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3.4 Heinrich von Hesler, Evangelium NicodemiHeinrich von HeslerEvangelium Nicodemi 3.4.1 Entstehungsumfeld und Textgrundlage
ОглавлениеDie Autorschaft Heinrichs von Hesler ist für das Evangelium Nicodemi1 nicht durch eine werkinterne Angabe gesichert: Das Autor-Ich, das den Heiligen Geist um Beistand für sein Werk anruft (vv. 301–361) und die Rezipienten bittet, für sein Seelenheil zu beten (vv. 362–367), bleibt namenlos. Aufgrund sprachlicher und stilistischer Kriterien hat man das Werk jedoch Heinrich von Hesler zugesprochen,2 dessen Name sich in einem deutschsprachigen Apokalypsekommentar (Apokalypse)Heinrich von HeslerApokalypse3Exegetik und in einem – seit der Veröffentlichung des Wolfenbütteler Fragments 1888 – in der Forschung als ErlösungHeinrich von HeslerErlösung bezeichneten Werk findet.4WolfenbüttelHABCod. 404.9 (13) Novi [W13]WolfenbüttelHABCod. 404.9 (19) Novi [W19] In allen drei Werken ist eine idiosynkratische Verrechtlichung der Heilsgeschichte zu beobachten, die es zusätzlich plausibel macht, dass sie von ein und demselben Verfasser stammen.5 Auf dieser Grundlage scheint es gerechtfertigt, Indizien zu Schaffenszeit und -raum des Verfassers und seinem Bildungshintergrund aus allen drei Werken zusammenzutragen bzw. die an der Apokalypse gewonnenen Erkenntnisse für das Evangelium Nicodemi fruchtbar zu machen.
Während sich aus dem Apokalypse-Text lediglich ableiten lässt, dass er vor 1309 entstanden sein dürfte,6Helbling, SeifriedII. Gedicht deutet die Überlieferung aller drei Werke auf ein Wirken Heinrichs von Hesler bereits im 13. Jahrhundert hin:7 Der älteste Überlieferungszeuge für das Evangelium Nicodemi (M) wird ins ausgehende 13. Jahrhundert datiert,8MünchenBSBCgm 5249/55b [M] ebenso wie die Erlanger FragmenteErlangenUniversitätsbibl.Ms. B 2 [E] der Erlösung (E).9 Für ein Fragment der Apokalypse (Se) ist von Karin Schneider im Jahr 2000 sogar eine Datierung in die 60er Jahre des 13. Jahrhunderts vorgeschlagen worden.10ColmarArchives Départementales du Haut-RhinFragments de Ms. no. 332 [Se] Diese Datierung der Fragmente hat die Annahmen hinsichtlich des zuvor für die Zeit um 1300 angenommenen Schaffenszeitraums Heinrichs von Hesler11 entscheidend verändert und neue Perspektiven auf die von Heinrich eventuell benutzten Quellen und seine literarhistorische Stellung eröffnet.12
Wenn Heinrich von Hesler kurz nach der Mitte des 13. Jahrhundert literarisch tätig war, ist es zudem möglich, ihn mit einem Heinricus de Heseler zu identifizieren, der in Urkunden des Naumburger Bischofs aus dem Zeitraum von 1277 bis 1287 als Schultheiß (von Naumburg) aufgeführt ist.13 Dann hätte er für das Hochstift die niedere Gerichtsbarkeit ausgeübt,14 wäre also mit rechtlichen Abläufen vertraut gewesen. So passend ein solches Amt für Heinrich von Hesler angesichts des in seinen Werken zu beobachtenden Interesses an Rechtsfragen erscheint, die Identifizierung des Autors mit Heinricus de Heseler ist nicht zu beweisen. Es lassen sich aber zumindest Indizien für die im Hinblick auf eine solche Identifizierung notwendigen Voraussetzungen finden: Heinrichs Wirken in Thüringen und sein vermutlicher Laienstand. Zwar war bereits im 19. Jahrhundert in Betracht gezogen worden, dass das hus Hesler auf den Sitz des im ca. 15 km von Naumburg entfernten Burgheßler ansässigen Geschlechts der Herren von Hesler verweisen könnte,15 jedoch schien der aus der Überlieferung rekonstruierte Sprachstand der Dichtungen nicht diesem Wirkungsort zu entsprechen, sodass man annahm, dass Heinrich von Hesler im Deutschordensland tätig gewesen sei.16 Da die niederdeutschen Elemente in der Sprache Heinrichs von Heslers17 aber mittlerweile als typisch für das nördlichste Thüringisch erkannt worden sind,18 spricht nichts dagegen, dass Heinrich von Hesler in diesem Raum gewirkt hat.19 Damit steht die Aussage des Autor-Ich der ApokalypseHeinrich von HeslerApokalypse im Einklang, dass es für seine Übersetzung einer bestimmten Stelle zu Nebre (v. 16471) getadelt worden sei.20
