Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil V) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 16
13. Kapitel.
Im neuen Wirkungskreis.
ОглавлениеWieder traten Mutter und Tochter auf der einen, Marianne Heydebrecht auf der anderen Seite zugleich in das Speisezimmer am nächsten Tage.
Wieder wurde das Mahl nach kurzer Begrüßung stumm eingenommen.
Rose-Marie dachte an die blutroten Tränen, von denen sie geträumt, und sah wieder und wieder in das versteinerte Antlitz hinüber.
Ein heißes, unerklärliches Mitleid erfüllte plötzlich ihr Herz.
Sie konnte mit einem Male der alten Dame nicht mehr grollen, mußte gewaltsam an sich halten, daß sie ihr nicht liebkosend die Hände streichelte.
Ganz versunken in ihre mitleidigen Gedanken, schrak sie auf, als die Großtante plötzlich sagte:
»Wenn es Dir noch ernst ist mit Deinem Arbeitseifer, dann könntest Du nach Tisch zu mir hinüberkommen und mir einige geschäftliche Briefe schreiben. Wir wollen sehen, ob es geht. Mußt Dich aber nicht durch meine stille Art beirren lassen und nicht viel sprechen!«
Diese Worte rangen sich wie widerwillig von ihren Lippen.
Rose-Marie sah erfreut auf.
»Ich will mir viel Mühe geben, Dich zufriedenzustellen!«
Großtante nickte stumm. Nach dem Dessert verabschiedete sie sich von Henriette und winkte Rose-Marie, ihr zu folgen.
Mit staunenden Augen schritt das junge Mädchen hinter ihr her durch eine Reihe prächtiger Zimmer.
Dann betraten sie einen sehr hellen Raum, der im Verhältnis zu den anderen sehr einfach und nüchtern möbliert war.
Ein großer Schreibtisch stand quer vor dem einen Fenster, an dem anderen befand sich ein mit Leder bezogener Lehnstuhl.
Ein großes Regal mit Büchern füllte die eine Wand, an der gegenüberliegenden stand ein riesiger Geldschrank.
Marianne Heydebrecht deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und legte ein langes, schmales Buch vor das junge Mädchen hin.
»Schreib' da erst einmal das Rezept hinein, das Du gestern an der kranken Kuh erprobt hast. Sie ist gesund, trotzdem ich sie schon ausgegeben hatte: hast also schon einen Teil Deiner »Schuld« an mich abgetragen!«
Rose-Marie sah sie strahlend an.
Dieser Blick schien die Augen der alten Frau wie ein Sonnenstrahl zu blenden. Sie schloß die Augen Und wandte sich ab.
Rose-Marie machte sich eifrig an die Arbeit. Das Buch enthielt allerlei Rezepte.
Marianne Heydebrecht setzte sich in den Lehnstuhl am Fenster und sah unverwandt auf den gebeugten, goldflimmernden Mädchenkopf hinüber. Dabei nahm ihr Gesicht einen Ausdruck furchtbarer Seelenqual an.
Solch goldblondes Haar hatte ihre Tochter gehabt, und sie war so stolz gewesen auf dieses schöne Haar, so stolz, daß sie die Freiherrnkrone darauf hatte setzen wollen; damals — vor langen, langen Jahren.
Ein stöhnender Seufzer rang sich über die herb geschlossenen Lippen.
Rose-Marie sah schnell auf und blickte in ein Paar wehe, ach so jammervoll wehe Augen hinein, und in ein blasses, von Qual entstelltes Gesicht.
»Großtante, liebe Großtante, bist Du nicht wohl?« fragte sie voll warmer Teilnahme.
»Schreib’ weiter und kümmere Dich nicht um mich, das muß ich zur Bedingung machen!« antwortete die alte Dame schroff und blickte starr zum Fenster hinaus.
Rose-Marie schrieb erschrocken weiter. Als sie fertig war, meldete sie es kurz.
»Es ist gut, mit den Briefen, das hat Zeit bis morgen. Gehe jetzt zu Deiner Mutter. Kannst heute Nachmittag zwischen vier und fünf Uhr wiederkommen und mir vorlesen!«
Rose-Marie versicherte ihre Bereitwilligkeit und ging. —
Als sie am Nachmittag zum Vorlesen kam, zeigte Großtante stumm auf ein aufgeschlagenes Buch.
Rose-Marie begann.
Ihre weiche junge Stimme schmeichelte sich durch das Ohr in das verbitterte Herz der alten Dame.
