Читать книгу Jesus und das Landrecht - Henrike Manuwald - Страница 22
3.2.5 Interdependenz von Zeugenschaft und Heilswahrheit
ОглавлениеWie die Textanalyse gezeigt hat, ist die Rechtsthematik in Diu urstende eng mit dem Komplex der Wahrheitsfindung verknüpft. Dabei stehen die juristischen Fragetechniken gleichsam im Dienst der Wahrheit und dienen mit dazu, die Messianität Christi zu erweisen, die sich im Schriftwunder manifestiert.1 Darin erschöpft sich aber die Funktion der Rechtsmotivik noch nicht, denn es ist ein Bemühen zu beobachten, dass ein positives Bild der Institution ,Gericht‘ vermittelt werden soll – angesichts des Stoffs ein bemerkenswertes Unterfangen. Besonders deutlich wird dieses Bemühen bei der Rede des Pilatus.2 Zwar ist es im Nikodemusevangelium (cap. IX 2 [7,2 (G/I)]) durchaus angelegt, dass Pilatus ,die Juden‘ schilt; doch dass er skizziert, wie es idealerweise vor Gericht zugehen sollte, ist spezifisch für Diu urstende.3SalzburgErzabtei St. PeterCod. a V 27 Diese Ausgestaltung ist umso auffälliger, als sie den Umschwung im Vorgehen des Pilatus am Ende des Prozesses noch erklärungsbedürftiger werden lässt. Auch dann erweist sich aber nicht das Gerichtsverfahren als ungerecht, sondern nur der Richter als fehlbar, sodass die Autorität des Gerichts nicht in Zweifel gezogen wird.
Die didaktische Rede des Pilatus fügt sich ein in andere Erzählstrategien, mit denen moralische Maßstäbe für den Umgang mit der Wahrheit vermittelt werden. Wenn zum Beispiel der Mann, der offenlîche für Jesus aussagt, neben diejenigen gestellt wird, die sich der phlihte entziehen wollen, wird eine Wertung des Verhaltens vorgenommen. Die Verpflichtung, an der Wahrheitsfindung mitzuwirken und offen für die Wahrheit einzutreten, wird zunächst einmal im Kontext des weltlichen Prozesses thematisiert. Der größere und bedeutsamere Kontext wird in den Worten Josephs deutlich, der für diejenigen, die Gottes Namen wissentlich verleugnet haben, negative Konsequenzen beim Jüngsten GerichtJüngstes Gericht ankündigt (vv. 1470–1478). Aus dem Textverlauf ergibt sich, dass die Oberen ,der Juden‘ zu dieser Gruppe zu zählen sind, denn sie verdrehen wider besseres Wissen diu mære (vv. 2132–2148). Aber am Beispiel von Petrus, dessen martialisches Eintreten für Jesus bei dessen Gefangennahme und seine spätere Beteuerung, Jesus nicht zu kennen, ausführlich berichtet werden (vv. 190–236), war gleich zu Beginn der Erzählung demonstriert worden, dass auch Anhänger Jesu der Gefahr des Verleugnens ausgesetzt sind.
Die hier parallel gesetzten Fälle des Verleugnens liegen zwar auf unterschiedlichen Ebenen, aber die Rechtsmotive scheinen dazu genutzt zu werden, Problemkomplexe explizit zu machen, die für die Handlung insgesamt relevant sind – das hatte sich auch für die Methoden zur Wahrheitsfindung nachweisen lassen. Innerhalb des Prozesses wird beispielsweise auch das Nicht-Verleugnen-Können zur Sprache gebracht, wenn Nikodemus den Anspruch erhebt, den Anklägern nachweisen zu können, dass sie sich geirrt haben.4 Tatsächlich wird offenbar, dass ihre Anschuldigungen falsch waren, und die Wahrheit kommt ans Licht. Vor dem Öffentlich-Werden begangenen Unrechts und den daraus folgenden sozialen Konsequenzen fürchten sich wiederum die Wächter, weshalb sie sich zunächst weigern, Bestechungsgeld anzunehmen.5 Dass durchaus damit zu rechnen ist, dass sich Lügen nicht aufrechterhalten lassen, war in der Prozessszene demonstriert worden. Insofern kann der Leser am Ende des Berichts auch die Gewissheit haben, dass die Lügen der Oberen ‚der Juden‘ (vv. 2128–2148) ineffektiv bleiben werden.
