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3.2.3 wârheit

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Zu den Kürzungen, die in Diu urstende gegenüber dem Nikodemusevangelium zu beobachten sind, gehört auch, dass der Dialog zwischen Jesus und Pilatus über die Wahrheit (cap. III 2) entfallen ist. Ein Faktor dabei mag gewesen sein, dass im Zuge der Umgestaltung der Prozesshandlung keine der Unterredungen des Pilatus mit einzelnen Prozessbeteiligten beibehalten wurde.1 Zu bedenken ist jedoch auch, dass Jesus – nach dem Nikodemusevangelium – abschließend andeutet, dass diejenigen, die die Wahrheit sagen, von denen, die auf Erden die Macht haben, verurteilt werden. Zwar ist diese Aussage in erster Linie auf ihn selbst gemünzt, doch ist eine verallgemeinernde Form gewählt. In Diu urstende springt Pilatus als Vertreter der weltlichen Macht jedoch gerade dem bei, der die Wahrheit sagt, nämlich Nikodemus. Offenbar hat hier die Wahrheit auch auf Erden einen hohen Stellenwert.

Ausschließen kann man, dass das Gespräch zwischen Jesus und Pilatus weggelassen wurde, weil die Wahrheitsthematik nicht zentral gewesen wäre, denn wârheit ist in Diu urstende geradezu ein Leitwort,2 und die Handlung ist geprägt von Versuchen, herauszufinden, was wahr ist, es mitzuteilen oder zu verschleiern. Auch auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung erhebt der Text den Anspruch, mære weiterzugeben, die wâr sind (vv. 69–73). Dass die Erzählung inhaltlich um Wahrheit kreist, wird vom Erzähler einleitend zur Schilderung der Ereignisse nach Jesu Auferstehung explizit gesagt (vv. 1111–1113). Wenn es dort heißt, dass erzählt werden solle, wie sich die Wahrheit ganz und gar durchgesetzt habe, so ist damit eine Wahrheit gemeint, die über den Ablauf äußerer Ereignisse hinausgeht, nämlich die menschliche Natur Jesu nach seiner Auferstehung. Auch diese heilsgeschichtliche Wahrheit, die von Patriarchen und Propheten schon im Vorhinein ,bezeugt‘ ist,3Altes TestamentPs23[24],7–10 will jedoch aus Beobachtungen äußerer Fakten abgeleitet werden:

Nû lâze wir daz strâfen hie 4

– sîn ist genuoc – und sprechen wie

diu wârheit allez für brach

und manic sælic ouge sach

daz Christ die wâren menscheit

nâch tôde hæte an geleit

und erscheinte ez dâ mite,

daz er nâch menschen site

menschlîche spîse nôz

unz an den tac daz sich entslôz

der himel und in dar in enphie. (vv. 1111–1121)

Erzählt werden soll, wie gesehen worden ist, dass Christus nach dem Tod die menschliche Natur angenommen hatte. Gesehen werden aber nur Zeichen (dass Christus wie ein Mensch Nahrung zu sich nimmt), die eine Interpretation erfordern. Der zur Wahrheitsfindung nötige Zweischritt aus Wahrnehmung und Interpretation wird auch auf der Figurenebene immer wieder diskutiert.

Sobald die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung nicht mehr gegeben ist, wird weiterhin die Übermittlung durch einen vertrauenswürdigen Gewährsmann wichtig. Das ist bereits bei der Quellenberufung zu Anfang des Textes deutlich, wenn der Erzähler hervorhebt, dass die folgenden wahren Geschichten uns (also dem Erzähler und den von ihm angesprochenen Rezipienten) von einem guoten man (v. 71) übermittelt worden seien.5 Vorher wird eine Aufschlüsselung gegeben, woher dieser ,gute Mann‘ seine Informationen hatte (vv. 53–68): Dieser Eneas habe ,wahrgenommen‘,6WienÖNBCod. 2696 [V]NikodemusevangeliumGesta Pilati was passiert sei, als ,man‘ die Kreuzigung gesehenZeugenAugenzeugenschaft habe, d.h., er war dabei (vv. 54–61). Und er habe aufgeschrieben, was ihm von der Auferstehung Jesu erzählt worden sei (vv. 62–68). Die mögliche Legitimationslücke, dass nämlich die Berichte über die Auferstehung nicht vertrauenswürdig gewesen sein könnten, wird durch die Erzählung selbst geschlossen, in der selbst die wîsen unter ,den Juden‘ die Glaubwürdigkeit der Auferstehungszeugen anerkennen müssen (vv. 2126–2130). Im Prolog heißt es wiederum, dass Eneas auch aufgeschrieben habe, wie ouch diz [sc. die Ereignisse bis zur Himmelfahrt] bewæret wart (v. 66). Das Autor-Ich erweist sich durch die Anrufung des Heiligen Geistes (vv. 1–18) performativ als gläubig, womit seine gewissenhafte Übermittlung des religiösen Gegenstandes (geistlîchiu mære, v. 49) als gesichert gelten kann.7

