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1.2 Diu urstende, Christi Hort und das Evangelium Nicodemi im Spiegel der Forschung
ОглавлениеDiu urstende Konrads von Heimesfurt, Christi Hort Gundackers von Judenburg und das Evangelium Nicodemi Heinrichs von Hesler1 sind die einzigen erhaltenen mittelhochdeutschen Versdichtungen, bei denen für die Erzählung von der Passion Jesu und von seiner Höllenfahrt das Nikodemusevangelium als Quelle dominant ist.2 Sie sind teilweise genetisch miteinander verbunden3 und haben eine gemeinsame Rezeptionsgeschichte, weil sie – über eine zu erschließende Passionskompilation – Eingang in die Weltchronik Heinrichs von MünchenHeinrich von MünchenWeltchronik fanden.4 Schließlich teilen sie ein besonderes Erzählinteresse an den rechtlichen Aspekten der Passionsgeschichte. Die Ausgestaltung der Rechtsmotive ist zwar in den einzelnen Texten je anders gelagert, hat aber trotzdem dazu geführt, dass sie in Erich Klibanskys (1925) und Hans Fehrs ([1931]) Studien zum Recht in der Literatur jeweils als Trias erscheinen.5 Mittlerweile sind die Texte also auch forschungsgeschichtlich verbunden; spezielle Untersuchungen zu den einzelnen Texten überwiegen jedoch. Allerdings lassen sich für diese Einzelanalysen in der Rückschau jeweils ähnliche Schwerpunkte ausmachen. Sie seien als Basis für die weiteren Überlegungen vergleichend skizziert, auch weil die hier zu beobachtende Forschungsgeschichte für bibelepische TexteBibelepik nicht untypisch ist.6AvaBibelepik
Bei allen drei Werken nahm zunächst die Untersuchung von Sprache und Reimtechnik einen großen Raum ein, sowohl verknüpft mit Fragen nach dem Entstehungsgebiet und der Verfasserzuordnung als auch unter dem Aspekt von Stiluntersuchungen.7 Die Parallelen zu höfischen DichtungenHöfischer Roman, die im Zuge dieser Analysen für Diu urstende und Christi Hort aufgezeigt wurden, bilden bis heute die Grundlage für die Datierung dieser Texte; zugleich sind sie Ausgangspunkt für neuere Überlegungen zur inhaltlichen Höfisierung, die vor allem für Szenen der Botenaussendung und des -empfangs in Diu urstende und Christi Hort aufgezeigt wurde.8Konrad von FußesbrunnenKindheit Jesu
Einen zweiten zentralen Forschungsstrang bildet die Quellenanalyse. Seit der Arbeit Richard Paul Wülckers (1872) werden die deutschen Verserzählungen als Bestandteil der Nikodemusevangelium-Tradition betrachtet.9 Wegweisend für die Forschungen zu dieser Tradition und der oft mit dem Nikodemusevangelium verbundenen Pilatus-Veronika-LegendePilatus-Veronika-Legende sind die Arbeiten Zbigniew Izydorczyks, für die deutschsprachige Literatur insbesondere der von ihm herausgegebene Band The Medieval Gospel of Nicodemus. Texts, Intertexts and Contexts in Western Europe (1997) mit Beiträgen von Werner J. Hoffmann zu mittelhoch- und mittelniederdeutschen Texten, die auf dem Nikodemusevangelium aufbauen. Für Diu urstende hat Hoffmann (2000) außerdem eine mögliche Vorlagenhandschrift (des lateinischen Nikodemusevangeliums) identifiziert und einen detaillierten Vergleich damit durchgeführt, den er interpretatorisch fruchtbar gemacht hat. Seinen Analysen zufolge geht die Bearbeitungstendenz dahin, die Messianität Christi zu betonen, wobei die Zeugenaussagen einen besonders hohen Stellenwert einnehmen.10 Anders als Diu urstende enthalten Christi Hort und das Evangelium Nicodemi (mit seinen zahlreichen Exkursen) Passagen mit dezidiert theologischem Gehalt, die sich nicht auf das Nikodemusevangelium als Prätext zurückführen lassen. Auch für diese Passagen sind jeweils ,Quellen‘ in der Forschung benannt worden, die die Verfasser der jeweiligen Studien aber selbst als indirekte Quellen oder Parallelen klassifizieren.11
