wochen vor sich. Auf Wiedersehen also in der Residenz!“
Hollmann verneigte sich tief und verabschiedete sich dann von Herrn von Lebach, während Prinz Ludwig noch einmal die Hand des Grafen drückte und die seiner Gattin an die Lippen führte.
Mit einem resignierten Blick sah er noch einmal in Dagmars schönes Gesicht. Dann bestieg er das Auto und fuhr gleich darauf mit Herrn von Lebach davon.
Das gräfliche Paar stand unter dem Schlossportal und sah dem davonrollenden Wagen nach.
Dagmar wandte sich dann an ihren Gatten. „Fandest du nicht, dass Prinz Ludwig etwas seltsam Resigniertes und Trauriges in seinen Augen hatte?“
Günter neigte das Haupt. „Ja, der Abschied fiel ihm schwer. Er darf sich ja nicht oft als Mensch unter Menschen fühlen, wie er es hier getan hat. Und außerdem – im Vertrauen will ich dir sagen, dass er jetzt auf Brautschau geht. Seine Verlobung mit Prinzessin Elisabeth ist beschlossene Sache. Und ich glaube, sein Herz gehört einer anderen Frau.“ Bei diesen Worten beobachtete Günter seine Frau scharf.
Sie aber sah unbefangen zu ihm auf. „Du glaubst, dass er eine unglückliche Liebe im Herzen trägt?“
Seine Augen ließen nicht von ihr. „Ja, ich glaube es. Hast du nichts bemerkt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, wie sollte ich! Kennst du die Dame, der sein Herz gehört?“
Er nickte. „Ja, ich kenne sie.“
„Kenne ich sie auch?“
„Gewiss, du kennst sie auch.“
„Nenne mir ihren Namen, Günter!“
Mit ernsten Augen sah er sie an. War sie wirklich so ganz unbefangen geblieben? Hatte sie nicht bemerkt, dass ihr Prinz Ludwig eine stille, verhaltene Neigung entgegengebracht hatte?
„Ahnst du es wirklich nicht, Dagmar?“
Sie schüttelte erstaunt den Kopf.
Da fasste er sie am Arm und sah ihr in die Augen. „Du bist es selbst.“
Sie zuckte zusammen. „Günter!“
Er nickte nur.
Da atmete sie auf und schüttelte lächelnd den Kopf. „Beinahe hättest du mich erschreckt. Aber du irrst. Er hegte Sympathie für mich und hat mir Artigkeiten erwiesen. Aber das ist auch alles. Wenn er mich liebte, das müsste ich doch selbst am ehesten bemerkt haben.“
Er atmete tief auf. „Glaubst du nicht, dass man es sehr wohl verbergen kann, wenn man jemand liebt?“
Sie wurde glühend rot und sah an ihm vorbei. Hastig antwortete sie: „Das kann man wohl verbergen, aber – ich meine – wenn ich geliebt würde – das müsste ich fühlen. Nein, nein, ich bin sicher, dass du dich irrst.“
Er musste über ihren Eifer lächeln. „Jedenfalls ist Prinz Ludwig ein Mann, der mit einer aussichtslosen Neigung fertig wird.“
„Ich will hoffen und wünschen, dass er mit Prinzessin Elisabeth glücklich wird. Er verdient es, denn er ist ein guter, edler Mensch.“
„Ja, das ist er gewiss.“
Nach diesem Gespräch trennten sie sich in der Schlosshalle, um ihre Zimmer aufzusuchen.
***
Es war einige Wochen später.
Dagmar hatte mit Werner Hollmann eine Partie Tennis gespielt. Ihr Gatte war seit dem frühen Morgen draußen auf den Feldern.
Als sie die Schlosshalle betraten, meldete der Diener, dass Graf Günter bereits zurückgekehrt sei.
Dagmar gab Weisung, dass das Frühstück in einer Stunde zu servieren sei. Dann verabschiedete sie sich von Hollmann und begab sich in ihre Zimmer, um sich umzukleiden. Sie vertauschte das schicke, weiße Tenniskostüm mit einem Hauskleid von weicher königsblauer Seide, das sie vorzüglich kleidete.
Als sie fertig war, ging sie, um ihren Gatten in seinem Arbeitszimmer aufzusuchen.
Sie hatte mit der Frühpost ein Schreiben ihres Vaters bekommen, dessen Inhalt sie mit ihrem Gatten besprechen wollte, ehe sie mit Hollmann beim Frühstück zusammentrafen.
Da sie ihren Gatten in seinem Arbeitszimmer vermutete, trat sie dort ein. Aber das Zimmer war leer. Doch stand der Schreibtisch offen, und als sie die Tür öffnete und schloss, trieb der durch das geöffnete Fenster eindringende Wind ein Briefblatt vom Schreibtisch ins Zimmer auf den Fußboden. Gerade zu ihren Füßen fiel es hin. Sie bückte sich, um es aufzuheben, und da gewahrte sie, dass ihr von dem Briefblatt ihre eigene Handschrift entgegenleuchtete.
Zuerst erschrak sie. Wie kam ein Blatt mit ihrer Handschrift in Günters Zimmer auf seinen Schreibtisch? Aber dann musste sie über ihren Schreck lächeln, denn klar und deutlich sah sie unter dem Brief stehen: Eine Namenlose.
Das Herz klopfte ihr aber doch unruhig in der Brust. Also Günter bewahrte auch noch immer die Briefe einer Namenlosen auf! So waren sie ihm doch von Wert gewesen. Gerade als sie sich mit dem Briefblatt wieder aufrichtete, trat Graf Günter ein.
Überrascht sah er auf seine Frau, die er hier nicht vermutete, und sah das Briefblatt in ihrer Hand.
Sie reichte es ihm mit jähem Erröten. „Es flog von deinem Schreibtisch, als ich die Tür öffnete“, sagte sie.
Er nahm den Brief und legte ihn zu den anderen, die noch auf der Schreibtischplatte lagen. Er hatte in seinem Schreibtisch gekramt, um etwas zu suchen. Dabei waren ihm die Briefe wieder in die Hände gefallen, und er hatte einen davon gelesen. In dem Moment war er von seinem Kammerdiener abgerufen worden, und nun, da er wieder eintrat, sah er den Brief in Dagmars Hand.
Er verbarg aber die Briefe nicht ängstlich vor ihren Blicken, sondern ließ sie liegen. „Was verschafft mir das seltene Vergnügen, dich bei mir zu sehen?“, fragte er.
„Ich wollte dir einen Brief von Papa zeigen und einiges darüber mit dir besprechen, ehe wir zum Frühstück gehen. Deshalb suchte ich dich auf.“
Er schob ihr artig einen Sessel zu. „Bitte nimm Platz! Hast du dich gut unterhalten in meiner Abwesenheit? Ich sah dich mit Hollmann vom Tennisplatz kommen.“
„Ja, wir haben gespielt. Aber Hollmann ist kein so guter Partner wie Prinz Ludwig und Herr von Lebach.“
„Nun, das Rakett ist schließlich keine Palette. Aber wenn Herr Hollmann auch kein guter Tennisspieler ist, so ist er doch sicher ein guter Gesellschafter.“
„Ja, das ist er. Und es wird sehr still und einsam bei uns werden, wenn auch er abgereist sein wird. Aber nun zu Papas Brief. Willst du ihn bitte gleich lesen, damit du weißt, um was es sich handelt?“
Graf Günter nahm den Brief und las ihn. Es handelte sich um verschiedene Wünsche, die ihm Dagmar unterbreitet hatte. So wollte sie im Dorf gern ein neues Schulhaus bauen lassen, und das alte, das nicht mehr ausreichte, sollte ein Asyl für alte Dorfarme werden.
