Читать книгу Jesus und das Landrecht - Henrike Manuwald - Страница 29
3.4.2 geriht
ОглавлениеDie Schilderung des Prozesses im Evangelium Nicodemi folgt über weite Strecken genau dem lateinischen Nikodemusevangelium.1 Dementsprechend sind auch die Unterredungen zwischen Pilatus und dem ‚Angeklagten‘ bzw. den Jesus wohlgesonnenen Juden übernommen worden, die im lateinischen Nikodemusevangelium innerhalb des Prätoriums stattfinden.2 Anders als in Diu urstende und in Christi Hort ist im Evangelium Nicodemi der GerichtsortGerichtsortePrätorium nicht explizit aktualisiert, sondern vordergründig scheint sogar die Vorstellung eines Innenraums beibehalten worden zu sein, jedenfalls heißt es an einer Stelle, dass Pilatus allen befiehlt, von seinem Richtstuhl wegzugehen, außer den zwölf Juden (die für Jesus eintreten) und Jesus selbst, die bei ihm da innen bleiben sollten (vv. 1018–1021).3 Allerdings ist der ausdrückliche Hinweis auf das Prätorium als Ort der Unterredung getilgt: Während Pilatus nach dem lateinischen Nikodemusevangelium (cap. III 1) im Anschluss an die Unterredung das Prätorium verlässt, um zu ,den Juden‘ zu sprechen, adressiert er sie im Evangelium Nicodemi, ohne dass ein Ortswechsel markiert wäre (Do sprach er zu in allen, v. 1035). Dieser Handlungsablauf macht es vorstellbar, dass auch im Evangelium Nicodemi nicht an einen Innenraum, vielmehr an einen abgeschrankten BereichGerichtsorteAbschrankung (unter freiem Himmel) gedacht ist,4 der ein ,Innen‘ vom ,Außen‘ trennt, aber eine akustische Verbindung zu der außen stehenden Menge zulässt.5
Im Folgenden bleiben die lokalen Angaben ebenfalls auf Pilatus bezogen: Er lässt Jesus zu sich kommen (Do ladet er Jesum for sich, v. 1065) zu einer Befragung, die offenbar ohne Zuhörer stattfindet. Danach geht er von Jesus weg und ruft ,die Juden‘ zu sich (Pilatus Jesum do vorliez, / die juden er vor sich komen hiez, vv. 1093f.) – an der entsprechenden Stelle im lateinischen Nikodemusevangelium (cap. IV 1) geht Pilatus aus dem Prätorium heraus. Danach lässt Pilatus (wie im Nikodemusevangelium, cap. IV 2) die Ältesten ,der Juden‘ zu sich kommen (Pilatus ladete aber sint / under den juden die grisen, vv. 1116f.), dann erneut Jesus (Do ladet er Jesum for sich, v. 1127). Nach dem lateinischen Nikodemusevangelium (cap. IV 3) werden ,die Juden‘ hier wiederum aus dem Prätorium herausgeschickt, hören aber trotzdem, was Jesus Pilatus antwortet.6 Dieser Bruch ist im Evangelium Nicodemi durch das Wegfallen konkreter Ortsangaben aufgehoben, wobei die jeweiligen Aktivitäten des Pilatus jedoch beibehalten sind.