Mit geschlossenen Augen lauschte sie, atemlos, daß nicht eine Silbe ihr entging.
Und es war ihr, als ob Jahre voll Leid und Jammer versanken, als ob eine helle, lichte Vergangenheit emporstieg.
Wenn sie die Augen geschlossen hielt, oder nur ein wenig nach dem blonden Kopf hinüberblinzelte, dann konnte sie denken, daß da drüben ihre Tochter säße und das alles nur ein böser Traum gewesen wäre, was sie erlebt hatte.
Wie rüttelte die liebe, junge Stimme an dem starren Panzer, der dies zuckende verbitterte Herz umschlossen hielt. — —
Von nun an kam Rose-Marie täglich einige Stunden des Tages in Marianne Heydebrechts Arbeitszimmer. Sie las oder schrieb, wie ihr befohlen wurde, mußte auch zuweilen in den Wirtschaftsbüchern rechnen, oder sonst einen kleinen Auftrag ausführen.
Immer hatte die alte Dame nur wenig kurze Worte für sie. Aber allmählich mehrten sich die Aufträge.
Die Großtante erkannte Rose-Maries praktischen Sinn, erprobte staunend ihre landwirtschaftlichen Kenntnisse und ließ sich sogar dazu herbei, dies und das mit ihr zu beraten.
Sie nahm Rose-Marie zuweilen in ihrem Wagen mit, auf das Feld hinaus.
Schließlich blieb der Kutscher zu Hause, da das junge Mädchen bat, selbst kutschieren zu dürfen.
Alles aber geschah ohne viele Worte. Rose-Marie war glücklich, daß sie ihre Kräfte regen konnte, und merkte froh, daß sie sich wirklich nützlich machen konnte.
So vergingen einige Wochen. Da kam wieder ein Brief von Hans, in dem er Rose-Marie um ein Wiedersehen bestürmte und sie bat, am nächsten Sonnabend um zwei Uhr auf dem Bahnhof in Eisenach zu sein mit ihrer Mutter. Er schrieb:
»Wenn Ihr nicht kommt, muß ich denken, Ihr wollt gar nichts mehr von mir wissen. Länger halte ich es vor Sehnsucht nicht aus, liebe Rose-Marie. Daß ich Ostern in Burgau war bei unseren lieben Gräbern, schrieb ich Dir schon. Auf dem Deines Vaters fand ich ein Schneeglöckchen. Ich habe es gepreßt und lege es Dir als Gruß bei.
Und nun schreib mir schnell, daß ich Euch Sonnabend endlich wiedersehen darf.
Böllemnann läßt Euch, wie immer, herzlich grüßen, er käme am liebsten mit, denn er bewahrt Euch große Anhänglichkeit, und ich bin froh, daß ich wenigstens ihn habe, um von Euch sprechen zu können.
»Leb’ wohl, grüß’ Musch herzlich — und auf frohes Wiedersehen.
Dein treuer H a n s.«
Rose-Marie gab Musch den Brief zu lesen, sie sah rot und erregt aus.
»Nun siehst Du doch ein, Musch, daß wir Hans seine Bitte nicht länger abschlagen können. Wir müssen aus jeden Fall Sonnabend nach Eisenach fahren; ich will heute Nachmittag mit Großtante sprechen, daß sie uns den Wagen zur Verfügung stellt!«
Henriette seufzte.
»Meinetwegen denn, Kind. Du hast recht, wir können ihm seine Bitte nicht abschlagen!« —
Punkt vier Uhr trat Rose-Marie bei der Großtante ein. Wie sonst, nahm sie das bereitliegende Buch, um zu lesen, aber sie begann nicht gleich.
»Liebe Großtante, dürfte ich, ehe ich beginne, einen Wunsch aussprechen?«
Die alte Dame nickte.
Rose-Marie fuhr fort:
»Ich möchte Dich bitten, Musch und mich Sonnabend zu beurlauben und uns einen Wagen zur Verfügung zu stellen Wir — wir wollen in Eisenach mit einem Besuch zusammentreffen!«
Marianne Heydebrecht sah starr geradeaus. Kein Zug änderte sich in ihrem Gesicht.
»Warum empfangt Ihr Eure Besuche nicht hier in Schönrode?«
Rose-Marie rückte sich tapfer zusammen.
»Es ist Hans Ramberg, Großtante!«
»Nun, und?« fragte die alte Dame kalt.