Was die Überlieferung der Kerntexte angeht, so wurde sie zunächst unter textkritischen Gesichtspunkten in den Blick genommen, der Überlieferungslage entsprechend am intensivsten für das Evangelium Nicodemi,12 denn Christi Hort und Diu urstende sind vollständig jeweils nur in einer Handschrift überliefert.13 Für Diu urstende legten Kurt Gärtner und Werner J. Hoffmann 1989 eine neue Ausgabe vor. Nachdem Werner Fechter (1968) schon das Programm der Sammelhandschrift (Wien, ÖNB, Cod. 2696WienÖNBCod. 2696 [V]) analysiert hatte, die als einzige Diu urstende überliefert, hat Nikolaus Henkel (1996) das Phänomen der „Corpusbindungen“, in denen die (um 1200 entstandenen) „religiös-erbaulichen Erzählungen“ in der Überlieferung zusammengefasst wurden, systematisch in den Blick genommen und davon ausgehend die Stellung dieser Texte im Verhältnis zur höfischen LiteraturHöfischer Roman zu bestimmen gesucht.14 Weiter vorangetrieben wurde die Forschung zur Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte durch die Arbeit Werner J. Hoffmanns zu Diu urstende (2000), der neben dem Überlieferungskontext auch die Textgeschichte nachzeichnet.15 Wegen der späteren kompilatorischen Verbindung von Diu urstende mit Christi Hort und dem Evangelium Nicodemi bieten Hoffmanns Untersuchungen zur Textgeschichte, obwohl sie von Diu urstende ausgehen, Erkenntnisse zu allen drei Werken. Christi Hort betrachtet Hoffmann außerdem im Rahmen der Wirkungsgeschichte von Diu urstende.16 Die jeweilige Wirkungsgeschichte von Diu urstende und von Christi Hort wird darüber hinaus in Arbeiten zu deutschen Prosafassungen des NikodemusevangeliumsNikodemusevangeliumdeutsche Prosafassungen kontrovers diskutiert.17Pilatus-Veronika-Legende(Klosterneuburger) EvangelienwerkNikodemusevangeliumdeutsche ProsafassungenProsafassung E
Gegenüber den bisher genannten Forschungstendenzen ist die Zahl interpretatorischer Ansätze, die nicht primär vom Verhältnis zur Vorlage ausgehen, überschaubar.18NikodemusevangeliumDescensus Christi ad Inferos Als eine wichtige Arbeit, die sich auf den Inhalt eines der Werke konzentriert, ist Peter Wiedmers Studie zu Sündenfall und Erlösung (1977) zu nennen. Er analysiert und kommentiert die Passagen zur Heilsgeschichte im Evangelium Nicodemi, im Apokalypsekommentar (Apokalypse) Heinrichs von HeslerHeinrich von HeslerApokalypse und im Fragment von dessen ErlösungHeinrich von HeslerErlösung und versucht daraus, „Heinrichs Sicht des heilsgeschichtlichen Geschehens von Sündenfall und Erlösung in ihrer Gesamtheit zu verstehen“,19 um sie dann geistesgeschichtlich einzuordnen. Zwar ist die Autorbezogenheit methodisch nicht ganz unproblematisch, aber Wiedmer hat die theologischen Dimensionen der Werke deutlich gemacht und die Verrechtlichung der Heilsgeschichte bei Heinrich von Hesler herausgearbeitet. In der Forschung Aufmerksamkeit gefunden hat auch der judenfeindliche Schlussexkurs des Evangelium Nicodemi, der – losgelöst vom Gesamtwerk – in Arbeiten zu Judenbildern in diskursiven Texten untersucht wurde.20 In anderer Weise auf den Inhalt fokussiert ist Bettina Mattig-Krampes Studie Das Pilatusbild in der deutschen Bibel- und Legendenepik des Mittelalters (2001), in der sie auf die genannten Versdichtungen und deutsche Prosafassungen des NikodemusevangeliumsNikodemusevangeliumdeutsche Prosafassungen eingeht.21 Da die Ergebnisse deskriptiv bleiben und oft psychologisierend erscheinen,22 ist für eine Aufarbeitung der zeitgenössischen Diskussionen, vor denen die Pilatus-Figur in den bibelepischen TextenBibelepik angelegt sein mag, auch auf Andreas Scheidgens parallel zu Mattig-Krampes Untersuchung entstandene Monographie Die Gestalt des Pontius Pilatus in Legende, Bibelauslegung und Geschichtsdichtung vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit (2002) zurückzugreifen.23
