Читать книгу Jesus und das Landrecht - Henrike Manuwald - Страница 10

1.3.3 Zur Sonderstellung der BibelepikBibelepik

Оглавление

,Bibelepik‘ dient als Sammelbegriff für höchst heterogene Texte.1 Sie haben aber alle gemeinsam, dass die Bibel – gegebenenfalls zusammen mit auf die Bibel referierenden apokryphen Texten – als externes Bezugsfeld dominant ist.2 Dieser Bezug auf die Bibel ist nicht primär als ,literary frame‘ anzusehen (wenn eine solche Betrachtungsweise überhaupt angemessen ist), jedoch sind damit neben der Festlegung auf bestimmte Erzählmuster3 gestalterische Implikationen verbunden, die Susanne Köbele (2017) treffend als ,programmatische ästhetische Einfachheit‘ charakterisiert hat. Sie gehe jedoch nicht selten einher mit „raffinierter Artifizialität“, nicht zuletzt der kunstvollen Verknüpfung unterschiedlichster Sprechregister.4 Für deutschsprachige bibelepische Texte des Hochmittelalters5 sind bislang vor allem Anlehnungen an den höfischen RomanHöfischer Roman diskutiert worden.6Konrad von FußesbrunnenKindheit JesuDer Sälden HortHöfischer Roman Schon hinsichtlich der dichterischen Gestaltung bibelepischer Texte ist die Bibel also nicht der einzige Bezugsrahmen, sondern die Texte situieren sich auch in der literarischen Kultur ihrer Entstehungszeit.

Bei der Rezeption bibelepischer Texte dürften für ein christlich geprägtes mittelalterliches Publikum außerdem ,real word frames‘ auf ganz unterschiedlichen Ebenen relevant gewesen sein. Wegen seines autoritativen Charakters fundiert der Bibeltext historisches und ethisches Wissen, das bei der Rezeption herangezogen worden sein dürfte. Nicht zu trennen ist der biblische Text außerdem von der Auslegungstradition, die ebenfalls als Referenzrahmen zu berücksichtigen ist. Vor dem Hintergrund des diachronen Wiedererzählens biblischer Geschehnisse ist aber auch zu fragen, ob ,real world frames‘ im Sinne des Erfahrungswissens über die gegenständliche Welt und (historisch variierende) soziale Praktiken aufgerufen werden. Dieser Bereich ist nicht scharf von anderen der ,Realität‘ abzugrenzen, weil Praktiken (gerade im Recht) wiederum in ethischem Wissen wurzeln können, das ebenfalls aus der Bibel abgeleitet ist. Er sei hier behelfsmäßig mit ,Alltagswelt‘7 und ,Lebenspraxis‘ charakterisiert.

Dass narrative biblische Texte auf der Ebene des sensus historicus auf historisch spezifische Alltagsgegenstände und Sozialstrukturen referieren, ist ein Befund, der vor allem in der Übersetzungswissenschaft diskutiert worden ist.8 Unabhängig davon, ob in Übersetzungen oder narrativen Bearbeitungen aktualisierende Anpassungen vorgenommen sind, werden bei der Rezeption zur Identifikation solcher Elemente Alltagserfahrungen aktiviert, sodass sich semantisches Material aus diesem Bereich anlagern wird. Bei Elementen, die sich auf die Kultur der Entstehungszeit beziehen lassen, ist jedoch nicht eindeutig, ob sie vorrangig im Bezugsfeld der ,Alltagswelt‘ oder in der Auslegungstradition der Bibel zu interpretieren sind.9Heliand Scheinbar alltagsweltliche Motive sind möglicherweise typologisch oder allegorisch auszudeuten.10 Eine solche Auslegungsebene ist nicht selten in die Erzähltexte selbst integriert.11Priester WernherDriu liet von der maget