Ihr Vater ging auf ihre Wünsche ein, wollte aber dies und das anders haben als Dagmar.
Sie besprachen nun alles, und Günter sagte lächelnd: „Du bist eine gute und umsichtige Herrin.“
Lächelnd sah sie ihn an. „Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand.“
Als sie fertig waren, begaben sie sich zusammen zum Frühstück. Es wurde in einem kleineren Speisezimmer serviert. Hier trafen sie mit Werner Hollmann zusammen.
Während des Frühstücks fragte Hollmann: „Können Sie mir nach dem Frühstück noch eine Stunde sitzen, Herr Graf?“
„Gewiss, ich stehe zur Verfügung, wenn Sie mich brauchen“, sagte er.
So gingen die beiden Herren nach dem Frühstück ins Atelier.
Sie sprachen nur belanglose Dinge, und als Hollmann dann über der Arbeit saß, wurde es ganz still. Der Maler vergaß über der Arbeit alles, auch dass der Graf Günter den Besitz seiner Frau neidete. Er malte mit einem verbissenen Eifer, und Günter bezwang seine Unruhe und rührte sich kaum, um die Arbeit nicht zu unterbrechen.
Die Stunde war noch nicht ganz um, da legte Hollmann Pinsel und Palette zur Seite und erhob sich. „So, Herr Graf, das war für Sie die letzte Sitzung. Ihr Porträt ist fertig. Und das Ihrer Frau Gemahlin wird im Lauf der kommenden Woche auch fertig werden.“
Graf Günter erhob sich und reckte seine Gestalt. Das stillsitzen war für den allzeit tätigen Mann eine schwere Aufgabe gewesen. „Darf ich sehen?“, fragte er.
Hollmann rückte an der Staffelei, damit das Bild für den Beschauer die rechte Beleuchtung erhielt. „Wenn Sie gestatten, lasse ich auch Ihre Frau Gemahlin herüberbitten, damit sie ihr Urteil abgeben kann.“
Graf Günter nickte. „Tun Sie das, Herr Hollmann.“
Dieser klingelte und gab dem eintretenden Diener Bescheid.
Graf Günter war inzwischen vor sein Porträt getreten, und er musste gestehen, dass es ein Meisterwerk war. Das sprach er auch ehrlich aus. Trotz seines geheimen Grolls gegen Hollmann konnte er ihm gerechterweise seine Anerkennung nicht versagen.
Als Dagmar kam und vor das Bild trat, leuchteten ihre Augen auf. Stumm stand sie lange davor. Sie war im Innersten ergriffen. Wie wunderbar hatte Hollmann den eigenartigen, düster schmerzlichen Ausdruck der Augen, den herben Zug um den ausdrucksvollen Mund getroffen!
Erregt wandte sie sich endlich nach dem Maler um und reichte ihm impulsiv die Hand. „Meister! Ich finde keine Worte, um auszudrücken, wie ich Ihre Kunst bewundere. Sie haben ein herrliches Werk geschaffen.“
Werner Hollmann lächelte. Es lag viel Eitelkeit und Arroganz in diesem Lächeln.
„Zufrieden, gnädigste Gräfin?“, fragte er.
Sie neigte aufatmend das Haupt und vergaß in diesem Moment über ihre Bewunderung alles, was sie sonst an dem Maler störte. „Ich finde das Porträt wundervoll. Du nicht auch Günter?“
Graf Günter brannte vor Eifersucht, weil er sich Dagmars Bewegung ganz falsch deutete. Keine Ahnung sagte ihm, dass sie sich hauptsächlich darüber freute, ein so gutes Porträt von ihrem Gatten zu besitzen, das sie nun ungestört betrachten konnte, so oft sie wollte.
Aber trotz seiner eifersüchtigen Qual musste er der Wahrheit die Ehre geben. „Ich habe Herrn Hollmann bereits gesagt dass er ein Meisterwerk geschaffen hat. Ich hoffe und wünsche nur, dass dein Porträt ebenso gut ausfällt.“
„Auch darüber werden Sie bald ein Urteil fällen können, Herr Graf. Nur noch wenige Tage Geduld“, sagte Hollmann.
Er verriet nicht, dass Dagmars Porträt ebenfalls bereits fertig war. Das hielt er geheim, weil er nicht von Taxemburg abreisen wollte, ehe er sein Ziel, die schöne Gräfin zu erobern, erreicht hatte.
Am Nachmittag dieses Tages hatte Dagmar wieder eine lange Sitzung im Atelier. Sie ahnte nicht, dass Hollmann nur zum Schein Pinsel und Palette in den Händen hielt. Er machte von seinem Recht als Maler, sein Modell zu betrachten, fleißig Gebrauch und plauderte, gegen seine Gewohnheit, unaufhörlich mit ihr.
„Stört Sie heute das Sprechen nicht, Meister Hollmann?“, fragte Dagmar.
„Nein, gnädigste Gräfin, ich arbeite nur noch an Ihrem Gewand. Dabei kann ich mir den Genuss gestatten, mit Ihnen zu plaudern.“
„Darf ich Sie wohl einen Augenblick stören – ich habe eine Bitte an Sie.“
Er sah sie feurig an. „Befehlen Sie über mich, gnädigste Gräfin.“
„Also bitte, stellen Sie das Porträt meines Gatten so, dass ich es ansehen kann, während ich Ihnen sitze.“
Mit einem tiefen Seufzer legte Hollmann Pinsel und Palette zur Seite, um ihren Wunsch zu erfüllen. Dabei sagte er mit verhaltener Erregung: „Eigentlich sollte ich das nicht tun. Sie stellen da eine starke Zumutung an mich.“
Erstaunt sah sie ihn an. „Wie meinen Sie das?“
„Oh, ich meine, Ihr Herr Gemahl ist so unerhört vom Schicksal begünstigt, dass ich es ihm missgönne, dass Ihre Augen auf seinem Bild ruhen.“
Groß sah sie ihn an. „Ich verstehe Sie nicht.“
„Steht das Bild so gut?“, fragte er statt aller Antwort.
„Ich danke Ihnen – ja, so steht es gut.“
Sie hatte ihn sehr wohl verstanden und zeigte ihm nun eine kühle, unnahbare Miene …
***
Es war zwei Tage später.
Ein herrlicher Frühlingsmorgen war es, die Sonne schien sommerlich warm, und die Luft war gesättigt vom Blumenduft und Sonnenschein.
Dagmar hatte den Frühstückstisch auf der Schlossterrasse decken lassen. Sie stand an der Brüstung der Terrasse und sah mit leuchtenden Augen hinab ins Tal.
Wie schön, wie wunderschön war ihre Heimat – ihre Heimat.
Wie trunken vor Entzücken breitete sie die Arme aus.
In diesem Moment tauchte Hollmann neben ihr auf. „Wundervoll entzückend“, flüsterte er heiser vor Erregung, ihre schlanke, lichte Erscheinung mit glühenden Augen betrachtend.
Sie schrak zusammen und ließ die Arme sinken. „Ach Sie sind es, Meister Hollmann!“
Er atmete tief. „Ja, gnädigste Gräfin, Ihr ergebenster Diener. So möchte ich Sie noch einmal malen – so, wie Sie eben mit ausgebreiteten Armen nach mir ausstreckten.“
Dunkle Röte war unter seinen Worten in ihr Gesicht gestiegen. Sie warf den Kopf stolz zurück. Sein brennender Blick beleidigte sie. „Herr Hollmann, Sie haben als Künstler das Vorrecht einer kühnen Fantasie. Aber Sie haben nicht irgendeines Ihrer Modelle vor sich, und ich muss Sie bitten, sich nicht im Ton zu vergreifen, wenn ich nicht vergessen soll, dass Sie ein Gast unseres Hauses sind“, sagte sie abweisend.