Aus Selbstaussagen in der ApokalypseHeinrich von HeslerApokalypse hat man außerdem geschlossen, dass Heinrich dem Laienstand angehörte: Zum einen bezeichnet sich das Autor-Ich dort als nothaften rittere (v. 16480),21 zum anderen grenzt es sich selbstbewusst vom geistlichen Stand ab (vv. 6613–6656; 13095–13099).22 Die Aussagen mögen genauso dem jeweiligen Argumentationszweck geschuldet sein23 wie die Kritik an geistlichen und weltlichen Eliten im Evangelium Nicodemi (vv. 4856–4954).24 Auch die in der Apokalypse skizzierte Situation eines höfischen Literaturvortrags (vv. 3699–3720)25 lässt keine sicheren Rückschlüsse darauf zu, dass der Verfasser der anvisierten Rezipientenschicht angehörte.26 Doch könnte die Argumentation, dass das Autor-Ich bei dem gewagten Unternehmen, einen Apokalypsekommentar auf Deutsch abzufassen, nur der ,Schreiber‘ Gottes sei (vv. 755–802),27 auf einen Legitimationsbedarf hindeuten, der vielleicht nicht allein mit der Sprachwahl, sondern auch mit dem Status des Autors zu tun hat.28
Allerdings spricht das Autor-Ich der ApokalypseHeinrich von HeslerApokalypse als Wissender – und Lateinkundiger – zu einem weniger gebildeten Publikum.29 Die Bildung des Verfassers zeigt sich auch an den von ihm verwendeten Quellen, deren Zahl weit über die von ihm selbst genannten Apokalypsekommentare von Beda VenerabilisBedaExplanatio apocalypsis und Ambrosius AutpertusAmbrosius AutpertusApokalypsekommentar hinausgeht:30
Insgesamt erscheint Heinrichs Apokalypse so als eine compilatio aus den wichtigsten Apokalypsekommentaren und theologischer Grundlagenliteratur des frühen und hohen Mittelalters, die aber deutlich eigene Akzente setzt und nicht nach der Art der scholastischen Wissenschaft seiner Zeit, sondern weit eher nach der ‘Mönchstheologie’ des 12. Jahrhunderts gearbeitet ist. Die sehr intensive und reiche Quellenbenützung, von der Heinrich selbst spricht [sc. vv. 1303–1307], macht im übrigen den Zugang zu einer guten Bibliothek zur Voraussetzung für Heinrichs Arbeit; zugleich aber stellt sich mit ihr die Frage nach seiner Ausbildung und seinem Bildungsstand noch zwingender.31Exegetik
Mit Naumburg als Domstadt, dem Stift Zeitz, der Bischofsstadt Merseburg und dem Zisterzienserkloster (Schul-)Pforta müssen in erreichbarer Nähe von Burgheßler und Nebra gute Bibliotheksbedingungen vorhanden gewesen sein,32 doch wer hatte zu den Bibliotheken Zugang? Wenn Heinrich von Hesler tatsächlich ein ,Laie‘ war – worauf der Gesamtbefund hindeutet –,33 dürfte er auf jeden Fall zu jener Gruppe lateingebildeter Laien gehört haben, deren Existenz im Spätmittelalter die Grenzen zwischen clerici litterati und laici illitterati verwischen ließ.34
Für die Interpretation des Evangelium Nicodemi ist der Bildungshintergrund Heinrichs von Hesler insofern von Bedeutung, als die Erzählung von Passionsgeschichte, Höllenfahrt Jesu und der Pilatus-Veronika-LegendePilatus-Veronika-Legende dort in ein umfassendes Erklärungsmodell zu Sündenfall und ErlösungHeilsgeschichte und Recht eingebunden ist.35 Welche theologischen Quellen benutzt sind36 bzw. in welches geistige Umfeld sich das Konzept einordnen lässt, ist nicht abschließend geklärt.37 Peter Wiedmers (1977) These, dass Heinrich von Hesler maßgeblich von BonaventuraBonaventura beeinflusst worden sei,38 ist sowohl inhaltlich als auch aus chronologischen Gründen neu zu diskutieren.39 Es ließ sich aber mit dem Konzept der necessitas immutabilitatis eine Nähe zu scholastischem Gedankengut feststellen,40 sodass zu fragen ist, ob das Fehlen einer scholastischen Methode wirklich mit dem Bildungsstand des Autors oder – zumindest beim Evangelium Nicodemi – nicht eher mit der Textgattung zu tun hat.