Aber Rose-Marie sah, wie ihre Finger sich zusammenkrampften.
»Großtante, liebe Großtante, würdest Du erlauben, daß er nach Schönrode kommt?«
»Ihr seid doch nicht im Gefängnis; wenn Ihr Besuche empfangen wollt, steht Euch das frei!«
»Aber Hans Ramberg Großtante?«
Da blickte die alte Frau mit einem erloschenen Blick in Rose-Maries Gesicht.
Der herbe Zug um den Mund vertiefte sich, aber ihre Stimme klang kühl und beherrscht.
»Dieser Hans Ramberg ist mir fremd, ich kenne ihn nicht, und ich brauche ihm ja nicht zu begegnen!«
In Rose-Marie wallte der alte Groll wieder auf.
»O, Hans Ramberg würde Schönrode nie betreten, es sei denn, Du bätest ihn selbst darum!«
Da richtete sich die alte Dame kerzengerade empor. Ein schriller Ton, der ein Lachen sein sollte und doch nichts mit einem Lachen gemein hatte, drang über ihre Lippen.
Aber dieses Lachen schnitt Rose-Marie ins Herz.
»Er scheint sehr anmaßend zu sein, dieser Hans Ramberg. Vielleicht hofft er, nach meinem Tode Schönrode als Herr zu betreten. Aber er soll sich diese Hoffnung vergehen lassen!«
Rose-Marie richtete sich kampfbereit auf. Im Bestreben, Hans zu verteidigen, vergaß sie alle Vorsicht.
»Du irrst Dich sehr. Hans möchte am liebsten vergessen, daß Schönrode auf der Welt ist. Und anmaßend ist er gar nicht, im Gegenteil, sehr lieb und gut und bescheiden, und dabei so tüchtig und fleißig. Graf Ronach ist mit ihm sehr zufrieden.
Nur in einem Punkte ist er stolz — furchtbar stolz — er will nichts wissen von Schönrode und seiner Herrin, weil er nicht vergessen kann, daß seine arme Mutter, die er innig liebte, verstoßen wurde. Und doch hatte sie nichts getan, als daß sie ihren Mann mehr liebte als Glanz und Reichtum!«
Marianne Heydebrecht war totenbleich geworden und streckte die Hände abwehrend aus.
»Und viel, viel mehr, als ihre Mutter!« sagte sie tonlos, wie geistesabwesend, und dann verließ sie plötzlich das Zimmer.
Rose-Marie sah ihr erschrocken nach. Was hatte sie getan? War das die Vorsicht, um die sie Musch gebeten hatte?
Nun hatte sie die Großtante ernstlich erzürnt und vielleicht alles verdorben. Warum hatte sie nicht schweigen können? Aber nein, sie durfte Hans nicht verunglimpfen lassen, es wäre schlecht von ihr gewesen.
Freilich, das von seiner Mutter hätte sie nicht zu sagen brauchen. O Du unbesonnene Rose-Marie, warum warst Du so unbedacht?
Sie saß wie vernichtet auf ihrem Stuhl und sah die geschlossene Tür an. Was sollte sie nun tun?
Nach einer Weile trat der alte Gustav ein.
»Gnädiges Fräulein, Sie sollen heute nicht mehr vorlesen, unsere gnädige Frau ist unwohl!«
Rose-Marie erhob sich bedrückt.
»Kann ich nicht zu ihr gehen, Gustav? Ich möchte so gern versuchen, ob ich ihr helfen kann!«
»Nein, nein, Fräulein Rose-Marie, lassen Sie das lieber. Wenn die gnädige Frau so ist, dann kann sie keine Menschen vertragen!«
»Wie ist sie denn? Was ist mit ihr, Gustav?«
Er zuckte bekümmert die Achseln und sah sich vorsichtig um. Dann sagte er leise:
»Sie sitzt in ihrem Schlafzimmer und hat das Bild umgedreht und stöhnt und seufzt. Dann ist es immer sehr schlimm!«
»Welches Bild?«
»Das von — nun — von unserem gnädigen Fräulein Anna!«
»Von ihrer Tochter?«
»Ja, ja, seit ungefähr drei Jahren hängt es wieder in ihrem Schlafzimmer. Es hatte seit mehr als zwanzig Jahren auf dem Speicher gelegen. Nun ist es wieder aus seinem alten Platz, aber es hängt immer mit dem Gesicht nach der Wand.
