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3.5 Zur Hybridität der Erzählwelt

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Wie die Lektüren der Kerntexte deutlich gemacht haben, weist der Umgang mit rechtlichen Aspekten in den drei Texten Gemeinsamkeiten auf, die sich nicht allein aus dem als Prätext fungierenden lateinischen Nikodemusevangelium ableiten lassen (z.B. bei der Ausgestaltung der juristischen Züge der Befragungsszenen nach Jesu Auferstehung). Daneben zeigt sich jedoch eine erhebliche Variationsbreite im Zugriff auf die Rechtsthematik, da die Rechtsmotive jeweils in einen speziellen internen Bezugsrahmen eingespannt sind: In Diu urstende etwa ist über die Kette der Zeugenaussagen mit ihrer je eigenen Konzeptionalisierung von ,Wahrheit‘ der juristische Wahrheitsbegriff mit dem der Heilswahrheit enggeführt, in Christi Hort werden durch detaillierte Schilderungen des Verfahrensablaufs die rechtsethischen Aspekte besonders herausgearbeitet, die im Gesamttext in Zusammenhang mit der Frage nach der richtigen Lebensführung stehen, und im Evangelium Nicodemi wird das menschliche Rechtshandeln vor dem Hintergrund göttlichen Rechtshandelns interpretiert.

Um das Erzählte zu plausibilisieren, werden in allen drei Texten jeweils mehrere Strategien eingesetzt, die sich teilweise überlagern: Abgesehen davon, dass der Textinhalt insgesamt durch Quellenberufungen abgesichert wird, werden einzelne Handlungen erläutert. Historische Begründungen (Pilatus ließ die Fahnen vor sich hertragen, weil es damals so üblich war) stehen dabei neben heilsgeschichtlichen Zusammenhängen von Verheißung und Erfüllung (Jesus schwieg, weil es so prophezeit war). An der problematischen Stelle, an der der Prozess gegen Jesus mit dem tradierten Ergebnis zu Ende kommen muss, findet sich in Diu urstende und indirekt auch in Christi Hort eine punktuelle Berufung auf die Quelle, die das Berichtete legitimiert, den Erzähler aber zugleich von der Verantwortung dafür entlastet. In den Kontext von Strategien der Plausibilisierung ist auch die partielle Anpassung des Erzählten an die zeitgenössische Kultur – sowohl an die ,Alltagsrealität‘, speziell an das Rechtswesen, als auch an literarisch vorgeprägte Muster (höfische Botenszenen) – einzuordnen.

In allen drei Texten werden bei der Schilderung des Prozessablaufes – in unterschiedlichem Ausmaß1 – nur einzelne Elemente aktualisiert, sodass das Verfahren insgesamt einen uneinheitlichen Eindruck vermittelt: Es gibt Gerichtsschranken und Urteilsfragen, aber das deutschrechtliche Verfahren ist weder vollständig repräsentiert (keine VorsprecherVorsprecher!), noch sind dem ,deutschen‘ RechtRechtsordnungen‚deutsches‘ Recht widersprechende Züge getilgt2 (Unterredung des Richters mit dem Angeklagten allein). Die Gründe für die inkonsequente Gestaltung der rechtlichen Abläufe liegen angesichts der stofflichen Vorgaben auf der Hand, aber die Tatsache, dass man die Logik eines ,deutschrechtlichen‘ Verfahrens eben nicht absolut setzen kann, verweist auf die hybride Natur der Erzählwelt insgesamt: Sie konstituiert sich teilweise unter Bezug auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit, weicht aber in anderen Punkten davon ab.3Pfaffe KonradRolandsliedHeldenepik Systematisch betrachtet ähnelt die Erzählwelt der eines fiktionalen Textes, bei dem der zeitgenössische Rezipient automatisch Lücken nach dem Realitätsprinzip füllt, aber auch damit umgehen kann, dass manches anders funktioniert. Ebenso ist für einen historischen Rezipienten zu vermuten, dass er mit der schrangen eine zeitgenössische Gerichtssituation assoziiert hat,4 aber das Auftreten einer Frau als Zeugin, das bezogen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit nicht ohne Weiteres plausibel wäre, akzeptiert hat, zumal dafür mit den biblischen Heilungswundern ein anderer Kontext aktiviert werden konnte.

Umgekehrt kann nicht angenommen werden, dass jeder Bezug auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit für die Rezipienten kohärenzstiftend gewesen sein muss bzw. so angelegt ist. Gerade die dadurch aktivierten Assoziationsräume können auch dazu führen, dass neue Fragen aufgeworfen werden. Bei einer Richterfigur, die die Entscheidung über das Urteil eindeutig delegiert, stellt sich z.B. verstärkt die Frage, worin ihre Schuld bei der Verurteilung eines Unschuldigen besteht. Möglicherweise sind manche Ausgestaltungen in den Texten als Reaktionen auf solche implizit aufgeworfenen Fragen zu verstehen.5

Produktionsästhetisch betrachtet ist es wenig überraschend, dass der Grad der kulturellen Aneignung sich auch als von der Autorität der Vorlage abhängig erwiesen hat: Bei der legendarisch tradierten Bestrafung des Pilatus war der Entwurf eines römischen Hofgerichts nach zeitgenössischem Muster ohne Weiteres möglich (Christi Hort), beim Prozess gegen Jesus hatte der überlieferte Ablauf eine größere Dominanz. Aber bei der Analyse der Prozessszenen in den drei Kerntexten ließ sich auch erkennen, dass das Ausmaß der Aktualisierung höchst unterschiedlich ist (in Diu urstende und Christi Hort ausgeprägter als im Evangelium Nicodemi), d.h., sogar bei dem stark kanonisierten Stoff bestand eine gewisse erzählerische Freiheit. Vor diesem Hintergrund kann es als gestalterische Entscheidung gelten, dass in allen drei Texten überhaupt ein partieller Anschluss an die zeitgenössische Erfahrungswelt gesucht wurde, und es gilt, die mit dieser Entscheidung verbundenen Implikationen zu erkunden.

Jesus und das Landrecht

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