Wenn sich die Ankläger zur Beratung zurückziehen (vv. 1268f.), während Pilatus auf dem Gerichtsstuhl sitzenRichterSitzen (während der Verhandlung) bleibt (v. 1275),7 und dann wieder hereinkommen (Die juden giengen in da mite, v. 1285), wird noch einmal deutlich, dass dort, wo Pilatus zu Gericht sitzt, ,innen‘ ist. Dass sich die Ankläger überhaupt zur Beratung zurückziehen, ist eine Zutat Heinrichs von Hesler, die erzähltechnisch vor allem dazu dient, die verwerflichen Intentionen ,der Juden‘ deutlich zu machen (vv. 1270–1274). Die Beratung der Ankläger korrespondiert aber mit den rechtlichen Möglichkeiten, wie sie im Sachsenspiegel (Ldr. I 62,9)Eike von RepgowSachsenspiegelLdr. I62,9–10 entworfen werden, nämlich dass sich Ankläger wie auch Beklagte bis zu dreimal vor jeder Rede beraten dürfen, bis sie der Fronbote wieder vorlädt – die Beratung findet also außerhalb des Gerichts statt, das als der Ort definiert wird, an dem der Richter mit Urteilen richtet (vgl. Ldr. I 62,10).8Eike von RepgowSachsenspiegel Eine vergleichbare Auffassung von ,Gericht‘ könnte den Bearbeitungsstrategien im Evangelium Nicodemi zugrunde liegen, denn auch in der Passage der Erzählung über den Prozess, die dem Johannesevangelium (19,8–11)Neues TestamentJohannesevangelium Io19,8–11 folgt (vv. 1452–1470), ist das Prätorium getilgt: Es heißt nur, dass Pilatus ,die Juden‘ heraustreibt (die juden er dar uz treib, v. 1454), und dann – abweichend vom Johannesevangelium –, dass sie wieder hereinkommen (Die Juden wider in traten, v. 1471).
Das gerihte als Gerichtsort9 wird lediglich zu Beginn des Prozesses mehrfach benannt, zuerst als gesagt wird, dass Pilatus aufgestanden und von deme gerihte weggegangen sei (vv. 785f.), nachdem er seinen Läufer zu Jesus geschickt hat.10 Aus den folgenden Versen, in denen es darum geht, dass ,die Juden‘ die Art der Vorladung kritisieren (vv. 787–797), wird erkennbar, dass die Ladung for daz gerihte (v. 795) offenbar mit einer Ladung zu hofe (v. 791) identisch ist. Auch hier dürfte aber nicht ein konkretes Gebäude gemeint sein, sondern eine gerichtliche Versammlung unter Vorsitz des Herrschenden.11 Entscheidend ist der Ort des Gerichts durch den Richtstuhl definiert, bei dem auch die Träger der vanen stehen müssen (vv. 841; 854f.). Pilatus verlässt das gerihte nach der Handwaschung, von der in Anlehnung an das Matthäusevangelium (27,24)Neues TestamentMatthäusevangelium Mt27,24 erzählt wird (vv. 1520–1522). Insgesamt wären die Örtlichkeiten mit einem deutschrechtlichen Verfahren kompatibel, wobei dieser Effekt durch Vagheit erreicht wird, nicht durch eine explizite Neukontextualisierung.
Auch der Verfahrensablauf ist nicht ausdrücklich deutschrechtlichRechtsordnungen‚deutsches‘ Recht geprägt. Dass Nikodemus (vv. 1155–1159) und die ersten der Geheilten (vv. 1199–1201; 1220–1222) Pilatus um Redeerlaubnis bitten, ist bereits im Nikodemusevangelium (cap. V 1; VI 1) vorgeprägt. Jedoch zeigt die Antwort des Pilatus „Sprich, des dich got ermane.“ (v. 1201), dass zeitgenössische christliche Vorstellungen eingeflossen sind.12 Die Forderung ,der Juden‘ „[…] / so ha disen als einen dieb“ (v. 1412) dürfte vom Erzähler vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Strafrechts konzipiert sein.13 Verfahrensrechtliche Aktualisierungen finden sich nur vereinzelt, so zu Beginn des Verfahrens, als die Ankläger Pilatus bitten, frühmorgens, bevor er gegessen habe, Gericht zu halten (vv. 720–724).14 Wahrscheinlich handelt es sich auch bei dem Detail, dass Pilatus mit seiner Hand Schweigen gebietet (v. 871), um ein Element der zeitgenössischen Gerichtspraxis.15 In der Läufer-Episode klingt in dem Vorwurf ,der Juden‘, Jesus habe mit butels stimme (v. 790) vorgeladen werden sollen, und in der nachfolgenden Bezeichnung des Läufers als schergen (v. 825) und butel (v. 827)16 ein deutschrechtlicher Kontext an, der durch die Übersetzung von praecoBüttel, Fronbote, Gerichtsbote zustande gekommen ist, aber dadurch verstärkt wird, dass ,die Juden‘ bemängeln, Jesus sei nicht seinem Vergehen angemessen geladen worden (vv. 794–797).17 Jedoch bemüht sich der Erzähler, das Verfahren deutlich in römischer Zeit anzusiedeln, wenn er die Funktion der Fahnen erläutert.
