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3.2.4 reht und ê

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Die Rechtsordnung, die Pilatus vertritt, ist als eine inklusive Ordnung gedacht: Juden und Heiden sind gleichermaßen dingpflichtigDingpflicht (vv. 332–335); sie werden als bei der Gerichtsverhandlung Anwesende aufgeführt, ebenso ,Eigene‘ und ,Freie‘ (vv. 538f.).1 ‚Die Juden‘ scheinen diese Rechtsordnung anzuerkennen, denn es ist ihnen wichtig, dass sie Jesu Tod vor Gericht erwirken (vv. 126–128).2 Die Frage, inwieweit die jüdische Gerichtsbarkeit für die ,Vergehen‘ Jesu zuständig sein könnte, wird in Diu urstende vollständig ausgespart, obwohl sie in den kanonischen Evangelien (Io 18,31Neues TestamentJohannesevangelium Io18,31) wie auch im Nikodemusevangelium (cap. III 1) präsent ist.3 Da auch der Versuch des Pilatus, das Verfahren an Herodes abzugeben, nicht in Diu urstende aufgenommen ist, erfolgt so eine Zuspitzung auf Pilatus als einzigen Richter, die dessen (Fehl-)verhalten besonderes Gewicht verleiht.

Dass die Juden jedoch eine eigene RechtsordnungRechtsordnungenjüdisches Recht besitzen, wird an zahlreichen Stellen des Textes zur Sprache gebracht. Gleich zu Beginn des Textes wird Kaiphas als Hüter der ê eingeführt, eine Aufgabe, die mit seinem geistlichen Amt verbunden ist, das der Erzähler aus christlicher Sicht als Bischofsamt bezeichnet (vv. 93–97).4 Im Folgenden begegnet das Wort ê ausschließlich in der wörtlichen Rede jüdischer Figuren. Als ,die Juden‘ Pilatus bitten, Gericht zu halten, lautet ihr erster Vorwurf gegen Jesus, er habe ihnen reht und ê verdreht und ihnen Irrlehren verkündet (vv. 267–270). Im Prozess selbst wird der Vorwurf in modifizierter Form wiederholt: Jesus schwäche ohne den gebotenen Respekt (unervorht) unser ê und ir gebot (vv. 396f.). Auch die Missachtung der Sabbatruhe wird als Angriff auf die ê ausgelegt (vv. 522–528). An dieser Stelle scheint die Kultgesetzgebung des Alten Testaments gemeint zu sein, und auch an den anderen Textstellen bezieht sich das Wort ê auf das Alte Testament, einmal ganz deutlich auf die Bücher Mose.5 Die ê scheint jedoch nicht völlig identisch mit der ,Schrift‘ zu sein, wie der Vorwurf, Jesus sinne darauf, unser ê und unser schrift zu verhöhnen (vv. 629–632), nahelegt. Aber allzu feine semantische Differenzierungen wird man nicht vornehmen können, da die und-Verbindungen nicht unbedingt zwei kategorial unterschiedliche Dinge miteinander kombinieren, sondern eher dazu dienen, mit der ê verbundene Aspekte (reht, gebot, schrift)6 hervorzuheben.7

Das Possessivpronomen ,unser‘ an den genannten Textstellen zeigt schon an, dass die ê als wichtiges Bindeelement für die jüdische Gruppenidentität angesehen wird.8 Dementsprechend wird die Auseinandersetzung zwischen den ,Christen‘ (vgl. z.B. vv. 1037; 2135) und ,den Juden‘ an der ê festgemacht: ,Die Juden‘ wollen sie retten (v. 1048), auch um sich selbst zu retten (v. 1045); und die ,Christen‘ verkünden ihre Lehre ausgerechnet dort, wo ,die Juden‘ Ratsversammlungen abhalten oder zu Gericht sitzen (vv. 1199–1207).Rechtsordnungenlex vetus vs. lex nova9Neues TestamentApostelgeschichte Act3–5

Für die Prozesshandlung ist entscheidend, dass Pilatus zwar aufgrund der ersten Vorwürfe an Jesus, die sich auf seinen Umgang mit der ê beziehen, das Verfahren eröffnet, dass er aber prinzipiell nur moralische Maßstäbe für eine Verurteilung gelten lassen will. Verurteilen soll das Gericht nach den Worten des Pilatus nur jemanden, der Böses tut, was er bei dem heilenden Jesus nicht gegeben sieht (vv. 510–519). Im Text wird eine Reaktion des Pilatus auf den späteren Vorwurf ,der Juden‘, Jesus habe durch die Heilung des Blinden an einem Sabbat Kultgesetze gebrochen (vv. 620–628), nicht geschildert, aber für den Rezipienten wird gerade durch den Gegensatz zur grundsätzlich moralischen Betrachtungsweise des Pilatus das Klischee der auf dem Buchstaben des Gesetzes beharrenden Juden vermittelt.10

Woher Pilatus seine Gerichtsgewalt hat, wird in Diu urstende nicht thematisiert. Allerdings drohen ,die Juden‘ Pilatus, falls er ihnen nicht nachgibt, (wie in den Vorlagetexten) mit dem Kaiser (vv. 313–318), sodass eine übergeordnete Instanz erkennbar wird. Vor diesem Hintergrund könnten die Fahnen, die Pilatus nâch sînem rehte (v. 274) vor sich her tragen lässt, auf den ihm verliehenen GerichtsbannRichterGerichtsbann bezogenGerichtsbannRichter worden sein.11Neues TestamentJohannesevangelium Io19,10f.

