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1.5 Vorgehensweise und Zielsetzung

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Der bei Thomas von Aquin formulierte Grundsatz, dass alles, was rezipiert wird, nach der Art und Weise des Aufnehmenden rezipiert werde,1Thomas von AquinSumma TheologiaeIª q. 75 a. 5 co.Thomas von AquinSumma TheologiaeIª q. 75 a. 6 co. ist dort auf die immaterielle Seele bezogen, lässt sich aber auch als hermeneutisches Prinzip lesen.2 Losgelöst von ihrem argumentativen Kontext kann die Formel die Standortgebundenheit des Interpreten beschreiben, der seine eigenen Voraussetzungen bei der Rezeption eines Werkes nicht ausschalten kann.3 Der Standortgebundenheit des Rezipienten steht eine gewisse ,Standortgebundenheit‘ literarischer Texte gegenüber: Zwar können sie in individuellen Lektüren immer neuen Sinn entfalten, doch gibt es auch Sinndimensionen, die von den externen Bezugsfeldern ihres ursprünglichen Entstehungsumfelds abhängig sind – das haben die Überlegungen zur Realitätsreferenz von Erzähltexten noch einmal vor Augen geführt. Gerade für den Bereich des Rechts ist eine solche kulturelle Verankerung besonders relevant, weil er nicht nur Vorstellungen von Recht und Unrecht umfasst, die einen tendenziell überzeitlichen Charakter haben, sondern auch Verfahrensweisen, die einem starken historischen Wandel unterliegen. In den Kerntexten sind wegen der Verwobenheit heilsgeschichtlicher und verfahrensrechtlicher Aspekte auch die Heilsgeschichte betreffende Sinndimensionen nicht losgelöst vom historischen Entstehungskontext zu erschließen.

Um der Beantwortung der eingangs gestellten Frage nach dem Verhältnis von ,Jesus‘ und dem ,Landrecht‘ näherzukommen, ist es also trotz der begrenzten Erkenntnismöglichkeiten des modernen Rezipienten nötig, die Bezugsfelder der Texte zu ihrer Entstehungszeit und ihr ,Hinterland‘, soweit das machbar ist, zu rekonstruieren. In der vorliegenden Studie geschieht das in mehreren Schritten: Zunächst werden die Kerntexte (nach ihrer Situierung in ihrem historischen Umfeld und der Klärung philologischer Fragen zur Interpretationsgrundlage) thematischen Lektüren unterzogen, um die internen Bezugsfelder zu ergründen, d.h., es soll um thematische Netze gehen, die jeweils über den gesamten Text gespannt sind (s. Kap. 3). Die Lektüren sind nach den Aspekten des Gerichtsverfahrens (geriht), der Wahrheit (wârheit) und der Rechtsordnung (reht und ê) gegliedert, die in allen drei Texten – in je unterschiedlicher Gewichtung – sinntragend sind. Die Kategorien sind relativ weit gefasst, weil zum Beispiel ein Konzept juristischer Wahrheit erst in Relation zu anderen Formen der Wahrheit in den Texten an Kontur gewinnt. Die Wahl mittelhochdeutscher Schlagwörter resultiert aus der Überlegung, dass sich die Analyse der Vorstellungswelt der Texte möglichst von ihren inhärenten Systematisierungen leiten lassen sollte. Obwohl bei den thematisch orientierten Lektüren die Sinnbezüge innerhalb der Textwelt im Mittelpunkt stehen, wird bereits bei diesem Arbeitsschritt punktuell kontextuelles Wissen herangezogen, weil auch ein Erstverständnis der Textwelt auf bestimmten Wiedererkennungseffekten (z.B. Modalitäten eines Gerichtsverfahrens) aufbaut, die für einen modernen Rezipienten nicht automatisch gegeben sind.

Die Textanalysen konzentrieren sich auf den Bereich des Rechts, nehmen die ,Standortgebundenheit‘ der Texte also nicht insgesamt in den Blick. Allerdings lassen sich bestimmte Wertstrukturen nicht aussparen. Das betrifft insbesondere die ausgeprägte Judenfeindlichkeit der Texte, da die Erzählung von der Passion Christi mehr oder weniger explizit auf den ,Gottesmörder‘-Vorwurf referiert.4 Neben expliziten abwertenden Aussagen zeigt sich eine antijüdische Haltung in den Kerntexten darin, dass kollektivierend und häufig diffamierend von ‚den Juden‘ als Gruppe die Rede ist.5Neues TestamentJohannesevangelium IoJudenKammerknechtschaft Auch die Bezeichnung einzelner Figuren verrät zumindest eine abgrenzende Haltung gegenüber Juden, wenn aus christlicher Perspektive bestimmte Figuren als ,Juden‘ eingeführt werden, aber ausgeklammert ist, dass Jesus und seine Anhänger selbst Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft waren.6 Zur besseren Identifizierbarkeit sind im Folgenden in der Beschreibungssprache die Benennungen der Figuren in den Primärtexten beibehalten worden. Bei dem kollektivierenden Ausdruck ,die Juden‘ sollen halbe Anführungszeichen in Kurzform anzeigen, dass die in den Primärtexten so bezeichnete Gruppe gemeint ist, nicht allgemein die ethnisch-religiöse Gruppe der Juden.