Do pflagen si al geliche
uber romische riche,
swa rihter zu gerihte saz,
daz er des nimmer vorgaz:
als er wolde dingen,
man must zuhant bringen
an den stulRichterSitzen (während der Verhandlung) des riches vanen,
dem ungerehten zu banen,
dem rehten zu heile,
daz er da der urteile
al deste baz bequeme;
swa man den vanen vorneme
und des koniges gewalt,
swer da worde bezalt
mit unrehten dingen,
daz er den mohte betwingen
mit des keiseres craft. (vv. 835–851)
Obwohl mit der Zeitangabe Do ein zeitlicher Abstand angezeigt wird, der auch das romische riche, von dem gesprochen wird, in der Vergangenheit verortet, ist die Charakterisierung der Fahnen des Reiches (des riches vanen, v. 866)18 als Zeichen königlicher bzw. kaiserlicher Gerichtsgewalt19 mit Vorstellungen zur Entstehungszeit vereinbar.20 Und die Gerichtsverhandlung wird mit Vokabular (wie dingen, v. 839) beschrieben, das konnotativ zeitgenössische Verfahrensweisen aufruft.21RichterSitzen (während der Verhandlung) Von überzeitlicher Qualität ist das Konzept des guten Richtens, das hier eingeführt wird und die gesamte Prozessdarstellung durchzieht: Die Fahnen am Richtstuhl sollen dem Recht zum Durchbruch verhelfen, indem sie den Richter darin unterstützen, besser zu einem Urteil zu gelangen und mit bestochenen Prozessteilnehmern umzugehen.22Rechtsbücher Die Verse betonen einerseits die VerantwortungRichterVerantwortung, die der Richter trägt, lassen andererseits aber erkennen, dass er mit Schwierigkeiten konfrontiert sein kann, das Recht durchzusetzen.23
Wie zu zeigen sein wird, ist die Verteilung der Verantwortlichkeiten ein leitendes Prinzip bei der Ausgestaltung des Verfahrens: Schon vor Beginn der Prozessschilderung begegnet eine signifikante Änderung gegenüber der Vorlage. Kaiphas nämlich macht seine Aussage, dass es besser sei, dass ein Mensch sterbe, als dass das Volk verderbe (vv. 414–416), nicht im Hohen Rat (vgl. Io 11,47–50Neues TestamentJohannesevangelium Io11,47–50), sondern bei einem heimlichen Treffen mit Pilatus, der sich dagegen verwahrt und die Unschuld Jesu bekräftigt (vv. 422–424). Als ,die Juden‘ Pilatus dann später bitten, eine Gerichtsverhandlung abzuhalten, legt Pilatus das Rechtsprinzip dar, dass niemand schuldlos verurteilt werden sollte:24
Pilatus sprach: „Durch welche schult?
ir wizzet wol, daz ir ensult
in vorteilen wan mit rehte.“ (vv. 725–727)
Der Richter fungiert hier als Garant eines rechtmäßigen Verfahrens, das Verurteilen liegt aber offenbar nicht in seinen Händen.