Das Evangelium Nicodemi teilt die Traktat- bzw. Predigthaftigkeit in den diskursiven Passagen mit vielen Werken der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsliteratur.41 Auch inhaltlich bestehen Parallelen; als Beispiel sei nur der Auslegungsexkurs zum Kreuzeswort „Eli / lamasabatani!“ (vv. 1927f.) genannt (vv. 1929–2178),42 in dem nicht nur darauf verwiesen wird, dass Jesus den Beginn des 21. PsalmsAltes TestamentPs21[22] (nach der Zählung der Vulgata) ausspricht (vv. 2035–2044),43 sondern er genau nach der Fassung der Septuaginta übersetzt wird.44 Im Kontext der Stelle geht es vor allem um die Erfüllung der schrift (vgl. z.B. v. 2028), nicht um ein Psalmengebet Jesu, aber die Passage ist auch in dem Kontext zu sehen, dass der Einschub respice me in der Passionsliteratur meist dann zitiert wird, wenn ausgedrückt werden soll, dass Jesus am Kreuz Psalmen gebetet habe.45 Der differenzierte Umgang mit dem Wortlaut des Kreuzeswortes deutet darauf hin, dass Heinrich von Hesler mit solchen Überlegungen vertraut war.
Mit größerer Eindeutigkeit sind die Quellen für den Ablauf der Erzählung zu bestimmen. Die Kombination der Erzählkomplexe ,Nikodemusevangelium‘ und ,Pilatus-Veronika-Legende‘Pilatus-Veronika-Legende hat Heinrich von Hesler vermutlich bereits aus seiner Vorlage übernommen, in der das Nikodemusevangelium und die Cura sanitatis TiberiiCura sanitatis Tiberii als Texteinheit vorgelegen haben dürften.46 Weil die lateinische Vorlage streckenweise recht genau übersetzt wird, ließen sich die jeweiligen Textredaktionen identifizieren: die Rezension Lateinisch A des NikodemusevangeliumsNikodemusevangeliumRezension Lateinisch A und die B-Fassung der Cura sanitatis TiberiiCura sanitatis Tiberii.47 Allerdings finden sich in beiden Textteilen auch Ergänzungen des Handlungsablaufes: Für den auf dem Nikodemusevangelium beruhenden Teil ist zusätzlich auf die kanonischen Evangelien zurückgegriffen worden;48Heinrich von HeslerApokalypse bei der Pilatus-Veronika-LegendePilatus-Veronika-Legende ist die Cura sanitatis Tiberii offensichtlich mit der Historia apocrypha der Legenda aureaHistoria apocrypha der Legenda aurea49 kompiliert, sodass es zu einer Verdoppelung der Boten von Tiberius gekommen ist.50 Einzelne Züge der Pilatus-Veronika-LegendePilatus-Veronika-Legende sind außerdem wohl aus der Sächsischen WeltchronikSächsische Weltchronik übernommen, die hinter der konige buchen (v. 4718) zu vermuten ist, die in der das Werk beschließenden judenfeindlichen Invektive ausdrücklich als Quelle benannt sind.51