Die Handlung ist geprägt von zwei großen Befragungskomplexen, in denen jeweils eine formalisierte Wahrheitsfindung stattfindet: dem Prozess gegen Jesus, in dem – trotz anderer Intention der Ankläger – Wahrheit bezeugt wird, und den von den Hohepriestern eingeleiteten Untersuchungen nach Jesu Auferstehung, die das Aufdecken der wârheit zum Ziel haben.8 Dabei steht als Kriterium, um den Wahrheitsgehalt einer Aussage zu prüfen, das Prinzip der AugenzeugenschaftZeugenAugenzeugenschaft neben dem Prinzip der GlaubwürdigkeitZeugenGlaubwürdigkeit des Aussagenden. Beide Prinzipien sind eng verknüpft;9 es sind aber im Textverlauf unterschiedliche Gewichtungen des einen oder des anderen Aspekts zu beobachten: Im Prozess gegen Jesus ist zunächst die Augenzeugenschaft relevant: Der (heidnische) Mann, der offenlîche spricht (v. 337),10 beruft sich bei seiner Aussage über Jesu Werke und dessen Empfang in Jerusalem (vv. 338–367) auf das, was er gesehen hat (vv. 338; 358), und gibt wieder, was er gehört hat (vv. 363–367). Er wirft ,den Juden‘ vor, dass sie – trotz einer größeren ,Datenmenge‘, die ihnen zur Verfügung steht (si hânt sîn selbe mêr gesehen, v. 339) – nicht die Wahrheit sagen wollen (v. 340), und führt so den im Weiteren wichtigen Gegensatz zwischen Wahrheit und Lüge ein.11 Der Gegensatz steckt zugleich den Rahmen für die folgenden Diskussionen ab, denn er macht deutlich, dass es zunächst einmal um die Wahrheit der äußeren Fakten geht. In diesem Sinne fassen jedenfalls die Ankläger die Aussage des Mannes auf. Sie gehen nicht auf seine Charakteristik von Jesu Wesen ein, sondern hinterfragen nur, woher der Mann seine Informationen habe, indem sie wissen wollen, wie er den Gesang bei Jesu Einzug in Jerusalem habe verstehen können, da er doch kein Hebräisch beherrsche (vv. 368–370). In seiner Antwort gibt der Mann dafür nicht nur eine plausible Erklärung, sondern konfrontiert ,die Juden‘ zugleich mit der ,Wahrheit‘ einer alttestamentarischen Prophezeiung (vv. 374–388).12 Die Ankläger deklarieren seine Aussage insgesamt als irrelevant für ihre Anklagepunkte (vv. 389–391). Dass sie aber die referierten Fakten nicht weiter auf den Prüfstand stellen, lässt erkennen, dass sie durch die Quellenangabe als gesichert gelten müssen.

Auch die Aussagen der von Jesus Geheilten (vv. 547–610) werden von ,den Juden‘ nicht hinterfragt, obwohl nur der Zustand der Heilung unmittelbar evident ist (vgl. z.B. vv. 610f.),13Eike von RepgowSachsenspiegelLdr. I63,1 nicht aber der der vorangegangenen Krankheit. Mit dem Schwur, den der erste der Geheilten vor seiner Aussage leistet (v. 547), wird zwar der EidEidZeugeneid als formelles Verfahren zur Sicherung der Glaubwürdigkeit aufgerufen, er steht aber nicht im Zentrum. Wie die Heilungen zu interpretieren sind, wird nicht diskutiert, da ,die Juden‘ an dieser Stelle nicht den Zaubereivorwurf erheben, sondern sich auf den formalen Aspekt beschränken, dass die Heilung des Blinden an einem Sabbat stattgefunden habe (vv. 611–628).