Pilatus ist zögerlich, ein Verfahren zu eröffnen: Zwar lässt er, nachdem ,die Juden‘ ihm ihre Anklagen vorgebracht haben (vv. 728–766),25 Jesus durch seinen Läufer höflich zu sich bitten (vv. 767–770), jedoch handelt es sich, wie ,die Juden‘ beklagen (vv. 787–797), nicht um eine gerichtliche Vorladung, und Pilatus befindet sich auch nicht am Ort des Gerichts, als Jesus vom Läufer zu ihm geleitet wird, denn er ist von seinem Richtstuhl aufgestanden und von dem gerihte gegangen (vv. 785f.). Die von Pilatus angeordnete zweite Herbeiholung Jesu durch den Läufer ist mit dem Fahnenwunder verbunden, das beim Richtstuhl verortet sein muss. Auf das wiederholte Fahnenwunder reagiert Pilatus mit großer Angst (vv. 915f.) und will Jesus sogar freilassen (und getorst en niht vorwazen / und wold en han lazen, vv. 917f.).26 Das Verfahren nimmt aber offenbar erst seinen eigentlichen Anfang,27 als Pilatus angesichts des Zaubereivorwurfs ,der Juden‘ (vv. 928–938) Jesus erneut (anderweide) zu sich kommen lässt (vv. 939f.), was wohl bedeutet, dass er vor den Richtstuhl gestellt wird.28 Dabei hatte seine Frau Pilatus gewarnt, den rehten zu verdammen bzw. zuzulassen, dass man ihn vor ihm strafe (vv. 919–926) – wiederum eine interessante Zweigleisigkeit hinsichtlich der möglichen Verantwortlichkeiten.
Verantwortung liegt auch bei denjenigen, die bei der Verhandlung anwesend sind. Positiv nehmen die zwölf – wie im Nikodemusevangelium (cap. II 4) namentlich genanntenZeugennamentliche Nennung – Juden ihre Verantwortung wahr, wenn sie den Lügen der Ankläger entgegentreten (vv. 960–989) – unter GefahrZeugenGefahr für Zeugen für ihr Leben (v. 981).29 Von den Leuten, die zu einem späteren Zeitpunkt des Prozesses heimlich weinen, wird gesagt, dass sie sich nicht getraut hätten, gegen die schlechte Behandlung Jesu vorzugehen (vv. 1145–1150). Im Nikodemusevangelium (cap. IV 5) ist weder von der Heimlichkeit des Weinens noch von angstvoller Untätigkeit die Rede. Dadurch wird im Evangelium Nicodemi suggeriert, dass daz volk (v. 1145) eine Mitwirkungsmöglichkeit hätte; ihm wird so die Funktion eines UmstandesUmstand zugeschrieben. Pilatus geht sogar auf die indirekten Signale der Menge ein (vv. 1151–1154).
Vor allem verlässt er sich aber auf seine Einschätzung der ,Beweislage‘: Er verkündet nicht nur (ähnlich wie im Nikodemusevangelium) mehrfach die Unschuld Jesu (vv. 1036–1044; 1096f.; 1111; 1119–1121; 1444f.; 1475f., auch schon vor dem Prozess: vv. 423f.), sondern benennt darüber hinaus klar Recht und Unrecht, einmal gegenüber den zwölf Juden und Nikodemus („Daz ist niht gut, / daz man im unrehte tut.“, vv. 1033f.), ein weiteres Mal öffentlich in der Barrabas-Szene.30 Pilatus nimmt außerdem eine ausdrückliche Bewertung vor, wenn er das Verhalten der Ankläger tadelt:31 Sie wollten unschuldic sin der tat, aber gäben vehement den rat, dass Jesus getötet werden solle. Sie wiesen ihm, Pilatus, die werc zu, jedoch sei der verbale Rat schlimmer als die TatRat und Tat (vv. 1056–1064).32 In einer Erweiterung seiner bereits im Nikodemusevangelium (cap. IX 2 [7,2 (G/I)]) existenten Scheltrede gibt Pilatus außerdem klar zu erkennen, dass er es als List ,der Juden‘ erkannt habe, dass sie ihm mit dem Kaiser drohten (vv. 1371–1377).