Sein Gesicht wurde fahl. „Verzeihung, meine Zunge ging mit meinem Herzen durch, gnädigste Gräfin“, murmelte er.
Sie sah in demselben Moment ihren Gatten auf die Terrasse heraustreten und ging nicht weiter auf das Thema ein.
Graf Günter war bereits im Reitanzug, weil er nach dem Frühstück ausreiten wollte.
Sie bezwang sich und blieb ruhig neben Hollmann stehen, denn sie fürchtete, Günter könnte sonst erraten, dass er ihr zu nahe getreten war und es könnte dann zu unliebsamen Auseinandersetzungen kommen.
Graf Günter begrüßte seine Frau mit einem Handkuss und sagte auch Hollmann guten Morgen.
Sie ließen sich am Frühstückstisch nieder, und ein Diener brachte die Platten herbei.
Dagmar überlegte, wie sie heute einem Alleinsein mit Hollmann entgehen konnte, ohne aufzufallen. Und endlich kam ihr ein rettender Gedanke. Sie sagte aufatmend: „Heute ist wundervolles Wetter. Ich habe große Lust, auszureiten und möchte dich auf die Felder begleiten, Günter, wenn du mich mitnehmen würdest.“
Günter hatte, jeden Morgen schon, mit schwerem Herzen daran gedacht, dass er seine Frau nun wieder mit dem Maler allein lassen müsse. Deshalb klopfte ihm das Herz rebellisch bei ihren Worten. „Es würde mir natürlich eine große Freude sein, wenn du mich begleiten wolltest“, sagte er.
„Du müsstest aber warten, bis ich mein Reitkleid angezogen habe.“
Günter lächelte froh, wie er es jetzt nur selten tat. „Ich weiß, dass du dich schnell umzukleiden pflegst, und warte gern.“
Dagmar wandte sich nun scheinbar unbefangen zu Hollmann. „Sie muss ich dann freilich sich selbst überlassen.“
Er verneigte sich und sagte: „Ich werde den Vormittag benutzen, um fleißig an Ihrem Porträt zu arbeiten“, entgegnete er beherrscht und sah sie dabei demütig flehend an, so dass sie ihren Groll schwinden fühlte. Schließlich war es ein Künstler, den man nicht mit demselben Maßstab messen durfte wie einen Alltagsmenschen. Seine Fantasie war mit ihm durchgegangen, und er würde sie, nach der Abfuhr heute, in Zukunft im Zaum halten.
Jedenfalls war sie aber froh, dass sie mit Günter ausreiten konnte. Nachdem sie das Frühstück eingenommen hatte, eilte sie in ihr Ankleidezimmer. „Schnell mein Reitkleid, Jenny!“, sagte sie zu ihrer Zofe.
Eilig half ihr Jenny beim Umkleiden. In wenigen Minuten war Dagmar fertig und eilte hinab.
Günter stand wartend bei den Pferden und sah ihr leuchtenden Blicks entgegen. Er hob sie in den Sattel, legte sorgsam das Reitkleid in die richtigen Falten und schob die Steigbügel fest über die schmalen, in Reitstiefeln steckenden Füße. Dann schwang er sich selbst in den Sattel, und sie ritten davon, ohne auf Hollmann zu achten, der ihnen vom Atelierfenster aus mit glühenden Augen nachschaute.
Als sie am Fuß des Schlossbergs angelangt waren, hatten sie ein schnelleres Tempo angeschlagen, und schließlich jagten sie nebeneinander her wie der Sturmwind. Lachend hielten sie ein, als sie aus dem Wald aufs freie Feld hinauskamen, wo überall ihre Leute bei der Arbeit waren.
Sie ritten von einer Gruppe zur anderen, und Dagmar freute sich, dass Günter so heiter erschien. Sie merkte, dass er sehr gut mit den Leuten stand, die vertrauend zu ihm aufsahen. Freundlich sprach sie selbst hier und da mit den Arbeitern und ließ sich allerlei erklären, was mit ihrer Arbeit zusammenhing.
Als Günter seine Geschäfte erledigt hatte, trat das gräfliche Paar den Rückweg an. Langsam ritten sie jetzt nebeneinander hin, jeder heimlich bestrebt, den Weg recht lang auszudehnen.
Sie plauderten angeregt miteinander, und im Lauf des Gesprächs sagte Günter: „Herrn Hollmann wird heute die Zeit wohl recht lang werden, da du ihn seinem Schicksal überlassen hast.“
Lächelnd zuckte Dagmar die Achseln.
„Mag sein. Aber der Morgen war zu verlockend für einen Ausflug zu Pferd. Wenn ich wüsste, dass es dir nicht störend ist, möchte ich dich bei solch schönem Wetter öfter begleiten.“
Seine Augen strahlten auf. „Es würde mich sehr freuen, Dagmar.“
„Du müsstest mir aber offen sagen, wenn ich dich einmal in deinen Dispositionen störe.“
„Du wirst mich bestimmt niemals stören. Und ich freue mich wirklich sehr auf deine Begleitung. Zuweilen sind diese langen einsamen Ritte sehr langweilig. Aber wird es dir nicht zu strapaziös sein, stundenlang zu Pferd zu sitzen?“
„Ich glaube nicht. Jedenfalls kann ich es ausprobieren.“
Er sah sie forschend an. „Aber Herr Hollmann?“
Sie wurde verlegen, weil sie an Hollmanns Kühnheit von heute Morgen dachte. Er sah es und wurde wieder unruhig.
Dagmar sagte sich, dass es ihrem Gatten nicht auffallen dürfe, dass sie Hollmanns Gesellschaft tunlichst meiden wollte. Deshalb erwiderte sie hastig. „Hollmann reist ja bald ab. So lange er noch hier ist, kann ich auf die Ritte verzichten. Aber wenn er fort ist, begleite ich dich gern.“
Es flammte rot vor seinen Augen, und er riss an den Zügeln, dass sich sein Pferd hoch aufbäumte.
Das brachte ihn zur Besinnung. Wohin verlor er sich mit seiner törichten Eifersucht? Noch hatte ihm Dagmar keinen Grund dazu gegeben, und er musste sich an ihr Wort halten, dass sein Name für sie anvertrautes Gut war, das sie hochhalten würde. Wenn er Grund zur Eifersucht hätte, dann wäre sie doch zu ihm gekommen und hätte ihm gesagt, dass sie Hollmann liebe.
Freilich, solch ein Geständnis mochte schwer sein für eine Frau. Aber Dagmar war ein stolzer, wahrhafter Charakter. Sie würde sich nicht zu Heimlichkeiten und Betrug erniedrigen. Aber vielleicht war sie selbst noch nicht mit sich im klaren, ob sie Hollmann liebte. Oder aber – wenn sie ihn schon lange liebte, wenn jene Briefe von ihm waren, die sie vor ihm versteckt hatte, würde sie dann jetzt noch den Mut finden, zu ihm zu kommen und ihm zu sagen: Ich habe dich getäuscht, ich wollte mit einer Neigung fertig werden, die ich vor dir verschwieg. Aber sie ist wieder aufgewacht, seit ich den Mann wiedergesehen habe, dem meine Liebe gehörte.