Es dürfte kein Zufall sein, dass die Frage der Glaubwürdigkeit vor allem mit der Nikodemus-Figur verknüpft ist, denn seine Aussage scheint – anders als die der (geheilten) Zeugen, die aus ihrer Erfahrung berichten – nicht auf eigener Augenzeugenschaft zu beruhen. Vielmehr steht die Konkurrenz verschiedener mære im Zentrum seiner Argumentation: Bei ihrem Vorwurf der unehelichen Geburt folgten die Ankläger Lügengeschichten (die lügelîchen mære, v. 455). Er hingegen sage ihnen jetzt, wie es gewesen sei (v. 458): Joseph sei durch das Wunder des grünenden Zweiges ausgewählt worden.14Pseudo-Matthäusevangelium Wollten sie das nicht glauben, so könnten zwölf rechtschaffene und glaubwürdige Männer die Rechtmäßigkeit der Ehe zwischen Maria und Josef bestätigen (vv. 462–476). Diese Männer zeichneten sich besonders durch zuht und alter aus, außerdem dadurch, dass sie zu der Zeit der Eheschließung hohe geistliche Ämter eingenommen hätten und in Lehre und Rechtsprechung tätig gewesen seien. Aus dem Hinweis auf ihre Ämter ist vermutlich abzuleiten, dass sie beim Wunder des belaubten Zweiges, das sich im Tempelkontext abspielt, zugegen gewesen sein müssen. Dieser Aspekt wird jedoch nicht explizit gemacht. Stattdessen wird gesagt, dass die Männer bestätigen können, dass es eine rechtmäßige Eheschließung zwischen Maria und Joseph gegeben habe und dass das von vielen gesehen worden sei, d.h., sie können sich ihrerseits auf Augenzeugen berufen. Ausschlaggebend für die Glaubwürdigkeit der Männer ist ihre Würde, die ihrer Version der Geschehnisse (geschiht, v. 474) Autorität verleiht.

Die Ankläger werfen Nikodemus zunächst einen Treuebruch ihnen gegenüber vor (vv. 477–492) und versuchen dann, sein Verhalten als Beleg dafür zu deuten, dass Jesus selbst gelehrte Männer15 in die Irre führen könne (vv. 634–646). Sie interpretieren also die Aussage des Nikodemus insgesamt als sinntragendes Zeichen und unterstellen ihm, dass er nicht mehr zu objektiven Aussagen in der Lage ist. Aufschluss über seine Glaubwürdigkeit soll, wie schon von Pilatus vorgesehen (vv. 501–503), die Aussage der zwölf bieten, die von den Anklägern als Augenzeugen betrachtet werden (vv. 647–649). Im Folgenden ist jedoch nicht wichtig, was sie gesehen haben, sondern ihre Aussage, dass Nikodemus die Wahrheit gesagt habe (vv. 667–670).

Diese Aussage ist mehrfach formell gerahmt. Nikodemus kündigt nämlich nicht nur an, dass die zwölf sich durch keine Drohung von der Wahrheit abbringen lassen werden (vv. 662f.), er führt sie zuvor auch namentlich ein und fragt, ob sich die anderen die Namen gemerkt hätten (vv. 650–660). Die NamensnennungZeugennamentliche Nennung ist umso auffälliger, als in Diu urstende zahlreiche Namen aus der Vorlage weggelassen worden sind.16 Hier scheint der Formalismus eines deutschrechtlichen Verfahrens durch: War eine bestimmte Anzahl von Zeugen namentlich angekündigt, galt das Zeugnis nur, wenn tatsächlich auch alle der Angekündigten erschienen waren.17 Nikodemus nennt die Namen erst, als die zwölf schon da sind, und ihre Identität wird dann nicht weiter überprüft, doch wird ihr offizieller Status als Zeugen dadurch bewusst gehalten, dass erzählt wird, dass sie von Pilatus befragt werden (vv. 664f.). Schließlich ist die Übereinstimmung ihrer AussagenZeugenMehrzeugenregelung (v. 666) eine formaljuristische Bestätigung des Gesagten.18 Dementsprechend versuchen die Ankläger auch nicht die Glaubwürdigkeit der zwölf, sondern deren ZeugnisfähigkeitZeugenZeugnisfähigkeit zu erschüttern (vv. 702–713), wobei sie sich dann wiederum auf das Wort der zwölf verlassen (vv. 714–728).19EidEideshelfer