Inwieweit Heinrich von Hesler die Kompilation der Quellen selbst vorgenommen hat, ist nicht mit Sicherheit zu sagen.52 Jedenfalls lässt sich als durchgehend dominierendes Prinzip bei der Kompilation beobachten, dass das Vorgefundene möglichst bewahrt wird (so wie bei der Verdoppelung der Boten), selbst wenn auf diese Weise inhaltliche Spannungen entstehen: Die Gefangennahme Jesu (vv. 600–623; 710f.) nach den kanonischen Evangelien wird mit seiner Vorladung (vv. 767–918) nach dem Nikodemusevangelium kombiniert;53 Tiberius ist durch den schriftlichen Bericht des Pilatus eigentlich schon über das Schicksal Jesu informiert und reagiert zornig (vv. 3824–3855), bricht aber erst in Klagen aus, als seine Boten ihm davon berichten (vv. 4468–4471);54Epistola Pilati ad ClaudiumPilatus-Veronika-Legende oder: Veronika lässt, nachdem sie zunächst das Bildnis Jesu für Geld nicht hat hergeben wollen (vv. 4438–4443), es dann doch in Rom und wird vom Kaiser für ihre Reise entlohnt (vv. 4521–4529).55 Die bewahrende Grundhaltung, die Kürzungen jedoch nicht ausschließt,56 geht einher mit einer Ausgestaltung des vorgefundenen Materials, die eigene Akzente setzt: So zeigt zum Beispiel die Ankunft Jesu in der Hölle eine größere Dramatik als im lateinischen Nikodemusevangelium;57 auch die Dialoge zwischen Satan und ,der Hölle‘ sind ausgeweitet worden (vv. 3011–3463). Hier finden heilsgeschichtliche Fragen Platz ebenso wie in dem ausführlichen Dialog zwischen dem gelehrten (v. 3899) Adrian und Vespasian (vv. 3941–4193), in dem letzterer von Adrian christlich unterwiesen wird. Solche Dialogpassagen bilden zusammen mit dem Lehrdialog zu Beginn (vv. 1–300) und den Exkursen des Erzählers (vv. 1670–1790; 1929–2178) einen diskursiven Zugang zur Heilsgeschichte, der für das Werk charakteristisch ist. Sowohl die narrativen als auch die diskursiven Passagen kreisen um bestimmte Schlüsselwörter, sodass sich über den Text hinweg semantische Netze entfalten, ohne dass die Summe der Aussagen in ein starres System gepresst werden könnte.58Gottfried von StraßburgTristan
Ob Heinrich von Hesler Diu urstende kannte, ist nicht sicher zu entscheiden, denn die Übereinstimmungen sind außerordentlich gering.59 Das Verhältnis zu Christi Hort ist ebenfalls unklar, auch chronologisch, es sind aber deutlich mehr Entsprechungen festzustellen, sodass ein Rezeptionsverhältnis (in welcher Richtung auch immer) wohl anzunehmen ist, auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Gemeinsamkeiten auf eine weitere Quelle zurückgehen. Über Einzelzüge60 hinaus lassen sich vor allem strukturelle Parallelen ausmachen: Dazu gehört – neben der Kombination der Prozessschilderung nach dem Nikodemusevangelium (Evangelium Nicodemi, vv. 679–1417) mit einem kurzen Prozessschluss nach den kanonischen Evangelien (Evangelium Nicodemi, vv. 1418–1491)61 – der Einstieg in das Werk mit Ausführungen zu Schöpfung, Sündenfall und Erlösung, die dem eigentlichen Prolog vorangestellt sind.62 Die im Evangelium Nicodemi für den Einstieg gewählte Form des Lehrdialogs63 setzt dort jedoch sogleich einen didaktisierenden Akzent, die Narration ist noch mehr aufgebrochen, als es in der Exposition zu Christi Hort der Fall ist. Eine strukturelle Entsprechung findet der Einleitungsteil des Evangelium Nicodemi in der ,Predigt‘ zum Umgang mit ,den Juden‘, in die die Erzählung von der Zerstörung Jerusalems am Ende des Werkes mündet.
