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3 Variationen der Rechtsthematik in Diu urstende, Christi Hort und dem Evangelium Nicodemi 3.1 Das Nikodemusevangelium aus der Sicht des ,deutschen‘ Rechts: Anknüpfungspunkte und Irritationsmomente

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Die konkretisierende Ausgestaltung der Prozesshandlung im spätantiken Nikodemusevangelium1 bedeutete für Bearbeiter des Textes im Hochmittelalter, dass sie sich in Bezug auf das Rechtswesen mit mehr Sachfragen und ihrer eigenen Vorstellungswelt womöglich ,fremden‘ Elementen auseinanderzusetzen hatten, als dies bei den Berichten in den kanonischen Evangelien der Fall war. Auf mögliche Anknüpfungspunkte oder Irritationsmomente deuten heute allerdings allein die Modifikationen in den ,Wiedererzählungen‘ des Nikodemusevangeliums hin, wobei die jeweilige Motivation der Autoren dafür nicht zu ermitteln ist, sodass produktionsästhetische Rückschlüsse hypothetisch bleiben müssen.2 Bei den drei deutschen Versdichtungen, die (für die Darstellung des Prozessgeschehens) überwiegend auf dem Nikodemusevangelium beruhen, wird sich zeigen lassen, dass sie an ähnlichen Punkten gegenüber dem Nikodemusevangelium Übereinstimmungen bzw. Veränderungen aufweisen. Da Christi Hort in Kenntnis von Diu urstende verfasst wurde und produktionsseitige intertextuelle Bezüge zwischen Christi Hort und dem Evangelium Nicodemi zumindest nicht auszuschließen sind,3 kann man nicht alle Gemeinsamkeiten auf eine Auseinandersetzung mit dem Prätext zurückzuführen. Trotzdem sei der Analyse der Einzeltexte eine von der mittelalterlichen Rechtswelt der Verfasser ausgehende Betrachtung des Nikodemusevangeliums vorangestellt, weil so vorweg der rechtshistorische Rahmen grob umrissen werden kann, innerhalb dessen die einzelnen Texte entstanden sein dürften.4Eike von RepgowSachsenspiegelRechtsbücher

Angesichts der Koexistenz verschiedener Rechts- und Prozessordnungen im 13. Jahrhundert wären für die Rezeption der Prozesshandlung im Nikodemusevangelium unterschiedliche zeitgenössische Referenzrahmen denkbar. Für Pilatus als weltliche Autorität erscheint für den deutschen Raum im 13. Jahrhundert die Folie eines Prozesses nach ,deutschem‘ RechtRechtsordnungen‚deutsches‘ Recht, bei dem das Urteil von einem UrteilergremiumUrteilUrteiler, Urteilergremium gefunden wird, plausibler als die eines Prozesses nach gelehrtem Recht mit selbsturteilendem RichterRichterselbsturteilender Richter.5Rechtsordnungenkanonisches vs. weltliches RechtYork Trial Plays Zwar wären Assoziationsräume nicht an institutionelle Grenzen wie die zwischen weltlicher oder geistlicher Gerichtsbarkeit gebunden, es gibt aber auch in der Handlung des Nikodemusevangeliums Elemente, die Ähnlichkeiten zu einem Verfahren nach ,deutschem‘ Recht aufweisen.6 Zu nennen ist insbesondere die aktive Beteiligung der Menge, die bereits in den kanonischen Evangelien angelegt ist. Während heutige Historiker in der Einbeziehung der Menge in den Evangelien eine tendenziöse Abweichung vom Verfahren nach römischem Recht sehen,7 dürfte die Beteiligung einer solchen Menge vor dem Hintergrund des ,deutschen‘ Rechts im 13. Jahrhundert unproblematisch erschienen sein,Rechtsordnungen‚deutsches‘ vs. römisches Recht denn sie kann mit dem ,Umstand‘Umstand8 in Beziehung gesetzt werden. Die angesichts der geforderten Freilassung des Barrabas an die Menge gerichtete Frage des Pilatus (cap. IX 1 [7,1 (G/I)]), was ,wir‘ mit Jesus anfangen sollten, lässt sich dann als UrteilsfrageUrteilUrteilsfrage lesen.9