Darüber hinaus sind in den mittelalterlichen bibelepischen Texten aber oft Ausgestaltungen zu finden, die primär auf die Kultur der Entstehungszeit der Texte verweisen. Das sei – in Ermangelung einer übergreifenden Untersuchung12Heliand – anhand von Beispielen belegt:13Bruder PhilippMarienlebenPassional Im Evangelienbuch Otfrids von WeißenburgOtfrid von WeißenburgEvangelienbuch heißt es etwa bei der Erzählung von der Hochzeit zu Kana (Kap. 2,8) ausdrücklich, dass Jesus zu seiner Mutter so gesprochen habe, wie es sich für einen Sohn gehöre;14 zudem sind implizit an anderen Stellen zeitgenössische Formen des herrscherlichen Sprechens aufgenommen.15Geistliches Spiel Eine solche partielle Annäherung des biblischen Geschehens an zeitgenössische Verhältnisse fordert den Rezipienten auf, weitere Gegenwartsbezüge herzustellen. Das schließt eine allegorische Deutung nicht aus, wie das Beispiel des Evangelienbuches (vgl. Kap. 2,9f.) zeigt.

Genetisch lässt sich der Bezug auf die zeitgenössische Lebenspraxis in etlichen Fällen als Resultat mehrfacher Rezeptionsprozesse deuten, bei denen das ,Realitätsprinzip‘ zur Anwendung gekommen ist: Bereits im Pseudo-Matthäusevangelium (18,1)Pseudo-Matthäusevangelium18,1,16 in dem die Flucht nach Ägypten gegenüber der Bibel durch weitere Handlungselemente ausgestaltet ist, wird in Zusammenhang mit der Rast der Heiligen Familie in einer Höhle erwähnt, dass sie von drei Knechten und einer Magd begleitet worden seien. In der unter anderem auf dem Pseudo-Matthäusevangelium fußenden Kindheit Jesu Konrads von FußesbrunnenKonrad von FußesbrunnenKindheit Jesu wird das ,Gesinde‘ folgerichtig schon beim Aufbruch zur Flucht genannt, wobei unter Berufung auf die Quelle gerechtfertigt wird, dass es nicht aus mehr Personen bestanden habe (vv. 1325–1330),17 d.h., es wird zugleich auf zeitgenössische Vorstellungen referiert, nach denen für die Heilige Familie offenbar eine größere Zahl von Bediensteten als angemessen empfunden worden wäre.18

In der Kindheit Jesu ist an mehreren Stellen zudem eine Argumentation nach der Logik des praktischen Alltagslebens zu beobachten, wenn erzählt wird, wie Josef die Geburtshöhle einrichtet (vv. 763–771)Konrad von FußesbrunnenKindheit Jesu763–771 oder dass sich Maria mit dem Jesuskind vor die Höhle betten lässt, als diese die vielen Besucher nicht mehr fassen kann (vv. 1060–1063)Konrad von FußesbrunnenKindheit Jesu1060–1063.19 Auch der ,Umzug‘ Mariens geht zwar letztlich auf ein Bemühen zurück, widersprüchliche Angaben in der Erzähltradition zusammenzuführen,20 argumentiert wird aber erneut auf einer lebenspraktischen Ebene. Sogar die ursprünglich allegorisch motivierte Präsenz von Ochs und Esel bei Jesu Geburt in Bethlehem21Altes TestamentIs1,3Altes TestamentHab3,2 erhält in der Kindheit Jesu eine lebenspraktische Dimension, denn es wird erklärt, Josef nehme neben dem Esel auch noch ein Rind nach Bethlehem mit, um für sich und seine Familie die Steuern zu bezahlen (vv. 722–726)Konrad von FußesbrunnenKindheit Jesu722–726.22 Später wird die andächtige Haltung von Ochs und Esel gleichwohl als Erfüllung eines Prophetenwortes interpretiert, und selbst der Unrat im Stall wird allegorisch ausgedeutet (vv. 1102–1126)Konrad von FußesbrunnenKindheit Jesu1102–1126. Die punktuelle Profanierung des Motivs mit allegorischer Deutungstradition eröffnet jedoch auch die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit als Bezugsrahmen, in dem die erzählten Geschehnisse zu interpretieren sind.