Seit Sie, Fräulein, aber in Schönrode sind, dreht sie es manchmal um, wie eben heute. Und dann sitzt sie stundenlang und schaut es an; ich hab’ in heller Sorge um sie manchmal durch das Schlüsselloch gesehen, so zuwider mir das auch ist. Aber sie ist dann immer so seltsam, daß ich Angst habe um sie.
Verraten Sie mich um Gottes willen nicht. Ich weiß, nicht, wie es kommt, aber seit Sie in Schönrode sind, da ist so eine Unruhe in unserer gnädigen Frau. Sie spricht auch wieder ein Wort mehr als all die Jahre. Ich glaube, es muß wohl mit ihrem goldenen Haar zusammenhängen, Fräulein Rose-Marie; solches Haar hatte unser Fräulein Anna auch und die gnädige Frau war so stolz darauf. Sie streichelt auch zuweilen auf dem Bilde über die goldigen Locken und seufzt herzbrechend dabei. Es ist ein Jammer, Fräulein Rose-Marie, wenn es doch einmal wieder besser werden wollte. Sie können mir wohl nicht sagen, wo unser Fräulein Anna jetzt ist, ich weiß ihren jetzigen Namen nicht einmal mehr; sie hatte ja einen Lehrer geheiratet!«
Rose-Marie seufzte bedrückt auf. Was ihr Gustav erzählte, zeigte ihr, daß die Großtante ein herbes Leid unter ihrer kühlen Art verbarg.
»Sie hieß Ramberg, Gustav, und seit drei Jahren ist sie tot!«
Der alte Diener preßte die Hände zusammen.
»Tot — unser schönes, liebes, junges Fräulein? Ach- Du lieber Gott, und seit drei Jahren schon? Also deshalb kam das Bild wieder auf seinen alten Platz? Und nun ist alles aus, und Schönrode wird eines Tages an fremde Menschen fallen!«
»Anna Ramberg hat einen Sohn hinterlassen, er ist jetzt vierundzwanzig Jahre alt!« sagte Rose-Marie leise.
»Ach, Du lieber Gott im Himmel, so laß mich nur noch erleben, daß ich ihn hier in Schönrode sehe!«
Rose-Marie drückte ihm die Hand. ihre Wünsche begegneten sich.
Stumm gingen sie nun auseinander.
Rose-Marie suchte Musch auf und beichtete ihre Unbesonnenheit. Diese war außer sich.
Beklommen sah Rose-Marie dem nächsten Tage entgegen.
Bei Tische war es dann aber wieder wie jeden anderen Tag. Die Großtante gab sich den Anschein, als sei nichts vorgefallen. Dann forderte sie Rose-Marie auf, ihr zu folgen, wie sonst.
Mit keinem Wort erwähnte sie die Szene von gestern, während das junge Mädchen verschiedene Schreibereien erledigen mußte.
Erst als sie Rose-Mode entließ, sagte sie wie beiläufig:
»Der Wagen wird Sonnabend um elf Uhr für Euch bereit sein!«
Rose-Marie faßte schnell ihre Hand.
»Ich danke Dir, Großtante, und bitte, bitte, verzeihe mir, ich — ich —«
Die alte Dame winkte hastig ab.
»Laß nur, Du bist noch so jung und rasch in Deinem Wesen, und kennst das Leben nicht. Nein, nein, nicht mehr davon sprechen, ich verzeihe Dir, aber nicht mehr davon sprechen!«
Rose-Marie war entlassen.
Sie ging mit nachdenklichem Gesicht durch die lange Zimmerflucht zurück.
In der großen Halle blieb sie eine Weile an der offenen Tür stehen, durch welche die würzige Frühsommerluft hereindrang, und flüsterte vor sich hin:
»Wie schön war es in Schönrode. Sollte dieser herrliche Erdenfleck nie wieder eine Stätte des Glückes sein? Würde Hans eines Tages als Erbe hier seinen Einzug halten?
Ach, wenn es doch bald, recht bald der Fall wäre, damit die alte, verbitterte Frau noch einmal froh würde!
Mußte sie nicht glücklicher werden, wenn sie den Enkel liebevoll zu sich rief? Arme Großtante, wie traurig muß es in Deinem Herzen aussehen!
Ich will Hans sagen, wie sehr sie leidet, wie sie stundenlang vor dem Bilde ihrer Tochter sitzt in einsamem, bitteren Schmerz.
Er darf ihr nicht mehr grollen. Sie hat wohl mehr gelitten als ihre Tochter, denn sie war allein.«