Auf die Machart der bibelepischen Texte sind bislang nur einzelne Schlaglichter geworfen worden, z.B. mit der Analyse der Dialoge im Descensus-Bericht in Diu urstende durch Elke Ukena-Best (2012).24 Am intensivsten wurde bisher die Textstruktur von Christi Hort diskutiert, allerdings zunächst allein unter dem Aspekt, ob die verschiedenartigen Werkteile einem Autor zuzuweisen und von vornherein als Einheit konzipiert seien oder nicht.25 Betty Bushey (1988) untersuchte die Form der Gebete im zweiten Teil von Christi Hort im Kontext der Frömmigkeitskultur der Zeit und interpretierte das Werk auf diese Weise als Vorläufer eines im 14. und 15. Jahrhundert populären Werktypus, bei dem narrative Darstellungen des Lebens Jesu (insbesondere seiner Passion) mit Gebeten verbunden sind. Ulrich Wyss (1986), der Christi Hort in seinem Überblick über „Religiöse Epik im österreichischen Spätmittelalter“ behandelt, hatte ebenfalls die Modernität des Werkes hervorgehoben. Er sieht die Verschiedenartigkeit der einzelnen Werkteile als Symptom für die Suche nach einer angemessenen Ausdrucksform für religiöse Erfahrungen.26 Susanne Köbele (2017) hat in ihren grundsätzlichen Überlegungen zum bibelepischen ,Wiedererzählen‘ das „Neben- und Ineinander von Sprechregistern“ als typisch für scheinbar kunstlose bibelepische TexteBibelepik herausgearbeitet und hat in diesem Zusammenhang auch auf Christi Hort verwiesen.27
Insgesamt hat sich das Forschungsinteresse in jüngerer Zeit zur Poetologie der Texte hin verschoben, wobei insbesondere die selbstreflexiven Passagen im Mittelpunkt standen.28BibelepikVita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica Der Prolog von Diu urstende, der in der älteren Forschung zunächst auf sein biographisches Potenzial hin betrachtet worden war,29 wurde im Zuge einer stärker kulturwissenschaftlichen Orientierung der germanistischen Mediävistik und der durch die New Philology belebten Diskussionen zum Zusammenhang von Überlieferung und Textualität unter der Fragestellung analysiert, welcher Text- oder Werkbegriff sich daraus erschließen lässt.30 Besonderen Erkenntnisgewinn bietet der Aufsatz „Reden und Schreiben“ Peter Strohschneiders (2005), weil er den gesamten Text von Diu urstende auf das darin zum Ausdruck kommende Textwissen befragt und zeigen kann, wie „Zusammenhang und Differenz von Rede und Schrift“ auch in den narrativen Passagen thematisiert werden.31 In der Weiterentwicklung seiner Thesen (2014) hat Strohschneider den Zusammenhang von Latenz der Schrift und interaktiver Rede noch einmal grundsätzlicher auf das Prinzip des Wiedererzählens hin perspektiviert, dem sich Diu urstende zuordne.32
Vor allem selbstreflexive Textelemente sind der Ausgangspunkt für Bruno Quasts Überlegungen zu „Spielräume[n] des Narrativen“ in der BibelepikBibelepik, die er an Der Sälden HortDer Sälden Hort und an Christi Hort untersucht (2009). Quast geht davon aus, dass der bibelepische Text zwar eine gewisse Freiheit habe, aber „die Grenzen des Erzählens in selbstreflexiv-poetischen Akten der Legitimierung erst selbst ausloten“ müsse.33 Dass sich in Christi Hort an eine Gebetspassage die dem Nikodemusevangelium folgende Erzählung anschließt, interpretiert Quast als „Bewegung vom Kult zur Kunst“34 und sieht darin eine Inszenierung des Wunsches des Prologgebet-Sprechers, dass Gott ihm zu einer ehrenden Dichtung die sinne […] berichte (v. 1323).35 Ob sich die verschiedenen Unfähigkeitsbeteuerungen, die jeweils argumentativ eingebunden sind, tatsächlich zu einem poetologischen Gesamtprogramm zusammenschließen lassen,36 ist ebenso zu diskutieren wie die Frage, ob hier ein allgemeines Phänomen sichtbar wird,37 zumal zwischen rituellem Sprechen im Gebet und dem Nachvollzug eines biblischen Textes zu differenzieren wäre. Grundlegend für weitere Forschungen ist aber die Frage, die Quast am Ende seines Aufsatzes formuliert, nämlich wie „fiktional […] mittelalterliche Bibeldichtung als besondere Form normativ gebundener Literatur sein“ dürfe.38 Für Christi Hort betont Quast, dass der Text „der Maßgabe des Faktizität verbürgenden Referenztextes konsequent und unverbrüchlich zu folgen behauptet“. Die vorsichtige Formulierung deutet zugleich an, dass das nicht der Fall sein könnte. Um die erzählerischen Lizenzen bestimmen zu können, wird man also über die selbstreflexiven Passagen hinaus die Erzählung selbst in den Blick zu nehmen haben.
Ohne dass die Konsequenzen für den Status der Texte insgesamt diskutiert wurden, ist der Umgang mit der Rechtsmotivik in den einzelnen Texten bereits intensiv erforscht worden. Wie schon Wülcker (1872) aufzeigte, sind in Diu urstende „viele züge aus dem Deutschen gerichtsverfahren eingeschaltetRechtsordnungen‚deutsches‘ Recht“.39 Auch wenn sich nicht alle seiner Einzelinterpretationen als tragfähig erwiesen,40 legte er damit den Grundstein für weitere Forschungen, von denen die Studie Erich Klibanskys Gerichtsszene und Prozeßform in erzählenden deutschen Dichtungen des 12.–14. Jahrhunderts (1925)41 als bis heute gültiges Referenzwerk hervorzuheben ist.42 Klibansky identifiziert unter Bezug auf RechtsbücherRechtsbücher wie denSachsenspiegelEike von Repgow SachsenspiegelEike von RepgowSachsenspiegel und die rechtshistorische Sekundärliteratur deutschrechtliche Züge in Diu urstende, in Christi Hort und im Evangelium Nicodemi, betont aber, dass die Anpassungen in Diu urstende und dem Evangelium Nicodemi punktuell erfolgen. Am ehesten sieht er ein typisch deutsches Gerichtsverfahren in Christi Hort dargestellt. Klibansky geht methodisch sehr vorsichtig vor, indem er den besonderen Charakter literarischer ,Quellen‘ zum Gewinn historischer Erkenntnis betont, denen er Lebendigkeit, aber eben auch größere Freiheiten als etwa RechtsbüchernRechtsbücher attestiert. Trotz seines primär historischen Interesses stellt er für Diu urstende erste Überlegungen dazu an, welche Funktion die gegenüber der Quelle zu beobachtenden Umarbeitungen erfüllen.43 Einen Ansatzpunkt für weitere Forschungen bieten seine – in das Vokabular der Zeit gekleideten – rezeptionsästhetischen Schlussüberlegungen:
Dabei [sc. bei der anschaulichen Schilderung von Vorgängen] kommt es gar nicht so sehr darauf an, daß der Dichter alle einzelnen Momente immer besonders betont; vielmehr genügt auch hier, wie überhaupt in allem echten künstlerischen Schaffen, die Hervorhebung einiger weniger, aber charakteristischer Züge aus der unendlichen Fülle des Lebens vollauf, um unsere Phantasie zur Reproduktion der vom Künstler geschauten Wirklichkeit anzuregen.44
Klibansky hebt hier auf die Vorstellungskraft moderner Rezipienten ab, es ist aber auch die Frage zu stellen, welche Assoziationspotenziale die ,charakteristischen Züge‘ aus der Erfahrungswelt für Rezipienten zur Entstehungszeit der Werke besessen haben mögen.