Wie kommt es aber bei dieser Konstellation überhaupt zur Kreuzigung? Eine erste Aufforderung ,der Juden‘, Jesus kreuzigen zu lassenStrafeKreuzigung, weist Pilatus zurück – auch weil er viele im Volk weinen sieht (vv. 1138–1154). Im Text bleibt unklar, ob die UrteilsfindungUrteilUrteiler, Urteilergremium planmäßig bei ,den Juden‘ liegt oder ob Pilatus sie ihnen ad hoc zugewiesen hat: Auf die Aufforderung ,der Juden‘ „nu rihte uns, Pilate! / […]“ (v. 1136), da er doch jetzt die Schuld Jesu gehört habe, hatte Pilatus erwidert, wenn Jesu Worte ein Grund zur Verurteilung seien, sollten sie selbst über ihn Recht sprechen.33 Auf jeden Fall wird das Verfahren hier nicht abgeschlossen, weil er, der Richter, das Urteil nicht ausgibtUrteilAusgabe. Nachdem ihm ,die Juden‘ mit dem Kaiser gedroht haben, wenn er Jesus trotz seines (politischen) Anspruchs auf das Königtum ungestraft lasse, erhebt sich PilatusRichterSitzen (während der Verhandlung) zornig und unterbricht so – vor seiner großen Scheltrede (vv. 1319–1377) – die Verhandlung (vv. 1302–1318).34 Der Hinweis von Kaiphas und Annas, dass Jesus derjenige sei, den Herodes damals beim Kindermord gesucht habe, und er ihn um dessentwillen bestrafen solle, veranlasst Pilatus, Jesus zu Herodes zu schicken (vv. 1378–1418). Dass auch Herodes Jesus nicht verurteilen will, erklärt Pilatus ‚den Juden‘ so, dass sie beide keine Schuld an Jesus fänden. Er ist jedoch mit der Bitte ,der Juden‘ konfrontiert, daz er in [Jesus] rihten wolde, / als er zu rehte solde (vv. 1441f.). Pilatus bietet daraufhin ,den Juden‘ an, dass sie ihre Klage zurückziehen und Jesus mit einer veme belegen könnten,35 was sie jedoch gemeinschaftlich ablehnen (vv. 1443–1451). Es folgt eine private Unterredung des Pilatus mit dem Angeklagten, in der er betont, dass er gewalt habe, ihn freizugeben oder ans Kreuz schlagen zu lassen (vv. 1452–1470; vgl. Io 19,10f.Neues TestamentJohannesevangelium Io19,10f.). Als ,die Juden‘ danach Pilatus erneut bitten, über Jesus zu richten, betont Pilatus wiederum dessen Unschuld (vv. 1471–1476). Statt einer folgerichtigen Freilassung wird jedoch erzählt, wie ,das Volk‘, provoziert (v. 1477), bereits bekannte Anklagen (Anspruch, Gottes Sohn zu sein, Zerstörung der e, Betrug des Volkes, Ungehorsam gegenüber dem Kaiser) noch einmal vorbringt (vv. 1478–1487). Angesichts der politischen Zuspitzung reagiert Pilatus mit den Worten: „So tut mit ime swes ir gert.“ (v. 1488). Die folgenden Verse sind vom Herausgeber folgerichtig der Menge zugeordnet, die das Urteil festlegtUrteilUrteiler, Urteilergremium:36Richterselbsturteilender Richter
„Man sal in erst mit besmen37 slan[.]
und sider an daz cruze han
nach kuniclicheme rehte.“ (vv. 1489–1491)
Abgesehen davon, dass es heilsgeschichtlich notwendig ist, dass die Kreuzigung erfolgen muss, liefert der Text auch Indizien, die den Verhaltensumschwung des Pilatus zumindest im Ansatz erklären könnten: Anders als zuvor sprechen ,die Juden‘ alle geliche (v. 1480), und sie modifizieren die bisherige Anklage wegen des Königsanspruches Jesu dahingehend, dass sie erklären, dass, wer sich König nenne, gegen das ,Reich‘, also die Autorität des Kaisers, handele (vv. 1478f.; vgl. auch v. 1485). Damit ist die Instanz benannt, von der her Pilatus seine Legitimation als Richter hat. Pilatus fällt im Namen des ,Reiches‘ zwar kein Urteil, aber ,die Juden‘ nehmen für ihr Verdikt ,königliches Recht‘ in Anspruch, berufen sich also auf die herrschaftliche Legitimation