So quälte er sich unsagbar – mit Hirngespinsten. Und still und ernst kehrten sie beide von ihrem Ausritt wieder heim.
***
Am nächsten Vormittag spielte Dagmar wieder Tennis mit Hollmann. Sie tat es einesteils, um ihm ihre Verzeihung zu beweisen, andernteils, damit es Günter nicht auffallen sollte, dass sie Hollmann gegenüber eine gewisse Reserve für nötig hielt.
So ging sie mit ihm zum Tennisplatz.
Er spielte aber heute sehr schlecht.
Dagmar schalt ihn einige Male lachend aus. Und schließlich ließ sie das Rakett sinken und sagte: „Sie spielen heute ganz schauderhaft, Herr Hollmann. Es ist besser, wir beenden das Spiel und machen noch eine Promenade durch den Park.“
Er war sogleich bereit. „Verzeihung, Gnädigste Gräfin, ich bin in schlechter Stimmung“, sagte er, als er ihr in den weißen Flauschmantel half, den sie nach dem Spiel immer anzulegen pflegte.
Dagmar vergrub die Hände in den tiefen Taschen des Mantels, und während ein Diener die Bälle aufsammelte und den Platz in Ordnung brachte, ging sie neben Hollmann den gepflegten Parkweg entlang. „Es tut mir Leid, dass Sie in schlechter Stimmung sind, Meister Hollmann“, sagte sie.
„Ich bin es, weil ich mir Ihre Ungnade zugezogen habe. Das macht mich sehr unglücklich“, erwiderte er.
Sie wollte keine Verstimmung aufkommen lassen. „Sie werden es nicht wieder tun“, entgegnete sie mit einem verzeihenden Lächeln.
Dieses Lächeln erschien ihm sehr verlockend. Er deutete es sich nach seinen Wünschen. Tief seufzte er auf. „Das kann ich aber nicht versprechen, gnädigste Gräfin. Sie vergessen, dass ich Künstler bin. Alles Schöne entzückt mich – die Bewunderung geht mit mir durch, und ich wäge meine Worte nicht. So ist es mir gestern Morgen ergangen. Und Sie haben es mich bitter büßen lassen, dass ich Ihrer Schönheit huldigte.“
Sie lächelte. „Ich bin doch meines Erachtens sehr milde gewesen, eben, weil ich dem Künstler Rechnung trug.“
Er sah sie flehend an. „Bitte, bitte, zürnen Sie mir nicht wieder, wenn ich mich einmal vergesse. Ich hätte nicht nach der Taxemburg kommen dürfen.“
Sie wollte es ihm leicht machen. „Schnell genug werden Sie die Taxemburg vergessen haben. Künstler sind leicht entflammt und vergessen leicht.“
„Gnädigste Gräfin, ich werde die Taxemburg und seine schöne Herrin nie, niemals vergessen“, sagte er seufzend.
Lächelnd wandte sie sich ihm zu. „Seien Sie doch nicht so trübsinnig, verderben Sie uns nicht die letzten Tages Ihres Hierseins! Ich will ein gutes Andenken an Sie behalten.“
Wieder seufzte er. „Werden Sie zuweilen an mich denken?“
„Gewiss – mindestens so oft, wie ich die Bilder ansehe, die Sie gemalt haben.“
„Wissen Sie, dass es mich ein Stück Herzblut kosten wird, Ihr Bild herzugeben?“
„Oh, ich kann mir denken, dass es dem Künstler schwer fällt, sich von seinem Werk zu trennen.“
Wieder seufzte er. „Sie wollen mich nicht verstehen.“
Sie ging lieber nicht weiter auf das Thema ein, plauderte aber freundlich mit ihm. Sie merkte sehr wohl, dass er sich in eine Leidenschaft für sie verstrickt hatte. Er tat ihr Leid, und sie versuchte ihm darüber hinwegzuhelfen mit ihrer ruhigen Freundlichkeit. Und sie ahnte nicht, dass er sich ihre Güte ganz falsch auslegte.
Als sie ins Schloss zurückkehrten, war es Zeit, sich zur Mittagstafel umzukleiden. Dagmar begab sich in ihre Zimmer, wo die Zofe bereits alles zurechtgelegt hatte. Schnell kleidete sich Dagmar um.
Dann schritt sie hinunter in den Speisesaal.
Werner Hollmann und Günter traten gleich darauf ein.
Als nach Tisch der Mokka serviert wurde, sagte Hollmann bittend: „Gnädigste Gräfin, darf ich Sie bitten, mir heute Nachmittag noch eine Stunde zu sitzen? Ich nehme an, dass ich Sie das letzte Mal bemühen muss und hoffe, heute fertig zu werden.“
Dagmar sagte zu.
Gleich nach Tisch ging sie hinüber nach dem Atelier.
Hollmann kam ihr entgegen und führte ihre Hand an seine Lippen. „Meine Königin kommt zu ihrem Vasallen“, sagte er schmeichlerisch.
Sie antwortete nicht, schüttelte nur leise das Haupt und nahm ihre Stellung ein, die er ihr für das Bild vorgeschrieben hatte.
Hollmann nahm vor der Staffelei den Platz ein. Und während er sich den Anschein gab, an ihrem Bild zu malen, heftete er seinen Blick mit suggestiver Kraft auf ihr Antlitz.
Zu seiner geheimen Enttäuschung trat Graf Günter ein, nachdem sich Dagmar kaum zehn Minuten im Atelier befand. „Ich störe doch nicht, Herr Hollmann?“, fragte er.
Hollmann wünschte ihn ins Pfefferland. „Hoffentlich bleibt er nicht lange“, dachte er. Aber er sollte abermals enttäuscht werden. Günter nahm in einem Sessel Platz und sagte gelassen: „Sie sagten, dass das Porträt meiner Frau heute fertig wird. Den Moment möchte ich nicht versäumen. Deshalb bin ich gekommen.“
Hollmann biss sich auf die Lippen und zog sich hinter die Staffelei zurück. Er sah ein, dass Graf Günter jetzt nicht von der Stelle gehen würde, ehe das Bild nicht fertig war. Deshalb kürzte er die Sitzung ab. Es war kaum eine halbe Stunde vergangen, da trat er hinter der Staffelei vor, legte Pinsel und Palette beiseite und sagte aufatmend: „Ergebensten Dank, gnädigste Gräfin – ich bin fertig.“ Er drehte die Staffelei herum und machte eine einladende Handbewegung: „Nun, urteilen Sie, meine Herrschaften!“
Die beiden Gatten traten vor das Bild. Dagmar staunte. Hollmann hatte sich selbst übertroffen, das Gemälde war ihm wunderbar gelungen.
Graf Günter aber stand wie erstarrt. Mit großen Augen sah er das Gemälde an. Da stand Dagmar vor ihm, wie er sie in seinen geheimen Träumen sah. Der kühle, formelle Ausdruck war von ihrem gemalten Antlitz verschwunden. Der leise Schein eines süßen Lächelns lag um den schön gezeichneten Mund, und die Augen – sie sahen mit einem sehnsüchtigen Leuchten in holder Lebendigkeit aus dem Bild heraus.
Bis ins Innerste erschüttert sah Günter in dieses wundersame Frauenantlitz, und die Bewunderung über die Kunst des Malers ging unter in einer qualvoll brennenden Eifersucht.
