Читать книгу Jesus und das Landrecht - Henrike Manuwald - Страница 12
1.4.2 Rechtstexte als Kontexte: Eine heuristische Setzung
ОглавлениеIn welchem Verhältnis stehen literarische Texte zu Normativität beanspruchenden Rechtstexten? In der Rechtsgeschichte hat man ihnen den Status sekundärer Rechtsquellen zuerkannt, deren Aussagewert zwar begrenzt sei, weil sich die Darstellung von Rechtsnormen der Gesamtkonzeption unterwerfen müsse, die aber einen Zugang zu Bereichen eröffnen könnten, für die es sonst keine Quellen gibt (wie Rechtsnormen zu Zeiten, in denen das Recht noch nicht schriftlich kodifiziert war, oder ,gelebtes Recht‘).1 In Bezug auf Rechtskonzepte oder Einstellungen zur Rechtspraxis2 kann man ihnen sogar den Status primärer Rechtsquellen zusprechen.3 Umgekehrt ist aus Rechtstexten als unumstritten primären Rechtsquellen nicht unbedingt Aufschluss über die Rechtspraxis zu gewinnen: Das Auseinanderklaffen von „RechtsaufzeichnungSchriftlichkeitRechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit“4 kann etwa bei RechtsbüchernRechtsbücher darin begründet sein, dass der Geltungsanspruch nicht unbedingt eingelöst wird5Rechtsbücher oder dass anachronistische Rechtsnormen in der schriftlichen Tradition weiter tradiert werden.6 Bei Rechtstexten wie Schöffensprüchen oder Weistümern, die sich als Aufzeichnungen mündlich getroffener Aussagen geben, ist wiederum mit Stilisierungen bzw. der Orientierung an schriftlichen Vorlagen zu rechnen, von ihrem ausschnitthaften Charakter einmal abgesehen.7
Die Grenzen zwischen literarischen Texten und Rechtstexten sind auch insofern fließend, als etwa in RechtsbücherRechtsbücher narrative Elemente integriert sein können.8RechtsbücherEike von RepgowSachsenspiegel Wenn im Folgenden die narrativen Kerntexte Rechtstexten gegenübergestellt und Letztere als Kontexte betrachtet werden, sind das also vor allen Dingen heuristische Operationen.9 Dass die Rechtstexte nicht notwendig die Rechtspraxis widerspiegeln, kann insofern ausgeklammert werden, als sie auch als Dokumente bestimmter Denkweisen über das Recht mit zum ,real world frame‘ gehören, der die Rezeption der narrativen Texte zu deren Entstehungszeit mit bestimmt hat. Allerdings wären manche Sinndimensionen der Kerntexte auch wieder nur aus ihrer Übereinstimmung mit oder Abweichung von der Rechtspraxis zu bestimmen.10Ruodlieb Trotz der oben genannten Vorbehalte, die bei den folgenden Verweisen auf Rechtstexte immer mitzudenken sind, werden deshalb bei den Lektüren der Kerntexte mit aller Vorsicht Rechtstexte auch zur Rekonstruktion typischer Abläufe herangezogen (z.B. der Vorgänge bei der Eröffnung einer Gerichtsverhandlung). Dahinter steht die Überlegung, dass sich RechtsbücherRechtsbücher oder gar Rechtsgangbücher, wenn sie den Anspruch erheben, die bestehenden Verhältnisse zu beschreiben oder Normen dafür festzuhalten, bei solchen Routinevorgängen nicht zu weit von der Praxis entfernt haben dürften, wenn sie plausibel bleiben sollten.
Die Unsicherheit im Verhältnis von Rechtstexten zur Rechtspraxis stellt jedoch nicht das einzige methodologische Problem dar, das sich beim Umgang mit Rechtstexten als Kontexten ergibt: Sollen sie dazu dienen, Verstehensvoraussetzungen eines idealen Rezipienten zur Entstehungszeit eines literarischen Textes zu erschließen, müssten sie nach Möglichkeit zeitlich und regional aus dem entsprechenden Entstehungsumfeld stammen. Voraussetzung für solche Zuordnungen wären zuallererst gesicherte Erkenntnisse über Entstehungsort und -zeit der literarischen Texte. Für die Kerntexte kommt man jedoch in vielen Punkten über plausible Vermutungen nicht hinaus.11 So lässt sich zum Beispiel nicht ermitteln, ob Gundacker von Judenburg in der Steiermark oder gar in Judenburg selbst gewirkt hat, sodass die Rechtsquellen, die mit der Stadt Judenburg verbunden sind,12 nicht ohne Weiteres herangezogen werden können. Bei Diu urstende reichen die Erkenntnisse dazu, dass das Werk wohl im frühen 13. Jahrhundert im Eichstätter Raum entstanden ist, immerhin aus, um Probleme bei der Kontextualisierung manifest werden zu lassen: Deutschsprachige Quellen fehlen für diesen Zeitraum weitgehend. Zwar kann man davon ausgehen, dass etwa die ab 1225 im SachsenspiegelEike von RepgowSachsenspiegel formulierten Rechtssätze auch Rechtsgewohnheiten älteren Ursprungs festhalten (soweit der Sachsenspiegel tatsächlich ,Rechtsaufzeichnung‘SchriftlichkeitRechtsaufzeichnung ist),13Heinrich der Gleißner (der Glichesaere)Reinhart FuchsHartmann von AueIwein doch ist mit dieser Überbrückung der chronologischen Lücke noch nicht die regionale Differenz14 überwunden.