Als Irritationsmoment erscheint – von den Abläufen nach ,deutschem‘ Recht aus gedacht – dann aber, dass die Rolle des Richters im weiteren Verlauf nicht in der formellen Verkündung des Urteils ausgestaltet ist (vgl. cap. IX 5 [9 (G/I)]): Einerseits geht Pilatus mit der Anordnung, dass Jesus (vor der Kreuzigung) gegeißelt werden solle, über das von ,den Juden‘ Geforderte hinaus und wird so als selbsturteilender RichterRichterselbsturteilender Richter erkennbar. Andererseits scheint das Urteil nicht formell öffentlich verkündet zu werden, sondern es wird nur gesagt, dass Jesus die GeißelungStrafeGeißelung mitgeteilt wird und Pilatus die KreuzigungStrafeKreuzigung anordnet.10NikodemusevangeliumRezension Griechisch ANikodemusevangeliumRezension Lateinisch A Andere Aufgaben, die Pilatus wahrnimmt, dürften aber mit den Zuständigkeiten eines Richters in einem Verfahren nach ,deutschem‘ Recht im Einklang gestanden haben, so beispielsweise, dass er den Prozessbeteiligten das Wort erteilt und die Verhandlung öffnet und schließt.11 Die Parallelen liegen auf einer sehr allgemeinen Ebene, da die für ein Verfahren nach ,deutschem‘ Recht charakteristische (aus Rechts- und vor allem Rechtsgangbüchern bekannte) sprachliche Formelhaftigkeit des Verfahrens12 im Nikodemusevangelium selbstverständlich nicht zu finden ist. Allerdings fehlen entsprechende Formeln – wegen des grundsätzlich selektiven Charakters narrativer Texte – auch in Prozesserzählungen, die sich eindeutig auf ein Verfahren nach ,deutschem‘ Recht beziehen,13 sodass trotz des Reduktionismus der Prozessschilderung im Nikodemusevangelium ein Prozess nach ,deutschem‘ Recht als Bezugsrahmen aufgerufen worden sein könnte.

Dass die Gerichtsverhandlung im Nikodemusevangelium überhaupt ein öffentliches Ereignis ist, lässt sich ohne Weiteres mit den Gepflogenheiten des ,deutschen‘ Rechts in Übereinstimmung bringen.14RechtsordnungenStadtrecht Problematisch dürfte dagegen die dem Nikodemusevangelium zu entnehmende Information erschienen sein, dass Pilatus in einem Gebäude zu Gericht sitzt (vgl. z.B. cap. III 1f.),15 denn bis in die Frühe Neuzeit hatten die Verhandlungen unter freiem Himmel oder wenigstens in Lauben als geöffneten Räumen stattzufindenGerichtsorte.16 Übereinstimmungen zwischen dem Nikodemusevangelium und einem Verfahren nach ,deutschem‘ Recht gibt es wiederum, was das rituelle Sitzen bzw. Aufstehen des RichtersRichterSitzen (während der Verhandlung) betrifft, das im Nikodemusevangelium mehrfach herausgehoben thematisiert ist (vgl. z.B. cap. IX 5 [9 (G/I)]; II,1).17

Der Vorwurf ,der Juden‘, dass Pilatus Jesus nicht von seinem Läufer, sondern durch einen Herold hätte vorladen lassen sollen (vgl. cap. I 2), ist ebenfalls vor dem Hintergrund des deutschen Rechtswesens verständlich, nach dessen Regeln Vorladungen durch einen Fronboten oder BüttelBüttel, Fronbote, Gerichtsbote vorgenommen werden.18 Auch dass die Art der Vorladung bzw. die Tatsache, ob jemand gefangen vor Gericht gebracht wird oder nicht, rechtlich relevant ist, stellt einen Punkt dar, der auf das ,deutsche‘ Recht bezogen eine Sinndimension entfaltet.Fesselung des Angeklagten19 Mit der sich aus der Vorladung ergebenden Chance des Angeklagten, sich von Vorwürfen zu befreien, war allerdings auch seine Verpflichtung verbunden, dem Richter zu antworten.20Eike von RepgowSachsenspiegelLdr. III39,3 Dass Jesus als Angeklagter im Nikodemusevangelium (cap. II 2) zunächst nicht auf die Vorwürfe reagiert und auf Nachfrage des Richters (in einem juristischen Sinne) ausweichend antwortet, ist auch im Rahmen des ,deutschen‘ Rechts erklärungsbedürftig.21