des Rechts.38 Die Dornenkrönung und die Verspottung werden dann als Kollaboration zwischen den Hofleuten des Pilatus (Sine ritter und sine knehte, v. 1492) und ,den Juden‘ geschildert (vv. 1492–1519),39 wobei das gesamte Volk beteiligt ist (vv. 1498–1505). Die Verhandlung kommt erst danach zum Abschluss (er [Pilatus] gienc uz deme gerihte), und zwar (nach Mt 27,24f.Neues TestamentMatthäusevangelium Mt27,24f.) mit zwei Stellungnahmen der Beteiligten zur Verantwortlichkeit für das Geschehen (vv. 1520–1529): Pilatus wäscht sich die Hände und beteuert, dass er an der tat unschuldig sei; ,den Juden‘ ist der sogenannte BlutrufJudenBlutruf in den Mund gelegt: „Uber uns und uber unse kint / ge die rache sines blutes.“ (vv. 1528f.).40Neues TestamentMatthäusevangelium Mt27,25
Wie in Christi Hort werden in der Pilatus-Veronika-LegendePilatus-Veronika-Legende die Verantwortlichkeiten aufgearbeitet; im Evangelium Nicodemi gilt das sowohl für Pilatus als auch für ,die Juden‘. Die Rolle des Pilatus im Prozess wird zunächst wohlwollend von seinem Boten Adrian (gegenüber Vespasian)41 geschildert (vv. 3972–3991).42 Danach hätten ‚die Juden‘ Jesus ans Kreuz geschlagen; sie hätten Pilatus gebeten, ihn wie einen Dieb zu verurteilen. Pilatus habe das nicht gewollt, habe sich jedoch gegen die große Menge nicht durchsetzen können und deren Willen nachgegeben. Interessanterweise wird hier ein Erklärungsmodell aktiviert, wie es sich auch in Diu urstende findet, nämlich dass der Richter den GerichtsfriedenGerichtsfrieden nicht aufrechterhalten konnte.43 Über die Figur Adrians wird nachträglich eine mögliche Motivation für das Handeln des Pilatus angeboten, die in der eigentlichen Prozessschilderung fehlt.
Pilatus hatte Adrian aus Angst um sein Amt ausgeschickt, das er von romischer hant hielt (v. 3896). Adrian sollte herausfinden, ob in Rom jemand gegen ihn Klage erhebe (vv. 3890–3904). Tatsächlich muss sich Pilatus später in Jerusalem gegenüber den Boten des Tiberius, Alban und Volusian, verantworten. Als ein ‚Ritter‘ des Pilatus ihnen gegenüber aussagt, Jesus habe auf den Rat ,der Juden‘Rat und Tat hin ein bitteres Ende durch Pilatus genommen (vv. 4282–4287), setzen die Römer Pilatus und ‚sein ganzes Geschlecht‘ gefangen (vv. 4294f.),44 damit er einer kaiserlichen Bestrafung zugeführt werden kann (vv. 4296f.). Pilatus beteuert – unter Verweis auf den Blutruf ,der Juden‘JudenBlutruf – seine Unschuld: Er habe ,die Juden‘ beschwichtigt und habe schließlich das Gericht verlassen, nachdem er seine Hände gewaschen habe (vv. 4310–4325). Simeon wirft ihm jedoch vor, nicht gerehtlichen und rehte (v. 4333) gerichtet zu haben, denn die GeißelungStrafeGeißelung sei auf Geheiß des Pilatus geschehen (Do volgte daz werc dinem willen, v. 4336), und er habe gegenüber Jesus gesagt, dass er gewalt habe, ihn gehen oder ans Kreuz schlagen zu lassen;45 deshalb müsse Pilatus seine Schuld bewusst sein (vv. 4326–4345). Die Römer schließen sich dieser Interpretation an und legen Pilatus bis zu einer Verurteilung in Ketten (vv. 4346–4363).46 Von einem Prozess wird nicht mehr erzählt, aber die römischen Boten führen Pilatus gefesseltFesselung des Angeklagten nach Rom (vv. 4455–4458). Dort stuft Tiberius das Verhalten des Pilatus als todeswürdiges Verbrechen ein, die Boten hätten ihn aufhängen sollen (vv. 4474f.). Eine Entscheidung über die Bestrafungsaktion (auch gegen ,die Juden‘) wird auf die Zeit nach der Genesung des Tiberius verschoben (vv. 4485–4487).