Der Zusammenhang von Wahrheit, Zeugenschaft und Öffentlichkeit, der in Diu urstende rechtlich aufgefasst ist, steht auch in einem theologischen Kontext, der allerdings im Text über die Figur des Nikodemus nur indirekt angesprochen wird. Der Erzähler übernimmt aus dem dritten Kapitel des Johannesevangeliums, in dem Jesus zum biblischen Nikodemus spricht, nur die Passagen zur Taufe (vv. 432–443). Im Johannesevangelium sagt Jesus angesichts von dessen Unverständnis zu Nikodemus: amen amen dico tibi, quia quod scimus loquimur / et quod vidimus testamur / et testimonium nostrum non accipitis (Io 3,11Neues TestamentJohannesevangelium Io3,11;6 „Amen, amen, ich sage dir: Was wir wissen, das sagen wir, und, was wir gesehen haben, das bezeugen wir, und ihr nehmt unser Zeugnis nicht an.“). testare ist in der Vulgata gewiss nicht in einem verfahrensrechtlichen Sinn gebraucht, und es ist dort Jesus selbst, der als ,Zeuge‘ fungiert, aber in diesem Bibelvers ist das für Diu urstende zentrale (aber dort nicht auf Nikodemus zutreffende) Grundproblem formuliert, dass Zeugnisse für die Heilswahrheit nicht akzeptiert werden. Auch das Verhältnis der Menschen zur Wahrheit beschreibt Jesus in seiner Rede: omnis enim qui mala agit odit lucem / et non venit ad lucem ut non arguantur opera ejus // qui autem facit veritatem venit ad lucem / ut manifestentur opera ejus quia in Deo sunt facta (Io 3,20f.Neues TestamentJohannesevangelium Io3,20f.; „Denn jeder, der Übeltaten begeht, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit seine Taten offenbar werden, weil sie in Gott getan sind.“). Es ist das venire ad lucem, das in Diu urstende positiv beurteilt wird. Das Werk insgesamt soll ebenso dazu beitragen, dass die (heilsgeschichtliche) Wahrheit ans Licht kommt, wenn auch der metaphorische Ausdruck, dass das Prolog-Ich sein Werk ans Licht bringe (swenne ich daz werc ze liehte trage, v. 10), nicht primär als Referenz auf die Johannes-Stelle zu verstehen ist.7
In Diu urstende wird durch eine Betonung des rechtlichen Kontexts der Geschehnisse die Bedeutung der Wahrheitsfindung und der Akzeptanz des Erkannten exemplarisch herausgearbeitet. Die Relevanz des Erzählten für die Gegenwart wird explizit nur in Bezug auf die Judas-Figur formuliert: Nachdem der Erzähler das Verhalten des Judas als treulos (jâ hâstuo / der triuwen in dem herzen niht, vv. 152f.) gekennzeichnet hat (vv. 149–158), beklagt er, dass es noch Leute gebe, deren Verhalten nicht mit ihren Intentionen übereinstimme, und sagt ihnen dasselbe Ende wie Judas voraus (vv. 159–170). Dass ausgerechnet bei Judas eine Übertragung in die Gegenwart stattfindet, dürfte mit der Tradition des Judas-Fluchs zusammenhängen.8 Der Erzähler betrachtet auch nicht Judas selbst als Exempel, sondern sagt, dass einige ihre Falschheit von Judas gelernt hätten (vv. 159–161). Wenn ein solches Lernen im Negativen möglich ist, erscheint es denkbar, dass der Text zu entsprechenden Übertragungsprozessen bei positiven Figuren anregen will. Die aktualisierende Ausgestaltung des Prozesses macht jedenfalls das Geschehen für zeitgenössische Rezipienten nicht nur besser nachvollziehbar, vielmehr erleichtert sie auch eine Übertragbarkeit, zumal in Kombination mit den generalisierenden Ausführungen des Pilatus. Der zeitgenössische Rezipient ist ebenfalls dazu aufgerufen, seiner phlihte nachzukommen. Allerdings ist dieser didaktisierende Aspekt in Diu urstende gegenüber der darin thematischen Vermittlung des Heilsgeschehens nicht dominant.
Auch für die Aufnahme des Textes in die Sammelhandschrift VWienÖNBCod. 2696 [V] scheint eher ausschlaggebend gewesen zu sein, dass er einen Abschnitt des Lebens Jesu erzählt, denn er folgt auf die Kindheit Jesu Konrads von FußesbrunnenKonrad von FußesbrunnenKindheit Jesu.9 Insgesamt sind in der, wahrscheinlich für einen Laien, planmäßig zusammengestellten Textsammlung10 zahlreiche thematische Korrespondenzen zwischen den einzelnen Texten der Handschrift festzustellen: So lässt die Konversion ,der Juden‘ in Das JüdelDas Jüdel die nicht stattfindende Konversion in Diu urstende umso deutlicher hervortreten;11 Das AnegengeDas Anegenge ergänzt stofflich die apokryphen Texte zu Beginn der Handschrift12 und fügt mit dem Motiv des Streites der vier Töchter GottesHeilsgeschichte und Recht13 zugleich der Rechtsthematik weitere Aspekte hinzu. Sicherlich wäre es verfehlt, wegen der Überlieferungsgemeinschaft unbedingt Bezüge zwischen den Texten herstellen zu wollen, doch mögen die Texte der Handschrift, die auf die richtige Lebensführung bezogen sind (wie etwa Die WarnungDie Warnung), die Aufmerksamkeit auf entsprechende Aspekte in den narrativen Texten gelenkt haben: Wenn in Die Warnung propagiert wird, dass es Untugenden (wie Falschheit oder Hass) gibt, die Gott und der Welt missfallen,14 dann lässt sich diese Entsprechung – jedenfalls auf einer allgemeinen Ebene – auf Diu urstende zurückbeziehen. Dort legen Gott und die Welt im Hinblick auf die Wahrheitstreue (idealerweise) ebenfalls gleiche Maßstäbe an, wie anhand der Gerichtsthematik exemplifiziert wird.