Noch bevor im Nikodemusevangelium Zeugen auftreten, kommt es im Kontext der Vorladungsszene zu einer Befragung des Läufers, die den Charakter einer Beweisaufnahme hat (cap. I 3f.): Aufgrund einer Beschwerde ‚der Juden‘ fordert Pilatus von ihm Auskunft über die Huldigungen, die er Jesus entgegengebracht habe. Als sich der Läufer auf das Verhalten ,der Juden‘ beim Einzug Jesu in Jerusalem als Grund beruft, greifen ‚die Juden‘ ein und wollen von ihm wissen, wie es sein könne, dass er verstanden habe, was auf Hebräisch gerufen worden sei, und er erklärt, er habe es sich übersetzen lassen. Dass genau aufgeschlüsselt wird, woher der Läufer sein Wissen hat, entspricht Prinzipien der (dem Richter obliegenden) BeweisaufnahmeBeweiseBeweisverfahren, wie sie im Spätmittelalter im gelehrten Recht formuliert worden sind.22 Zwar sind WahrnehmungszeugenZeugenAugenzeugenschaft auch im ,deutschen‘ Recht (gerade in den StadtrechtenRechtsordnungenStadtrecht) nicht ganz unbekannt, jedoch dürfte vor allem zu Beginn des 13. Jahrhunderts das Konzept der sogenannten EideshelferEidEideshelfer dominant gewesen sein: Sie bestätigen bei der Eidesleistung die Glaubwürdigkeit des Schwörenden.23 In dieser Funktion ähneln sie den im Nikodemusevangelium auftretenden laudatores (cap. II 4), obwohl die Konstellation dort anders gelagert ist, da sie den guten Leumund des Angeklagten bezeugen, der an diesem Punkt der Handlung selbst keine Aussage macht.

Außerdem sollen die laudatores selbst einen EidEidals Mittel der Wahrheitsfindung leisten (cap. II 5). EideEidZeugeneid waren ein so zentraler Bestandteil des ,deutschen‘ Gerichtsverfahrens, dass diese Forderung einem Rezipienten im 13. Jahrhundert selbstverständlich vorgekommen sein dürfte. Irritierend kann dagegen die von Pilatus vorgegebene EidesformelEidEidesformel (cap. II 5) gewirkt haben, die vom spätantiken Kaiserkult geprägt ist.24NikodemusevangeliumRezension Griechisch ANikodemusevangeliumRezension Lateinisch ATertullianApologeticum32,2 Dass die zwölf Juden unter Berufung auf ihr Gesetz einen Eid generell verweigern, könnte wiederum Anknüpfungspunkte geboten haben: Auch das ‚deutsche‘ Recht kannte Sonderregelungen für Juden, allerdings wurde die Eidproblematik meist durch einen JudeneidEidJudeneid gelöst.25

Divergenzen zwischen dem jüdischen und dem römischen RechtRechtsordnungenjüdisches vs. römisches Recht werden im Nikodemusevangelium in der Verhandlung vor Pilatus mehrfach thematisiert, insbesondere weil ‚die Juden‘ nach eigener Aussage die gewünschte Verurteilung Jesu und die KreuzigungStrafeKreuzigung nicht selbst vollziehen dürfen (cap. III 1).26 Während die Existenz eines jüdischen Sonderrechts (als ,jüdisches Recht‘Rechtsordnungenjüdisches Recht oder als ,Judenrecht‘JudenJudenrecht (und dessen Herleitung)) für einen mittelalterlichen Rezipienten strukturell plausibel gewesen sein dürfte, könnte es überraschend gewirkt haben, dass die Zeugnisunfähigkeit von Frauen im Text als speziell jüdisches Recht eingeführt wird (cap. VII [6.3 (G/I)]).27 Denn im Mittelalter wurde Frauen generell keine oder nur eine sehr eingeschränkte ZeugnisfähigkeitZeugenZeugnisfähigkeit zugestanden.28

Insgesamt erweisen sich die rechtlichen Elemente in der Prozessschilderung des Nikodemusevangeliums nicht als so detailliert, dass sie nur einer bestimmten, unter Umständen nicht mit dem ,deutschen‘ Recht kommensurablen Rechtsordnung eindeutig zuzurechnen wären. Neben einigen wenigen ,fremden‘ Elementen (wie der Verortung des Richterstuhls in einem Innenraum) dürfte es sogar Anknüpfungspunkte gegeben haben, die es ermöglichten, für die Darstellung in den drei Bibelepen das Geschehen auch vor der Folie des ,deutschen‘ Rechts mit Sinn zu erfüllen.

Jesus und das Landrecht

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