Wie kam Hollmann dazu, Dagmar so zu malen? Sie musste sich ihm doch so gezeigt haben! Ihm hatte sie dieses süße Lächeln geschenkt, ihn hatte sie so angestrahlt mit diesem sehnsüchtigen Leuchten. Das war eine liebende Frau, eine mit allen Fasern ihres Seins liebende Frau, die ihm aus diesem Bild entgegensah. Der geniale Pinsel des Malers war zum Verräter geworden.
Wie ein vernichtender Blitz zuckte die Gewissheit durch seine Seele, dass Hollmann Dagmar liebte und von ihr geliebt wurde. Kein Zweifel war möglich.
Lange war es still im Atelier. Die drei Personen standen reglos vor dem Gemälde der Gräfin Dagmar.
Lebendig leuchtete das Bild aus dem Rahmen, als könne es jeden Moment heraussteigen. Die klassisch schönen Arme waren unbekleidet, die eine Hand lag auf der Lehne eines Sessels.
Es war alles mit verblüffender Naturtreue gemalt: die weichen Falten des Stoffes, die herrliche Rundung der Glieder und das holdselige Gesicht mit den sehnsüchtig strahlenden Augen.
Ein fieberhaftes Erschauern flog über Günters Gestalt. Das alles hatte der Maler mit seinen Blicken betasten dürfen. Stundenlang hatte er sich an diesem Anblick weiden dürfen. Und so hatte sie ihn angesehen, so hatte sie ihm zugelächelt.
Er grub die Fingernägel in die Handflächen. Und erschrocken fuhr er zusammen, als Dagmar jetzt neben ihm sagte: „Unser Verstummen mag Ihnen zeigen, Meister Hollmann, wie Ihr Werk auf uns wirkt. Aber Sie haben mir geschmeichelt. So schön bin ich doch in Wirklichkeit nicht!“
Mit einem glühenden Blick sah Hollmann in ihre Augen. „Ich habe Sie gemalt, gnädigste Gräfin, wie meine Augen Sie gesehen haben.“
Graf Günter war zumute, als müsse er sich auf Hollmann stürzen und ihn zu Boden schlagen. Er war wie vernichtet.
Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Er fühlte, dass er etwas über das Bild sagen musste, dass man ein Urteil von ihm erwartete. Aber die Worte wollten ihm nicht über die Lippen.
Er musste sie sich mühsam abringen. Und erst nach langer Zeit sagte er heiser: „Sie haben es meisterhaft verstanden, das wiederzugeben, was Sie gesehen haben. Aber nun, da ich das Bild gesehen habe, muss ich hinaus auf die Felder.“
Damit verabschiedete er sich hastig, wie auf der Flucht vor sich selbst, und eilte hinaus. Er konnte jetzt nicht bleiben, ohne seine Fassung zu verlieren.
Wie von Sinnen lief er in seine Zimmer, ließ sein Pferd vorführen und machte sich zum Ausreiten fertig. Er musste hinaus, die Wände der Taxemburg drohten ihn zu ersticken. Ihm war, als müsse er aufschreien in Not und Qual. Jetzt erst empfand er vollkommen, dass er Dagmar liebte. Und das Blut stieg ihm heiß zu Kopf und tanzte in roter Glut vor seinen Augen. Er hatte das Empfinden, dass er Hollmann erwürgen müsse in rasender Eifersucht. Nur schnell fort – hinaus – damit er sich Ruhe erjagte!
***
Als Graf Günter das Atelier verlassen hatte, sah Dagmar eine Weile unruhig hinter ihm her. Dabei achtete sie nicht auf Hollmann, der hinter ihr stand und sie mit seinen Augen fast verschlang. Sie sah nicht, wie seine Blicke begehrlich zu ihr herüberzüngelten.
Sich in einen Sessel niederlassend, der vor dem Bild stand, betrachtete sie es lange, ohne zu sprechen. Sie kam sich selbst ein wenig fremd vor, kannte sie sich doch selbst nicht mit diesem verträumten, sehnsuchtsvollen Lächeln.
Um sich von ihren Gedanken abzulenken, begann sie sich in die Einzelheiten des Gemäldes zu vertiefen und wandte sich dann an Hollmann. „Es ist erstaunlich, Meister, wie getreu Sie jedes Detail nachgebildet haben.“
Er trat näher an sie heran. „Also, Sie sind zufrieden, gnädigste Gräfin?“, fragte er heiser vor unterdrückter Erregung.
Sie achtete nicht auf ihn. „Zufrieden? Das ist viel zu wenig gesagt. Nur haben Sie mich viel schöner gemalt, als ich bin.“
„Glauben Sie?“, fragte er, dicht neben sie tretend.
„Ja, das glaube ich.“
Er atmete tief auf. „Sie kennen sich selbst noch nicht, Sie wissen nicht, wie gefährlich schön Sie sind, welchen Zauber Sie ausüben, welche Macht in Ihren Augen liegt. Man kann den Verstand darüber verlieren.“
Sie sah vorwurfsvoll zu ihm auf. „Herr Hollmann, wollen Sie mich vertreiben?“
Er presste die Hand auf seine Brust. „Ich lasse Sie nicht gehen nicht jetzt – nicht so – süßeste, holdeste Frau.“
Sie warf den Kopf stolz zurück. „Sie vergessen sich!“
Da lag er plötzlich vor ihr auf den Knien, umschlang ihren Oberkörper mit seinen Armen und hielt sie fest. „Dagmar, süße, angebetete Dagmar- gib deinen Widerstand auf – du weißt ja nicht, wie rasend ich dich liebe. Ich vergehe vor Sehnsucht nach deinen Lippen. Gib doch den Kampf auf, holde Frau! Ich liebe dich. Ich will dich lehren, wie heiß und süß die Liebe ist, will dich einhüllen in meine Leidenschaft. Du sollst die wahre Glückseligkeit der Liebe erst kennen lernen, die dir dein fischblütiger Gatte vorenthält. Süße Frau – süße holde Frau – ich verzehre mich. vor Leidenschaft und Sehnsucht nach dir. Küsse mich küsse mich – und wenn ich sterben soll – ich muss deine Lippen küssen.“
Und wie ein Rasender umklammerte er Dagmar, ihres Widerstandes nicht achtend. Sie bäumte sich vor Schreck und Grauen wild zurück, dass er ihre Lippen nicht berühren konnte und versuchte ihr Arme aus seiner Umschlingung zu befreien, um sich wehren zu können. Es gelang ihr nicht. Näher und näher kam er ihr mit seinem heißen Atem.
Verzweifelt fühlte sie ihre Kräfte schwinden. Aber ehe Hollmann ihre Lippen berühren konnte, wurde er von einer eisernen Faust emporgerissen. Und vor ihm stand Graf Günter, mit bleichem, entstellten Antlitz, dicke Zornesadern auf der Stirn. Er war eingetreten, als Hollmann Dagmar eben umschlungen hatte und hörte zum Teil dessen leidenschaftliche Worte. Dass er sie du nannte, ließ ihn glauben, dass bereits ein Einverständnis zwischen ihnen herrschte, obwohl er sah, dass Dagmar sich wild zurückbäumte, um seinen Küssen auszuweichen. Er schloss daraus, dass sie ihn wohl liebte, aber dass sie nicht schuldig werden wollte.
Wie erstarrt hatte er einen Moment auf die Gruppe gesehen, aber dann sprang er mit einem Satz herbei und riss Hollmann zurück. Und nun stand er vor ihm, mit bebendem Grimm in Hollmanns blasses, verzerrtes Gesicht sehend.
„Bube, elender Bube! Danke es dem Schicksal, das mich zwang, schon einmal ein Menschenleben zu vernichten, dass ich dich nicht niederschieße wie einen tollen Hund. Hier nimm das!“, knirschte er zwischen den Zähnen hervor.