In den Befragungsszenen im zweiten Teil sind die Kriterien der GlaubwürdigkeitZeugenGlaubwürdigkeit der Person und der Authentisierung durch AugenzeugenschaftZeugenAugenzeugenschaft bzw. eigene Erfahrung mehrfach miteinander kombiniert. Für die Himmelfahrt, die Joseph von Arimathia nicht mit eigenen Augen gesehen hat (vv. 1479–1482), beruft er sich auf drei zuverlässige (gewisse, v. 1484) Männer, deren Identität durch die Nennung ihrer NamenZeugennamentliche Nennung gesichert wird (vv. 1485f.). Joseph führt weiterhin aus, dass diese Männer dabei gewesen seien20 und dass sie nicht lögen; außerdem deutet er an, dass sie übereinstimmende AussagenZeugenMehrzeugenregelung machen würden (vv. 1487–1492). Wie die zwölf in der Prozessszene äußern sich die drei daraufhin herbeigeholten Männer nicht inhaltlich zu dem, was sie gesehen haben, sondern bestätigen die Integrität Josephs und den Wahrheitsgehalt von allem, was er gesagt hat (vv. 1511–1515).21Freiberger StadtrechtRechtsordnungenStadtrecht Sie berufen sich wiederum auf zwei weitere, durch Herkunft und Namen identifizierte ZeugenZeugennamentliche Nennung, die gewissez urchünde22 geben könnten (vv. 1516–1523). Wie bei dem geheilten Blinden im Prozess ist die Befindlichkeit der vom Tode auferweckten Simeonsöhne ein starkes Anzeichen für ihre Glaubwürdigkeit als Erfahrungszeugen. In ihrer schriftlich niedergelegten AussageSchriftlichkeitFixierung von Zeugenaussagen bildet die ,leibliche Beweisung‘ jedoch nur einen Teil ihrer Legitimationsstrategie (vv. 2098–2102), sie berufen sich auch darauf, dass sie die wârheit von ihrem Vater geerbt hätten (vv. 2103–2116).23

Bei Carinus und Leucius kommt nicht nur zusammen, dass sie integre Persönlichkeiten sind und dass sie aufgrund eigener Erfahrungen aussagen; ihr Bericht gewinnt zusätzliche Autorität auch dadurch, dass er im Tempel, einem für ,die Juden‘ hoheitlichen Ort, in deren Beisein (vv. 1683–1685) niedergeschrieben wird und Zweifel an der wahrheitsgemäßen Übermittlung durch einen Boten so ausgeschlossen sind (vv. 1545–1561). Das Wunder, dass die Schriftstücke bis auf Punkt und Komma übereinstimmenZeugengetrennte Befragung und daher keinen ZweifelZeugenMehrzeugenregelung an der wârheit des jeweils anderen lassen,24 ist auch für die skeptischen Oberen ,der Juden‘ so überzeugend,25 dass es bei der anschließenden Beratung nicht um den Wahrheitsgehalt des Gesagten geht, sondern nur darum, wie die schînigiu wârheit durch Lügen verborgen werden kann (vv. 2126–2131).

Der Sache nach wird hier wieder das von dem heidnischen Zeugen zu Beginn des Prozesses formulierte Problem angesprochen, dass ,die Juden‘ nicht die Wahrheit sagen wollen (vv. 339–342), doch deuten schon Unterschiede in der Formulierung an den beiden Stellen26 darauf hin, dass die schînigiu wârheit eine Größe ist, die den bloßen Ablauf äußerer Geschehnisse übersteigt. Vielmehr scheint es sich um die Offenbarungswahrheit zu handeln (wie sie vom Erzähler in v. 1113 schon angekündigt worden war). Dafür spricht auch die Art, wie die Berufung der Simeonsöhne auf ihren Vater angelegt ist: Zunächst führen sie seine Rechtschaffenheit und sein Alter als Autoritätssignale an (vv. 2106f.), dann jedoch, dass er bei der Darbringung Jesu im Tempel vom Heiligen Geist die Weisheit empfangen habe, die ihn bewegte, einen Lobgesang (vgl. Lc 2,29Neues TestamentLukasevangelium Lc2,29) anzustimmen (vv. 2108–2116). Wenn seine Söhne sich darauf berufen, dass sie die wârheit ererbt hätten, so dürfte sich das sowohl auf die moralische Kategorie des Nicht-Lügens beziehen als auch auf das Erkennen und die Weitergabe der Offenbarungswahrheit.