Für das vermutlich im sächsisch-magdeburgischen Rechtskreis15Eike von RepgowSachsenspiegel verfasste Evangelium Nicodemi Heinrichs von Hesler stellt sich das Auffinden möglicherweise korrespondierender Rechtsquellen weniger prekär dar, ebenso für Christi Hort mit dem anzunehmenden bayerisch-österreichischen Entstehungskontext.16Österreichisches Landrecht Allerdings ergibt sich bei einer besseren Quellenlage sogleich das nächste Problem, nämlich das der Auswahl: Sind zum Beispiel land- oder eher stadtrechtliche QuellenRechtsordnungenStadtrecht als relevante Kontexte anzusetzen? In den Kerntexten ist nur in Diu urstende ausdrücklich von lantrehtRechtsordnungenLandrecht (v. 705) die Rede.
Angesichts der komplexen Problemlage wurde für die Untersuchung der Kerntexte so verfahren, dass geprüft wurde, wie gravierend die Unterschiede zwischen den Rechtstexten im Hinblick auf die in den Kerntexten relevanten Rechtsmotive überhaupt sind. Dazu wurden zunächst in allen drei Texten rechtliche Aspekte identifiziert. Wenig überraschend für den Gegenstand, den Prozess gegen Jesus, ergab sich dabei ein Schwerpunkt auf dem Ablauf des Gerichtsverfahrens und dem Verhalten der einzelnen Beteiligten (Richter, Ankläger, Angeklagter, Zeugen, Urteiler, Umstand). Außerdem war ein Interesse an der Herkunft der Gerichtsgewalt festzustellen. Schließlich legte die sich deutlich manifestierende Abgrenzung gegenüber ,den Juden‘ zur Zeit Jesu nahe, dass das JudenrechtJudenJudenrecht (und dessen Herleitung)17 zur Entstehungszeit der Kerntexte als Kontext relevant sein könnte, zumal dieses Recht im Schlussexkurs des Evangelium Nicodemi ausdrücklich thematisiert ist.
Eine stichprobenartige Sichtung von RechtsbüchernRechtsbücher zum LandrechtRechtsordnungenLandrecht18Johannes von BuchGlosseRichtsteig LandrechtsJohannes von BuchJohannes von BuchRichtsteig LandrechtsDeutschenspiegelSchwabenspiegelÖsterreichisches Landrecht führte deutlich vor Augen, dass die Rechtsbücher lediglich einen ausschnitthaften Eindruck vom Gerichtsverfahren vermitteln und dass manche Details jeweils nur in einer der Quellen genannt sind, zum Beispiel die erforderliche Nüchternheit des RichtersRichterNüchternheit, die in den hochmittelalterlichen Rechtsbüchern ausschließlich im Schwabenspiegel (Ldr. 145)SchwabenspiegelLdr.145 zur Sprache kommt.19Schwabenspiegel Das könnte bedeuten, dass sie sonst nicht üblich war. Es könnte aber auch sein, dass Selbstverständlichkeiten nur selten festgehalten wurden, wie es zum Beispiel auch bei der Hegung des GerichtsGerichtsorteAbschrankung (unter freiem Himmel) der Fall ist.20 Angesichts dieser Alternative ist eine Quellenmischung zur Rekonstruktion eines typischen Verfahrensablaufs, wie sie die älteren Handbücher vornehmen, nicht unproblematisch. Jedoch ist sie die einzige Möglichkeit, überhaupt ein umfassenderes Bild eines prototypischen Verfahrensablaufes zu entwickeln. Die Annahme eines solchen Ablaufes ist insofern gerechtfertigt, als die – größtenteils aufeinander aufbauenden – Quellen in den Grundzügen (wie zum Beispiel den Aufgaben des Richters21 und der Urteiler) große Übereinstimmungen zeigen. Und auf solche, im Folgenden als ,deutschrechtlich‘ bezeichnete GrundmusterRechtsordnungen‚deutsches‘ Recht22 scheinen sich die Kerntexte vor allem zu beziehen.
Eine Kontextualisierung einzelner Motive bleibt jedoch schwierig. Letztlich kann zum Beispiel für das Motiv im Evangelium Nicodemi, dass Pilatus als Richter nüchtern zur Verhandlung erscheinen soll, allein auf die Schwabenspiegel-StelleSchwabenspiegel und damit auf ein RechtsbuchRechtsbücher aus einem anderen Rechtskreis verwiesen werden.23SchwabenspiegelEike von RepgowSachsenspiegel Entsprechend lassen sich manchmal nur mit zeitlichem Abstand Analogien zu rechtlichen Elementen in den Kerntexten aufzeigen.24 Auf solche weit auseinanderliegenden Parallelen wird im Folgenden hingewiesen, weil sie – wenn man eine weitere Verbreitung der Phänomene annimmt – Indizien dafür bieten könnten, ob in den Kerntexten ein regelhafter oder ein ungewöhnlicher Vorgang dargestellt ist. Letztlich werden bei einer solchen Betrachtungsweise die literarischen Texte aber selbst zu Rechtsquellen, weil sie die in ihnen eventuell verarbeiteten ,Realitätssplitter‘ zugleich dokumentieren.25