Und die Reitpeitsche pfiff durch die Luft und zeichnete Hollmanns Gesicht. Er zuckte zusammen und wollte sich auf den Grafen stürzen. Aber dieser umfasste seinen Arm wie mit eiserner Klammer und stieß ihn zurück, dass er taumelte.
„Hinaus – oder ich schieße dich nieder!“, rief Günter und zog die Pistole mit schnellem Griff aus der Brusttasche.
Da schrie Dagmar, aus ihrer Erstarrung erwachend, laut auf und klammerte sich an seinen Arm, der die Pistole hielt. „Nicht schießen, Günter, um Gottes willen, nicht schießen!“, rief sie verzweiflungsvoll.
Hollmann sah die Waffe in des Grafen Hand, und der Lebensdrang in ihm war stärker als alles andere. Er zog es vor, sich schleunigst zu entfernen.
Als die Tür des Ateliers hinter ihm zusammenschlug, ließ Günter seine Arme kraftlos herabsinken. Mit einem unbeschreiblichen Blick sah er Dagmar an.
„Ich hätte das nicht tun sollen – ich habe mich hinreißen lassen. Du liebst ihn – ich will dein Unglück nicht. Aber du hättest ehrlich zu mir kommen sollen, wie ich dich gebeten hatte. Ich halte dich nicht, will deinem Glück nicht im Wege stehen, obwohl ich dich liebe. Ja, Dagmar, ich liebe dich, vergebens habe ich mich gegen deinen Zauber gewehrt. Auch ich erlag – wie alle anderen. Aber ich halte dich nicht – nur, du hättest mich nicht belügen sollen.“
Sie stand mit bebenden Gliedern, die Aufregung versagte ihr jedes klare Denken. Ihre Sinne verwirrten sich, weil es sie erschütterte bis in das Innerste ihres Seins – dass sie geliebt wurde – geliebt von dem Mann, dem ihr Herz gehörte vom ersten Augenblick an. Alles andere versank um sie her. Aber die Aufregung lähmte ihre Kräfte. Sie wollte auf Günter zugehen, wollte ihn fassen – halten ihm sagen, dass er sich irre, dass Hollmann sie ohne jede Berechtigung überfallen habe und dass sie ihn wegen seiner Zügellosigkeit verabscheue. Aber sie brachte keinen Laut über die Lippen, die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Das ganze Atelier drehte sich plötzlich mit ihr im tollen Wirbel, hilflos streckte sie die Arme zu ihrem Gatten empor, und dann brach sie plötzlich bewusstlos neben ihm zusammen.
Er schrak zusammen und blickte auf sie herab. Ein tiefer Schmerz lag auf ihren Zügen. Mit einem Stöhnen hob er sie empor. Wie ein Kind trug er sie auf seinen Armen hinüber in ihre Zimmer.
Sorgsam legte Graf Günter seine ohnmächtige Frau auf den Diwan und klingelte der Zofe.
Als die Zofe eintrat, sagte er heiser: „Die Gräfin ist von einem Unwohlsein befallen – sie ist ohnmächtig – helfen Sie ihr.“
Die Zofe sah erschrocken auf ihre Herrin, holte aber schnell Kölnisches Wasser und Riechsalz herbei, rieb die Schläfen der Ohnmächtigen und ließ sie den scharfen Duft einatmen.
Als Dagmar endlich mit einem tiefen Atemzug die Augen aufschlug, ging Graf Günter still aus dem Zimmer.
Denn jetzt war es das Beste, sie wurden erst beide wieder ruhig, ehe sie noch ein Wort über diese Angelegenheit sprachen. Die tiefe Erschöpfung Dagmars, die zu der Ohnmacht geführt hatte, musste erst behoben werden. Sie war wohl durch die langen inneren Kämpfe und die furchtbare Aufregung vorhin herbeigeführt worden. Ihre Angst, dass er ihr den Geliebten erschießen würde, hatte ihr wohl den letzten Stoß gegeben. Mochte sie erst wieder zur Ruhe kommen! Auch er brauchte Ruhe und Fassung.
***
Werner Hollmann hatte eiligst seine Sachen gepackt und sich zur Abreise gerüstet. Dass seines Bleibens nach der Szene im Atelier nicht länger sein konnte, war ihm gewiss.
Nach einiger Zeit erschien ein Diener bei ihm, der ihm ein verschlossenes Kuvert von Graf Günter brachte. In diesem Kuvert befand sich ein Scheck über die Summe, die als Honorar für die beiden Porträts vereinbart worden war. Dabei lag ein Billett von Günters Hand:
Es versteht sich von selbst, dass Sie sofort die Taxemburg verlassen. Ein Wagen wird in einer Stunde am Ausgang des Flügels, den Sie bewohnen, bereitstehen. Durch die Schlosshalle führt der Weg für Sie nicht, ich möchte nicht einer nochmaligen Begegnung mit Ihnen ausgesetzt sein, weil ich nicht für meine Selbstbeherrschung garantieren kann. Im Interesse der Gräfin will ich jeden weiteren Eklat verhindern.
Graf Günter Taxemburg
Werner Hollmann las das Billett und zerriss es zähneknirschend in kleine Fetzen. Den Scheck steckte er zu sich.
Seine Rolle war hier ausgespielt, und er hatte einen sehr kläglichen Abgang. Die Gräfin mochte sich aus der Affäre ziehen wie sie es für gut hielt. Immerhin hätte diese Angelegenheit noch bedeutend schlimmer für ihn ablaufen können. Jedenfalls hatten die Pistole und die Reitpeitsche des Grafen seine Leidenschaft für die schöne Gräfin überraschend schnell abgekühlt.
Teufel noch einmal – in seinem Gesicht glühte der rote Streifen, den die Reitpeitsche hineingezeichnet hatte, da halfen alle kalten Kompressen nicht. Und er konnte noch froh sein, dass der Graf wegen seiner Gattin einen Eklat verhüten wollte. Sonst wäre es sicher zu einem Duell gekommen. Der fischblütige Graf war ja mit einem Mal außer Rand und Band gewesen. Es fiel ihm nicht ein, sich auf ein Duell mit dem Grafen einzulassen. Ein Talent, ein Genie, wie er durfte sich nicht der Waffe eines Eifersüchtigen stellen.
Scheußlich, wie die Schwiele brannte, die der Schlag mit der Reitpeitsche ihm ins Gesicht gezeichnet hatte! Tagelang würde er sich vor keinem Menschen sehen lassen können. Am liebsten hätte er den Grafen in seiner Wut ebenso gezeichnet. Vielleicht kümmerte er sich etwas mehr um seine Frau und etwas weniger um seine Tropenflora. Sonst wurde die Gräfin das Opfer eines anderen. Ein süßes Weib, trotz allem – aber für ihn hatte sie jetzt keinen Reiz mehr, ihm blieb nichts anderes übrig, als still zu verschwinden – durch die Hinterpforte, die ihm der Graf gewiesen hatte. Verdammt, ein kläglicher Abgang blieb es auf alle Fälle.