Tatsächlich sind sie dem Handlungsverlauf nach von Nikodemus dazu aufgefordert zu sagen, wer sie dem Tode entrissen habe (vv. 1650–1658), darüber hinaus aber (v. 1659), ob es sich bei Jesus von Nazareth um Christus handele (vv. 1660–1667).27 Ein entsprechender Zweischritt ist auch in der Aussage Josephs zu beobachten, der seinen Befreier erst als Jesus identifiziert, den ,die Juden‘ gefangen genommen hätten (vv. 1464–1466), bevor er von dessen Auferstehung und Himmelfahrt berichtet (vv. 1467–1469) und ihn als zukünftigen Weltenrichter charakterisiert (vv. 1470f.). Die Differenzierungen machen deutlich, dass die faktische Ebene des Geschehens erst noch mit der heilsgeschichtlichen Wahrheit verknüpft werden muss. Zwar sind die Geschehnisse Zeichen für die Offenbarungswahrheit, aber eine alternative Interpretation des Faktenbefundes wäre möglich, etwa, dass es zwar Jesus war, der Joseph befreit hat, dass ihm das aber aufgrund teuflischer Kräfte möglich war. Dieser Vorwurf wird so im Text nicht formuliert; als jedoch ,die Juden‘ das Gefängnis Josephs leer vorfinden, ist ihr Erklärungsmuster für das wunder (v. 1031) – ebenso wie für das leere Grab –, dass das auf Zauberei der Christen zurückzuführen sei (vv. 1031–1039).28 Dementsprechend stehen bei den Befragungsszenen im zweiten Teil von Diu urstende nicht die ohnehin evidenten äußeren Fakten im Mittelpunkt, sondern deren Interpretation. So dürfte auch zu erklären sein, dass der Beglaubigungsaufwand für die Zeugen sich immer mehr steigert; denn wenn ein Augenzeuge auch Erklärungen liefern soll, ist dessen Person umso wichtiger.29

Demgegenüber geht es im Prozess vor Pilatus im Wesentlichen um eine Faktenwahrheit. Das grundsätzliche epistemologische Problem, dass Handlungen oder Abläufe von Geschehnissen keinen Rückschluss darauf zulassen, wie sie motiviert sind, wird in Diu urstende (in Übereinstimmung mit der Vorlage) jedoch schon bei der Schilderung des Fahnenwunders vor Augen geführt und exemplarisch gelöst: Der Erzähler gibt sofort die Interpretation, dass sich die Fahnen ohne Zutun der Träger verneigen, um den Schöpfer zu ehren (vv. 279–283). Dass eine alternative Interpretation der Zeichen möglich ist, zeigt der Vorwurf ,der Juden‘, die das Senken der Fahnen auf eine absichtsvolle Handlung (schult) der Träger zurückführen (vv. 284–287).30 Diese Interpretation kann durch das von den Trägern zu ihrer Verteidigung vorgeschlagene Experiment31 ausgeschlossen werden, dass sie als Fahnenträger gegen Jesus nicht wohlgesonnene Personen ausgetauscht werden (vv. 289–298). Die Träger wollen ausdrücklich sichtbar machen (v. 298), dass sie nicht intentional gehandelt haben.32 Durch die Wiederholung des Phänomens wird unzweifelhaft erwiesen, dass es die Fahnen selbst sind, die sich vor Jesus verneigen, jedoch bringen ,die Juden‘ wiederum eine konkurrierende Interpretation vor, nämlich dass Jesus Zauberei angewandt habe (vv. 299–312).

Beim Auferstehungsgeschehen sind die epistemologischen Probleme zugespitzt, da eine Wiederholbarkeit – so wie beim Fahnenwunder – nicht gegeben ist. Eine Schlüsselstelle für die Wahrheitsproblematik im zweiten Teil von Diu urstende bildet die Wächterszene, in der die Auferstehung erstmalig diskutiert wird. Für alle evidentBeweiseBeweiswürdigung ist, dass das Grab Jesu leer ist, doch wie ist dieser Befund zu erklären (vv. 894–896)?33 Die Wächter lehnen die ihnen Mitschuld zuweisende (vv. 906f.) Hypothese ab, dass der Leichnam gestohlen worden sei (v. 899);34 es seien Engel gekommen, und dann seien sie von einem hellen Licht so geblendet gewesen, dass sie angstvoll wie tot dagelegen hätten (vv. 908–915). Für die Wächter ist die einzig wahre Interpretation dieses Vorgangs, dass Jesus auferstanden ist (vv. 916–920). ,Die Juden‘ unterstellen den Wächtern deshalb Einfältigkeit (vv. 921–923) – so wie sie Nikodemus als irregeleitet klassifiziert hatten –, die Wächter beteuern jedoch, dass sie die Wahrheit sagen, und geben einen mündlichen Beweis (wortzeichen, v. 925),35 dass nämlich kein Mensch außer ‚armen‘ Frauen und zwei unbewaffneten Männern gekommen sei, die das Grab schon leer gefunden hätten (vv. 924–940).36 ,Die Juden‘ argumentieren daraufhin mit mangelnder Wahrscheinlichkeit:

‘Ez ist ungelouplîch,

der wârheit niender gelîch,

daz immer mensche erstê

dar an der tôt sîn reht begê.