Insgesamt ergibt sich für den von Karl Helm (1902) edierten Text folgende Gliederung:64
Lehrdialog zu Schöpfung, Sündenfall und Erlösung (vv. 1–300)
Prolog: Anrufung des Heiligen Geistes, Quellenkritik (vv. 301–392)
Passionsgeschehen vor dem Prozess (vv. 393–678)
Prozess (vv. 679–1491)
Kreuzigung und Grablegung, Gefangennahme Josephs (vv. 1492–2332)
Befragungsszenen (vv. 2333–3793 [Bericht über die Höllenfahrt: vv. 2842–3779])
Brief des Pilatus nach Rom (vv. 3794–3809)
Pilatus-Veronika-LegendePilatus-Veronika-Legende (vv. 3810–4595)
Römische Geschichte bis zur Zerstörung Jerusalems (vv. 4596–4713)
Invektive gegen ,die Juden‘ (vv. 4714–5392)
In der hier skizzierten Form ist das Werk jedoch in keinem der vier Codices erhalten, die es jeweils in weiten Teilen überliefern.65GörlitzBibl. der Oberlausitzischen Gesellschaft der WissenschaftenCod. A III.1.10 [G]AvaJohannesAvaLeben JesuAvaSieben Gaben des Hl. GeistesAvaAntichristAvaDas Jüngste GerichtHeidelbergUniversitätsbibl.Cpg 342 [p]Buch der MärtyrerSchwerinLandesbibl.ohne Sign. (1) [S]Heinrich von KröllwitzVaterunser-AuslegungStuttgartLandesbibl.Cod. theol. et phil. 4° 98 [s]Heinrich SeuseBüchlein der Ewigen WeisheitKlosterneuburgStiftsbibl.Cod. 1242 [N] In der Stuttgarter Handschrift setzt der Text erst mit v. 369 (also dem quellenkritischen Abschnitt des Prologs) ein und endet mit einem an v. 4782 angefügten Schlussgebet.66 Die Heidelberger Handschrift, in der das Evangelium Nicodemi ebenfalls mit v. 369 beginnt, bringt den Text bereits nach v. 3788 (also vor dem Beginn der Pilatus-Veronika-LegendePilatus-Veronika-Legende) zum Abschluss.67 Die erste Lage der Schweriner Handschrift ist beschädigt, es lässt sich aber rekonstruieren, dass sie den Prolog nicht enthalten hat.68 Er ist einzig in der Görlitzer Handschrift überliefert, in der der Auslegungsexkurs zum Kreuzeswort Jesu „Eli / lamasabatani“ (vv. 1927f.) und die Invektive gegen ,die Juden‘ erhebliche Kürzungen aufweisen.69GörlitzBibl. der Oberlausitzischen Gesellschaft der WissenschaftenCod. A III.1.10 [G]Neues TestamentLukasevangelium Lc16,19–31
Arno Mentzel-Reuters (2014) nimmt an, dass das Werk heute überhaupt nur in einer Kurzfassung vorliege: Bei vv. 1–289 (bzw. 290) handele es sich um ein Textstück, das ursprünglich zum Gespräch zwischen Vespasian und Adrian gehört habe; erst mit v. 291 setze ein ,Schöpferpreis‘ ein, der prologartigen Charakter habe.70 In der Tat beginnt mit der Anrede O meister in v. 291 ein neuer Abschnitt, dessen Verhältnis zum Vorangehenden sich wegen einer Fehlstelle vor v. 290, die in der Görlitzer Handschrift ausdrücklich durch eine Leerzeile markiert ist, nicht mehr definitiv klären lässt. Inhaltlich schließen vv. 291–300, die sich auf Sündenfall und Erlösung beziehen,71 aber durchaus an den vorherigen Textabschnitt an.72 Auch ließe sich der Lehrdialog nicht, wie von Mentzel-Reuters postuliert,73 bruchlos in das Gespräch zwischen Adrian und Vespasian einfügen, denn der noch nicht bekehrte Vespasian will z.B. wissen, was Jesus für ein Mensch sei (vv. 3955–3962) und wie er den Tod bezwungen habe (vv. 4009–4019), muss also über Heilstatsachen erst informiert werden. Dagegen fragt der ,Schüler‘ aus einer christlichen Perspektive (vgl. unsen vater Adamen, v. 27) nach den Gründen für das göttliche Handeln (vv. 10–14; 26–29).74
Auch wenn im Folgenden deshalb nicht beweifelt wird, dass die von Helm (1902) abgedruckte Anfangspassage aus der Görlitzer Handschrift als Beginn des Evangelium Nicodemi aufzufassen ist, bleibt die Interpretation des Ausgabentexts problematisch, da es sich um einen Komposit-Text handelt.75SchwerinLandesbibl.ohne Sign. (1) [S]GörlitzBibl. der Oberlausitzischen Gesellschaft der WissenschaftenCod. A III.1.10 [G] Damit ist gerade für die Analyse der Rechtsthematik ein Problem gegeben, denn Prolog und Auslegungsexkurs enthalten dazu zentrale Aussagen, sind aber nirgendwo gemeinsam überliefert. Es wurde erwogen, dass der Auslegungsexkurs eine spätere Hinzufügung sein könnte,76 jedoch gibt es weder stilistisch noch inhaltlich dafür ausreichende Anhaltspunkte.77 Umgekehrt wäre es durchaus plausibel, dass bei einer Konzentration auf die Handlungsebene gerade diskursive Textabschnitte in der Überlieferung planmäßig weggelassen worden wären. Auch wenn keine Sicherheit über den ursprünglichen Textbestand gewonnen werden kann, scheint es deshalb vertretbar, mit Helm einen hypothetischen Text mit Prolog und Auslegungsexkurs zugrunde zu legen.