***
Als Dagmar aus ihrer Ohnmacht erwacht war, hatte sie ihre Zofe fragend angesehen. Es war die erste Ohnmacht gewesen, die sie befallen hatte, und es war ein unsicheres Staunen in ihr, dass ihr so etwas hatte geschehen können. Sie sah um sich. „Wie bin ich nur in dieses Zimmer gekommen Jenny?“
„Ich weiß es nicht, Frau Gräfin lagen ohnmächtig hier auf dem Diwan, als ich eintrat.“
Noch ehe die Zofe ausgesprochen hatte, wusste Dagmar schon wieder, was geschehen war. Erschrocken richtete sie sich auf. „Wo ist der Graf?“
„Der Herr Graf haben eben das Zimmer verlassen. Ich soll ihm melden wenn Frau Gräfin sich wieder wohl fühlen und den Herrn Grafen zu sprechen wünschen.“
Mit zitternden Händen strich sich Dagmar das Haar aus der Stirn. Sie suchte ihre Gedanken zu ordnen und kam zu dem Ergebnis, dass ihr Gatte glauben musste, dass sie Hollmanns Leidenschaft erwiderte.
Aber der Schreck über diese Erkenntnis, über seinen Irrtum, ging völlig unter in dem auf sie einströmenden, beseligenden Bewusstsein, von Günter geliebt zu werden.
Sie wollte aufstehen, fühlte aber, dass sie sich noch nicht auf den Füßen halten konnte. Ihre Hände strichen über das Gewand, das sie trug.
„Schnell Jenny, geben Sie mir ein bequemes Neglige! Ich fühle mich doch zu matt, um aufzustehen. Aber ich muss den Grafen sprechen. Helfen Sie mir aus diesem Kleid!“
Jenny kam schnell ihren Wünschen nach. Sie streifte ihrer Herrin die Robe ab und warf ihr ein weiches bequemes Hausgewand über. Flink räumte sie die Spuren des Umzugs fort, nachdem sie die Gräfin wieder auf den Diwan gebettet hatte.
Indessen überstürzten sich Dagmars Gedanken. Sie überlegte, was sie ihrem Gatten nun sagen wollte – sagen musste.
Jetzt brauchte sie ihre Liebe nicht mehr zu verstecken, sie durfte es nicht. Jetzt musste er wissen, wie sie im Herzen zu ihm stand. Und jetzt war dieses Geständnis gottlob auch keine Demütigung mehr, jetzt nachdem er ihr gesagt hatte, dass er sie liebe. Wie eine heiße Woge brandete das Blut durch ihre Adern. Das hatte sie vorhin ohnmächtig gemacht, dass er ihr sagte, dass sie von ihm geliebt wurde. Zu unerwartet war dieses Geständnis gekommen. Erst hatte die Angst ihr das Herz zusammengekrampft, dass er auf Hollmann schießen und neues Leid dadurch auf sich herabbeschwören könne, und dann war die heiße Glückseligkeit über sein Geständnis über sie dahingebraust. Wie Glockenklang hatte es in ihren Ohren gerauscht, und dann war ihr das Bewusstsein geschwunden.
Gern wäre sie ihrem Gatten nun aufrecht entgegengetreten, aber die Knie versagten ihr den Dienst. Aber sie ließ sich durch Kissen stützen, dass sie aufrecht sitzen konnte.
Dann sagte sie hastig: „So, Jenny, nun gehen Sie und melden Sie dem Grafen, dass ich ihn erwarte!“
Die Zofe wollte gehen.
Da kam Dagmar noch ein Gedanke. „Warten Sie noch, Jenny.“
„Zu Befehl, Frau Gräfin.“ „Bitte gehen Sie erst einmal hinüber in mein Arbeitszimmer. Hier, nehmen Sie diesen Schlüssel – er schließt meinen Schreibtisch. Im ersten Fach unten steht eine Kassette, die bringen Sie mir hierher.“
Sie reichte Jenny ihren Schlüsselbund, aus dem sie einen Schlüssel herausgesucht hatte.
Die Zofe führte den Auftrag aus und brachte die Kassette.
Dagmar ließ sie auf ein kleines Tischchen neben ihrem Diwan stellen. Dann schickte sie die Zofe zum Grafen.
Gleich darauf trat Jenny wieder ein. „Der Herr Graf werden in fünf Minuten hier sein, er war dabei, seine Reitkleider abzulegen und sich umzukleiden. Ich habe dem Kammerdiener die Bestellung ausgerichtet.“
„Gut, Jenny, ich bedarf Ihrer nicht mehr, lassen Sie mich allein!“
Jenny zupfte noch ein wenig an der leichten Seidendecke, die sie über die Herrin gebreitet hatte, und ging dann hinaus.
Und nun lauschte Dagmar mit Herzklopfen.
Endlich vernahm sie Günters Schritte, und gleich darauf trat er bei ihr ein.
Er sah sehr bleich aus, und die Muskeln seines Gesichts waren angespannt, als müsse er eine große Erregung meistern. Aber er zeigte sich trotzdem sehr beherrscht. „Du hast mich rufen lassen, Dagmar. Ich hoffe, du fühlst dich wohl genug, mit mir zu sprechen.“
Sie sah mit einem weichen Blick zu ihm auf. „Ich fühle mich ganz wohl, nur ein wenig matt. Deshalb entschuldige, wenn ich auf dem Diwan liegen bleibe.“
„Das bedarf keiner Entschuldigung“, sagte er mit erzwungener Ruhe.
„Bitte, setzte dich zu mir! Ich habe dir viel zu sagen“, fuhr sie fort.
Er verbeugte sich formell und ließ sich in einen Sessel neben dem Diwan gleiten.
Sie stützte sich auf den Arm und richtete sich höher empor. Ihre Augen sahen ihn seltsam an. „Du hast mir vorhin gesagt, ich hätte dich nicht belügen sollen. Der Vorwurf war nicht unberechtigt – ich bin unwahr gewesen zu dir.“
Er atmete gepresst. „Ich habe es gefürchtet, schon lange.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nein, du warst dennoch im Irrtum. Meine Unwahrheit war von ganz anderer Art, als du denkst. Ich will dir jetzt alles sagen – alles – weil mir jetzt die Zunge gelöst ist, weil mein Stolz sich nicht mehr demütigen muss, wenn ich die Wahrheit sage. Aber zuerst das eine: Du warst im Irrtum, als du annahmst, dass ich Hollmann liebe. Nie habe ich ihn geliebt, er war mir sogar in letzter Zeit lästig, weil er sich allerlei Kühnheiten mir gegenüber herausnahm, die ich energisch zurückweisen musste.“
Er richtete sich auf und sah sie düster an. „Weshalb sagtest du mir das nicht, damit ich dich schützen konnte?“
„Weil ich Angst hatte, du würdest dich im Zorn fortreißen lassen, etwas zu tun, das sich später reuen würde. Und ich war meiner auch zu sicher, glaubte, es stehe in meiner Macht, Hollmann in seine Grenzen zurückzuweisen, wie es mir bisher gelungen war. Aber ehe ich weiterspreche – gib mir erst dein Wort, dass du Hollmann nicht zum Duell fordern wirst. Nicht um seinetwillen, sondern um deinetwillen will ich verhindern, dass du nochmals mit ihm zusammengerätst.“
Er atmete tief auf und sah sie unsicher an. „Sei unbesorgt – er ist schon abgereist. Und ich danke dir, dass du mir in den Arm fielst, als ich die Pistole auf ihn anlegte. Vielleicht hätte ich mich nicht beherrschen können und hätte ihn niedergeschossen. Also du hast mein Wort. Ich bin fertig mit ihm.“