[…] (vv. 951–954)

Dem Analogie-Argument der Wächter, dass jemand, der in der Lage gewesen sei, Lazarus aufzuwecken, sich doch vom Tod befreien könnte (vv. 974–982), haben ,die Juden‘ jedoch inhaltlich nichts entgegenzusetzen, sondern erneuern das Angebot von Bestechungsgeld, das die Wächter veranlassen soll, in ihrem Sinne auszusagen (vv. 983–987; vgl. vv. 955–966).

In der Wächterszene wird das einzige Mal im Text Plausibilität zum Wahrheitskriterium.37 Ob es aber nun rationale Argumente38 sind oder die durch bestimmte Mechanismen abgesicherte Vertrauenswürdigkeit von Zeugen, immer wieder wird deutlich, dass die Prinzipien der Wahrheitsfindung nicht zur Debatte stehen und ,die Juden‘ aufgrund dieser Prinzipien schließlich den Wahrheitsgehalt des Gesagten zugeben müssen, selbst wenn es um die Offenbarungswahrheit geht. Insofern trifft der vom Erzähler referierte biblische Vorwurf der Blindheit und Taubheit ‚der Juden‘ (vv. 1075–1081)39 den Kern des von ihm Erzählten nur, wenn man ihn so versteht, dass ,den Juden‘ das volle Verständnis des Wahrgenommenen fehlt. Tatsächlich spezifiziert der Erzähler den Vorwurf dahingehend, dass sie die Wahrheit gesehen, aber nicht eingestanden bzw. das Gehörte ins herze hätten vordringen lassen (vv. 1082–1090). Sein Hauptvorwurf lautet aber, dass sie nach nichts anderem strebten, als die wârheit mit schlimmen Lügen zu ,verhindern‘ (verlegen)40 (vv. 1091–1098). Wie zum Beweis des Gesagten endet der Bericht im Text damit, dass die Hohepriester ein Zeugnis ,verhindern‘ bzw. es den tumben vor dem Tempel (v. 1575) vorenthalten wollen, indem sie nach der Befragung der Simeonsöhne verkünden, es sei alles ein Versuch der Christen gewesen, sie mit Zauberei in die Irre zu führen (vv. 2128–2148).41

Wenn man, mit Blick auf den gesamten Text, das Verhältnis zwischen Wahrheitsfindung und Rechtsthematik bestimmen will, so fällt auf, dass die Konzentration auf die Wahrheit der äußeren Fakten in der Erzählung vom Prozess nicht bedeutet, dass mit den dort eingeführten Techniken der Zeugenbefragung und Legitimierung nur eine Annäherung an diese Art von Wahrheit gesucht würde, denn auch der Teil des Textes, der das Auferstehungswunder in den Mittelpunkt stellt, ist von juristischen Frage- und Argumentationstechniken bestimmt.BeweiseBeweisverfahren Abzulesen ist das auch an der Verwendung eines entsprechenden Vokabulars (wortzeichen, verlegen). Dass die heilsgeschichtliche Wahrheit erst bei den Befragungen durch ,die Juden‘ in den Mittelpunkt rückt, hat vielmehr mit der Dramaturgie des Textes zu tun. Sie steuert darauf zu, dass ,die Juden‘ die Wahrheit anerkennen müssen. Zwar bedarf der ,Beweis‘ der Heilswahrheit göttlicher Unterstützung, doch geben sich ,die Juden‘ letztlich geschlagen, weil die Schriftstücke identisch sind, weil also die Wahrhaftigkeit der Aussagen der Simeonsöhne nach irdischen Kriterien authentifiziert ist.42 Eine Distanzierung von diesem Wahrheitskriterium lässt der Text nicht erkennen,43 sodass effektvoll die Wirksamkeit juristisch anmutender Techniken zur Wahrheitsfindung inszeniert wird.

Jesus und das Landrecht

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