Für den Blick zurück auf das Gerichtsverfahren gegen Jesus ist es aufschlussreich, dass sich die Vorwürfe gegen Pilatus sowohl darauf beziehen, dass er den heilenden Gott getötet habe (vv. 4298–4309), als auch darauf, dass Pilatus nicht gerecht gerichtet habe (vv. 4329–4333).47 Nach der Einschätzung der Römer ist Pilatus schuldigRichterVerantwortung geworden, weil er Jesus vor sich schändlich behandeln ließ, obwohl er es hätte ändern können, wenn er sich ehrenhaft verhalten hätte (vv. 4352–4356).48 Das schlechte Gericht des Pilatus wird durch das – nach den Wertmaßstäben des Textes – ,gute‘ Gericht gespiegelt, das der inzwischen zum Kaiser gewordene Vespasian am exakt gleichen Ort abhält, nachdem er Judäa erobert hat:49
und swaz des volkes genas,
daz hiez der konic spannen –
kint, wib mit den mannen –
und furen an die selben stat,
da Jesus vor Pilaten trat,
der alle siechen heilde;
und da man in vorteilde
dem volke zu gesihte,
do saz er zu gerihte.
Do vorteilde er mit rehte
die juden und ir geslehte,
die kint, wib unde man
und tet daruber keiseres ban 50
nach romischen urteilen. (vv. 4678–4691)
Die Betonung, dass Jesus dem volke zu gesihte verurteilt worden sei, suggeriert eine Mitverantwortung des Volkes (an der damaligen Entscheidung). Sie ist bei dem Verfahren gegen ,die Juden‘ nicht gegeben, sondern Vespasian agiert als selbsturteilender RichterRichterselbsturteilender Richter51 und legt sein Urteil als Landesherr in einer Urkunde festSchriftlichkeitKodifizierung des Urteils.52 Die Schuld der gefesseltFesselung des Angeklagten vorgeführten Juden (vgl. auch v. 4692) steht durch den BlutrufJudenBlutruf schon fest, der durch die Verurteilung des gesamten Geschlechts53 implizit präsent ist. ,Die Juden‘ werden nicht nur zur Unfreiheit54Vindicta Salvatoris und zu einer stark eingeschränkten Berufsausübung verurteiltJudenVerurteilung ‚der Juden‘ (vv. 4692–4713), ihnen wird – gleichsam als spiegelnde Strafe – auch die Zeugnis- und GerichtsfähigkeitZeugenZeugnisfähigkeit aberkannt (und daz sie niergen mugen sten / an gezuge noch an gerihte, vv. 4694f.).55Rechtsordnungenkanonisches RechtRechtsbücherSchwabenspiegel
Dass Pilatus und ,die Juden‘ für das ungerechte Verfahren gegen Jesus zur Rechenschaft gezogen werden, zeigt, welche Konsequenzen es hat, wenn das Prinzip, jemanden nur mit rehte zu verurteilen, das Pilatus zu Anfang propagiert hatte (vv. 725–727), nicht befolgt wird. Die moralisierende Deutung des Prozessgeschehens, die im Schlussteil des Textes dominiert, steht in einem Spannungsverhältnis dazu, dass an früheren Stellen die Notwendigkeit des Heilsgeschehens betont worden war: Der Verrat ,der Juden‘ habe geschehen müssen (vv. 393–396), Kaiphas habe unbewusst als Heilswerkzeug fungiert (vv. 414–421).56 Und Jesus sagt im Prozessverlauf nicht nur von Pilatus, dass dessen gewalt gottgegeben sei (vv. 1465–1468),57 sondern deutet das auch für die jüdischen Ankläger an (vv. 946f.). Satan wiederum beansprucht, er habe sein Volk, die ungetruwen juden, und den Richter Pilatus auf Jesus gehetzt (vv. 3131–3185). Die Zusammenschau dieser weit auseinanderliegenden Textpassagen wird der Regie des Textes nicht gerecht, die eindeutig auf die Eigenverantwortung der am Prozess Beteiligten hinsteuert, jedoch zeigt sie, dass das Prozessgeschehen gerade im Evangelium Nicodemi nicht unabhängig vom heilsgeschichtlichen RahmenHeilsgeschichte und Recht zu betrachten ist.58