Wie die Referenzen auf externe Bezugsfelder aus der Entstehungszeit der Texte genau funktionieren, wird im Anschluss an die thematische Analyse der Kerntexte aus produktions- und rezeptionsorientierter Perspektive untersucht, und zwar für den Bereich der kulturellen Aneignung, weil sich bei dezidierten Anpassungen an die Gegenwartskultur solche Bezüge besonders gut fassen lassen (Kap. 4). Die Überlegungen zu den Verfahren, mit denen die Texte auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit referieren, dienen auch als Vorbereitung der Rekonstruktion immaterieller externer Bezugsfelder, die wahrscheinlich für die Produktion und Rezeption der Kerntexte relevant gewesen sein werden. Auf der Grundlage kontextuellen Materials werden für die Aspekte geriht, wârheit sowie reht und ê jeweils vertiefte Interpretationen der Kerntexte erarbeitet, sodass deren Positionierung zu außertextuellen Problemkreisen7 deutlich hervortritt (Kap. 5). Auf der Grundlage der Ergebnisse wird zu prüfen sein, ob sich die innere Logik der Kerntexte auch durch den Bezug auf die aufgezeigten Diskursfelder speist, sie also nicht nur das Passionsgeschehen erzählen, sondern auch das Verhältnis von ,Jesus‘ und dem ,Landrecht‘ verhandeln und von zeitgenössischen Rezipienten auf damit verbundene Fragen hin gelesen worden sein dürften.

Zwar ist wegen der methodologischen Probleme die Rekonstruktion eines konkreten Erwartungshorizonts eines historischen Rezipienten nicht möglich, das Vorgehen ist aber insgesamt rezeptionsästhetischen Ansätzen verhaftet, da angenommen wird, dass die Textwelt auf eine Komplettierung durch den Rezipienten angewiesen ist, und deshalb für die Entstehungszeit der Texte wahrscheinliche Assoziationsräume aufgewiesen werden.8 Ergänzt wird die in diesem Sinne rezeptionsästhetische Betrachtungsweise durch rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen:9 Die Kerntexte stellen eine dokumentierte Rezeption des lateinischen Nikodemusevangeliums und der kanonischen Evangelien10 dar und sind ihrerseits in späteren Texten rezipiert worden. Der Zugriff auf die Rechtsthematik in den Kerntexten gewinnt daher vor der Folie das lateinischen Ausgangstextes und der Rezeptionszeugnisse Kontur. Deshalb ist den Lektüren der Kerntexte ein Abriss der Rechtsproblematik im lateinischen Nikodemusevangelium vorgeschaltet (Kap. 2), zumal die Forschungsdiskussion paradigmatisch zeigt, welche Aspekte auch bei der Analyse von ,Literatur und Recht‘ in den Kerntexten zu berücksichtigen sind. Dass die in der eigenen Interpretation der Kerntexte herausgehobenen Themenfelder auch von Rezipienten in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum hin als so relevant empfunden wurden, dass sie sich damit auseinandergesetzt haben, soll die Analyse einer diachronen Reihe von Rezeptionszeugnissen demonstrieren (Kap. 6).11 Außerdem decken die Rezeptionszeugnisse verschiedene Textsorten ab, sodass sich im Vergleich damit (zumindest in einer diachronen Perspektive) auch die Poetologie der Kerntexte besser fassen lässt.

Wie bei den Kerntexten werden bei den Rezeptionszeugnissen ebenfalls die genannten thematischen Linien herausgearbeitet, d.h., eine Gesamtinterpretation ist in keinem der Fälle angestrebt, sondern es geht um die Erschließung bestimmter Sinnschichten. Gleichwohl ist das Erkenntnisinteresse der Arbeit auf die Interpretation12 der Kerntexte gerichtet,13 und zwar darauf, welche inhaltlichen und poetologischen Implikationen Referenzen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit haben.14 Ziel ist die Bestimmung des Verhältnisses von ,Jesus‘ und dem ,Landrecht‘ in dem eingangs beschriebenen Doppelsinn. Während die inhaltlichen Ergebnisse auf das schmale Corpus von Kerntexten beschränkt bleiben, das allerdings über die Weltchronik Heinrichs von MünchenHeinrich von MünchenWeltchronik eine breite Wirkungsgeschichte entfaltet hat, haben die Analysen auch den Charakter von Fallstudien zum Weltbezug von BibelepikBibelepik und könnten in diesem Sinn als Ausgangspunkt für allgemeinere Überlegungen zur Poetologie bibelepischer Texte dienen (Kap. 7).

Jesus und das Landrecht

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