Hans Fehr nimmt in seinem Überblickswerk Das Recht in der Dichtung ([1931]), in das die Textgruppe Diu urstende – Christi Hort – Evangelium Nicodemi ebenfalls Eingang fand,45 neben dem Prozessrecht auch Rechtsvorstellungen in den Blick. Bei seiner Darstellung konzentriert er sich vor allem auf die Passage zur ZweischwerterlehreRechtsordnungenZweischwerterlehre und die rechtliche Stellung der JudenJudenJudenrecht (und dessen Herleitung) imRechtsordnungenJudenrechtJuden Evangelium Nicodemi. Wie aus der Einleitung hervorgeht, will Fehr den engen Zusammenhang nicht nur von „Dichter und Recht“, sondern auch von „Kultur und Recht“ aufzeigen.46 Die literarischen Texte sind für ihn sowohl rechtshistorische als auch vor allem mentalitätsgeschichtliche Quellen. Anders als Klibansky setzt Fehr jedoch für den Bereich des Rechts ein Abbildungsverhältnis zwischen Literatur und Wirklichkeit voraus:
Vor allem für die Dichtung des Mittelalters erweisen sie [sc. die Dichtwerke] sich als wertvolle Quelle. Sie zeigen namentlich eins: sie lassen erkennen, wie sich das Recht im Volke spiegelte, wie die Rechtsnormen aufgefaßt wurden und praktische Verwendung fanden. Die Dichter sind keine Theoretiker. Sie geben Recht und Rechtsvorstellungen wieder, wie sie die Wirklichkeit ihnen darbietet. So stark sie sich im Reiche der Phantasie bewegen: im Augenblick, wo sie den Kreis des Rechts betreten, wagen sie sich nicht über die Realität der Dinge hinaus. Ausnahmen sind selten. Das Recht gilt ihnen gleichsam als heilige Mauer, die nicht durchbrochen, nicht überstiegen, nicht zerstört werden darf.47
Aus heutiger Sicht erscheint diese Annahme problematisch, vor allem wenn man an die z.B. von Rüdiger Schnell (1993) nachgewiesenen Diskrepanzen zwischen literarischer Darstellung und Praxis von Gottesurteilen denkt. Bedenkenswert ist allerdings, dass die Hemmschwelle für eine abweichende Darstellung wegen der Normativität des Rechts höher gelegen haben könnte als bei anderen Themen.
Die genannten Studien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden nach wie vor eine wichtige Grundlage, zumal die Standardwerke zum deutschen Prozessrecht, auf die sie sich stützen, nicht als überholt angesehen werden können. Im Anschluss an Hoffmanns Sachkommentar (im Rahmen seines Quellenvergleichs)48 sind aber die einzelnen Beobachtungen Klibanskys und Fehrs mit der neueren rechtshistorischen Forschung (z.B. Drüppel 1981; Meyer 2009) abzugleichen. Vor allem gilt es – über die Überlegungen bei Klibansky und Hoffmann hinaus –, die Funktionalisierung der punktuellen Anpassungen an das deutsche Recht zu untersuchen. Dazu sollte jeweils der gesamte Text in den Blick genommen werden, was sich gut am Evangelium Nicodemi verdeutlichen lässt, bei dem Überlegungen zum Prozessrecht bislang unverbunden neben der Beobachtung der Verrechtlichung der Heilsgeschichte stehen.49 Da die Kerntexte in die heutigen international geführten Diskussionen um das Verhältnis von Recht und Literatur (‚Law and Literature‘) noch nicht hinreichend einbezogen wurden,50 bedarf es vor der inhaltlichen Arbeit umso mehr einer methodologischen Reflexion.