Sie strich sich über die Stirn. „Er hatte eine Züchtigung verdient, und der Schlag, den du ihm mit der Reitpeitsche versetztest, traf ihn nicht ungerecht. Ahnungslos saß ich vor meinem Bild und betrachtete es – da überfiel er mich plötzlich mit seiner sinnlosen Leidenschaft. In der unerhörtesten Weise riss er mich in seine Arme und wollte mich küssen. Ich konnte mich nicht wehren und wagte doch nicht um Hilfe zu rufen, weil ich einen Eklat deinetwegen vermeiden wollte. Hätte ich meine Hände freigehabt, dann hätte ich ihn ins Gesicht geschlagen. Nie habe ich ihm Veranlassung gegeben, sich soweit zu vergessen. Er muss von Sinnen gewesen sein. Zum Glück kamst du, ehe er sein unverschämtes Vorhaben ausführen konnte.“
Immer noch sah er sie düster an. „Ich habe kein Recht, deine Worte zu bezweifeln. Aber als ich sah, wie er dein Bild gemalt hat, da sagte ich mir, hier hat ein Liebender die Frau gemalt, die er liebt und die ihn liebt. Denn du musst dich ihm so gezeigt haben. Ich habe dich nie so gesehen, wie Hollmann dich gesehen hat – mit diesem verträumten Lächeln, diesem sehnsuchtsvollen Blick. Bis ins Herz hinein habe ich gebebt, als ich vor deinem Bild stand weil ein anderer dich so sehen durfte. Von Eifersucht verzehrt stürmte ich davon – ja, Dagmar, ich habe nicht geglaubt, dass ich nach der ersten bitteren Enttäuschung jemals wieder eine Frau lieben könnte. Aber ich habe mich getäuscht. Ich liebe dich, und ich weiß, dass du mir verloren bist. Denn wenn du Hollmann nicht liebst, dann liebst du einen anderen, nach dem sich dein Herz sehnt. Das ist mir gewiss.“
Ihr Antlitz rötete sich unter seinem schmerzlichem Blick. Und mit verhaltener Stimme sagte sie: „Ja, Günter, ich liebe einen anderen, seit Jahren schon. Und an ihn habe ich sehnsuchtsvoll gedacht, wenn ich Hollmann zu meinem Bild saß. Deshalb vielleicht hat mich das Bild verraten.“
Sein Mund presste sich herb zusammen. Dann sagte er rau: „Und warum bist du dann meine Frau geworden? Weshalb hast du mir nicht wenigstens gesagt, dass dein Herz einem anderen gehört?“
„Weil ich es dir, gerade dir nicht sagen konnte.“
„Warum gerade mir nicht?“, fragte sie verständnislos.
Sie hob die Hände. „Kannst du dich besinnen, dass du mich eines Tages überraschtest in meinem Turmzimmer, als ich diese Kassette vor mir hatte?“
Sie zeigte auf die grüne Lederkassette.
Er blickte darauf nieder. „Ja, du hattest Briefe vor dir, die du schnell in der Kassette verbargst.“
Sie nickte. „Ja, weil du sie nicht sehen durftest.“
„Sie waren von dem anderen, den du liebst?“
„Ja.“
„Du liebst ihn schon lange?“
„Ja, seit Jahren.“
Er atmete gepresst. „So hat dein Vater nicht gewollt, dass du den anderen heiratest? Deshalb hat er dich also gezwungen, mich zu heiraten?“
Sie drückte die Hände an die Schläfen. „Ach, Günter, ich hätte trotz dieses Zwangs Widerstand geleistet, hätte den Grafen Taxemburg nicht geheiratet, wenn er nicht zugleich – Günter Friesen gewesen wäre.“
Er stutzte. „Was soll das heißen?“
Sie lächelte ihm zu, dass ihm das Herz bis zum Hals hinauf schlug. „Der andere, den ich liebe, den sah ich vor Jahren das erste Mal – und da war er mit einer anderen Frau verlobt. Ich liebte ihn vom ersten Augenblick an, obwohl er einer anderen gehörte und – obwohl er mich damals gar nicht kennen lernte. Er weiß heut noch nicht, dass ich ihn liebe.“
Fassungslos sah er sie an. „Er weiß es nicht?“
„Nein.“
„Aber du hast doch Briefe von ihm?“
„Ja, aber er weiß nicht, dass diese Briefe an mich gerichtet waren.“
„Du sprichst in Rätseln.“
Ernst sah sie ihn an. „Es ist mir schwerer, als ich dachte, dir dieses Rätsel zu enthüllen. Aber es muss sein – ich darf nicht länger zögern. Also: Der Mann, den ich liebe, schrieb diese Briefe – an eine Namenlose.“
Günter sprang auf und sah betroffen auf sie herab. „An eine Namenlose? Was ist das?“
Sie erglühte unter seinen Blicken. „Merkst du denn noch immer nichts, Günter? Da – die Kassette ist offen – sieh hinein – es sind deine eigenen Briefe, die ich als meinen köstlichsten Schatz seit Jahren verwahre.“
Mit einem jähen Griff öffnete er die Kassette und sah fassungslos auf die Briefe herab. Dann blickte er sie schweratmend an. „Du – du bist die Namenlose?“
„Ja, Günter, ich bin es.“
Er fasste an seine Stirn. „Aber ich begreife das nicht. Wozu dies alles?“
Erglühend sah sie zu ihm auf. „Muss ich es erst aussprechen, Günter, verstehst du denn nicht, dass ich dich liebe, dich allein, schon lange, lange? Dass ich dir auch diese Briefe nur aus Liebe schrieb?“
Fassungslos und doch überwältigt von ihren Worten sah er ihre Augen.
„Du – du liebst mich? Ist es wirklich wahr – du liebst mich?“
Sie blickte ihn mit unverhüllter Zärtlichkeit an. „Nur dich allein“, sagte sie mit verhaltener Innigkeit.
Da nahm er sie in seine Arme und presste sie fest an sich, als fürchte er, sie könne ihm jetzt noch entrissen werden. Und seine Lippen suchten die ihren.
Sie lag an seinem Herzen und fühlte alle Lebenswonnen über sich zusammenfluten.
Nach einem langen, innigen Kuss sahen sie sich tief in die Augen.
„Dagmar, Dagmar, nun weiß und begreife ich das eine – dass du mich liebst. Aber alles andere ist mir noch immer rätselhaft. Wie konntest du mich lieben, ehe ich jemals mit dir zusammengetroffen war? Und wie konntest du mir solche Briefe schreiben, ehe du mich kanntest?“
Sie schmiegte sich an ihn. „Die Briefe schrieb ich dir, weil ich dich liebte – deshalb konnte ich dich in deiner Not verstehen. Und nun will ich dir erzählen, wo und wann ich dich gesehen und dich lieb gewonnen habe.“
Von seinem Arm umschlungen, erzählte sie ihm alles. All ihre Seelenkämpfe, ihre Angst um ihn und ihre Herzensnot schilderte sie ihm. Und von ihrem angstvollen Stolz, der sie ihm gegenüber zur Unehrlichkeit zwang, sprach sie ihm auch und von ihrer namenlosen Überraschung, als sie damals in der Oper erkannte, dass der ungeliebte Freier, der ihr aufgezwungen werden sollte, kein anderer war als der Mann, den sie liebte.
Er hörte zu, als würde ihm ein holdes Märchen erzählt, das vor seinen staunenden Augen Wirklichkeit wurde. Er hielt sie dabei fest in seinen Armen und streichelte immer wieder in tiefer Zärtlichkeit über ihr Haar, als müsse er sie für alle Leiden und Kämpfe entschädigen.
Lange saßen sie so zusammen und sprachen sich alles von Herzen, was sie einander bisher verschwiegen hatten. Und beseligt empfanden sie, wie eins sie nun waren bis ins Innerste ihres Wesens hinein.