Wenn es heißt, dass Pilatus nâch sînem rehte (v. 274) Fahnen mit sich führt, so ist damit sein subjektives RechtRechtsordnungenobjektives vs. subjektives Recht bezeichnet.12 In einem subjektiven Sinn wird in Figurenreden auch dem Tod sîn reht (v. 954; des tôdes reht, v. 1650) zugestanden. Handelt es sich dabei um eine bildhafte Sprechweise, oder wird hier das Sterben des Menschen in einen größeren rechtlichen Zusammenhang gestellt? Die damals weit verbreitete VorstellungHeilsgeschichte und Recht, dass der Teufel sich mit dem Sündenfall ein Recht auf die Menschheit erworben habe,13Anselm von Canterbury wird in Diu urstende nicht explizit formuliert. Wenn das Höllenvolk den Teufel warnt, auf ewig die Herrschaft (des gewaltes, v. 1796) zu verlieren, geht daraus nicht hervor, ob die Herrschaft rechtmäßig erworben wurde. Allerdings setzt das Argument, der Teufel könne von Jesus, von dessen menschlicher Natur der Teufel überzeugt ist (vv. 1769–1787), betrogen worden sein (vv. 1788–1793), voraus, dass ein solcher Betrug notwendig ist, der Teufel also ein Recht auf die Menschheit hat.14 Deshalb wird man die Aussage der Simeonsöhne, dass Jesus für die Seelen in der Vorhölle die Pfänder ausgelöst habe (er lôste uns elliu unsriu phant, v. 2051), auch als Hinweis auf einen umfassenderen rechtlichen Rahmen der Heilsgeschichte deuten dürfen.

Die rechtliche Auffassung der Heilsgeschichte ist für die Erzählung von der Höllenfahrt jedoch nicht prägend, sondern nur punktuell über Rechtswörter fassbar. So ist in der Rede Johannes des Täufers, die die Simeonsöhne wiedergeben, vom ,Folgen eines Urteils‘ die Rede, womit in rechtlichen Kontexten häufig die Zustimmung zu einem Ersturteil bezeichnet wird:15

[…]

und wizzet daz er [sc. Jesus] iuch hie holt

mit gewalt in churzer zît.

unz unser vîent gelît

in sînem pfuole gesolget,

der urteil ist gevolget

die der wîssage über in gap.

er sprach: ‘er muoz in sîn grap

vallen dâ er ez bereitet hât;

sîn grap im selben offen stât.’ (vv. 1836–1844)

Johannes zitiert hier Psalm 7,15f.Altes TestamentPs7,15f., wonach der, der Böses im Sinn hat, zu Fall kommen wird. Nach dem Kontext des Psalms (7,12–14)Altes TestamentPs7,12–14 ist das als Strafe Gottes zu verstehen, der ein gerechter Richter ist. In der Rede des Johannes ist dagegen die Aussage des Psalmisten zu einem urteil umgedeutet worden, wobei er als wîssage wohl als Sprachrohr Gottes gelten darf.

Dass die Konsequenzen des eigenen Handelns einen einholen werden, wird auch im Hinblick auf die Menschen formuliert, und zwar von Joseph, wenn er ankündigt, dass Jesus gewaltic an gerihte wiederkehren wird (vv. 1470–1478). Alle, die Gottes Namen auf Erden verleugnet (verlougent, v. 1475) hätten, müssten sich der phlihte schämen; sie stünden dann zur Linken Gottes. Die Bedeutung von phlihte an dieser Stelle ist schwer zu bestimmen. Angesichts des Bedeutungsspektrums von phlihte16 scheint es nicht das Negativum zu bezeichnen, das den Grund der Scham bildet, sondern die Sache, in Bezug auf die sich geschämt wird, wahrscheinlich die (nicht erfüllte) Pflicht Gott gegenüber, die Wahrheit zu sagen.17Neues TestamentJohannesevangelium Io3,1–21Heinrich von MünchenWeltchronik Sowohl inhaltlich als auch über das Wort phlihte wird ein rechtlicher Kontext aufgerufen, der anklingen lässt, dass es Wertmaßstäbe gibt, die für Gerichtsverfahren auf Erden wie auch für das Jüngste GerichtJüngstes Gericht gelten.

Die prekäre Situation, dass mit Jesus zugleich die Verkörperung göttlicher Gerechtigkeit vor einem Gericht steht, wird in Diu urstende nicht thematisiert. Zwar veranlassen die Wunderzeichen nach seinem Tod die arbeitende Bevölkerung Jerusalems18 zu dem Ausspruch ‘hic homo iustus erat’ (v. 783), den der Erzähler mit ‘dirre mensche was reht’ (v. 785) übersetzt,19Neues TestamentLukasevangelium Lc23,47 doch geht es an dieser Stelle nicht um die göttliche Gerechtigkeit, sondern darum, dass mit Jesus ein rechtschaffener Mensch unschuldig hingerichtet worden ist.

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