Diese Erfahrungswirklichkeit wird in der Kindheit Jesu auch dadurch aufgerufen, dass auf typische Verhaltensmuster rekurriert wird: An mehreren Stellen benennt der Erzähler Verhaltensweisen als ,kindlich‘, wobei etwa das kindliche Spiel als alterstypische Verhaltensweise erscheint.23 Auf ein entsprechendes kulturelles Wissen wird in Priester Wernhers Driu liet von der magetPriester WernherDriu liet von der magetD, v. 2355 referiert, wenn es in der Szene der Vorverkündigung am Brunnen heißt, der Engel habe mit Maria Verstecken gespielt, als man pfleit mit den kinden (Fassung D, v. 2355).24 Solche expliziten Verweise auf das, was ,man‘ tue, sind kein Einzelfall. So wird im Marienleben Bruder Philipps erklärt, Maria habe den Heiligen Rock in derjenigen textilen Technik hergestellt, die ,man‘ auch für die Anfertigung von Handschuhen und Hauben benutze (vv. 3638–3653)Bruder PhilippMarienleben3638–3653.25 Manchmal zeigt aber auch nur die Wortwahl eindeutig an, dass die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit als Bezugsfeld zu aktivieren ist. Ebenfalls im Marienleben Bruder Philipps heißt es zum Beispiel, dass Maria (nach der Rückkehr aus Ägypten) eine Hufe Land (eins eigens huobe, v. 3907) geerbt habe, weil ihr Vater gestorben sei; Joseph habe dieses Stück Land bebaut, um die Familie zu ernähren (vv. 3906–3911)Bruder PhilippMarienleben3906–3911. Nicht nur das Flächenmaß verweist auf zeitgenössische ,realweltliche‘ Verhältnisse,26 sondern auch der Erbvorgang dürfte vor diesem Hintergrund als standardisierter Vorgang wahrgenommen worden sein.27 Diese Bezüge sind auch für den modernen Interpreten wichtig, um zu begreifen, dass die Heilige Familie an dieser Stelle des Textes als ,normale‘ Familie dargestellt ist, die eine wirtschaftliche Lebensgrundlage benötigt.28 Allegorisch ausdeuten lässt sich das Motiv des geerbten Ackers nicht; allerdings bereitet es im Handlungsverlauf die spätere Erzählung vom Kornwunder vor, das Jesus für Joseph vollbringt (vv. 4468–4487)Bruder PhilippMarienleben4468–4487.29

Im Vergleich mit anderen Texten wird deutlich, dass der alltagsweltliche Bezugsrahmen kein Einzelfall ist, der mit der apokryphen Natur des Acker-Motivs zu erklären wäre. In der ErlösungErlösung beispielsweise finden sich etliche nicht-allegorische „Detail- und Genreschilderungen“, die „in erster Linie dazu dienen, die Handlung in der “faktischen Wirklichkeit” anzusiedeln“.30 Auch im spätmittelalterlichen Geistlichen SpielGeistliches Spiel ließen sich vergleichbare ,Realitätsüberschüsse‘ nachweisen.31Geistliches Spiel Zum Beispiel fordert in den York Trial PlaysYork Trial Plays ein Diener Pilatus auf, er solle sich die Hände waschen, solange das Wasser noch warm sei.32

Nach den Einzeluntersuchungen zu den genannten Texten erfüllen die Realitätsreferenzen jeweils unterschiedliche Funktionen: So ist der ,Realismus‘ der York Trial Plays als Strategie angesehen worden, die Zuschauer durch die Verankerung des biblischen Geschehens in deren Erfahrungswirklichkeit emotional anzusprechen.33 Für die ErlösungErlösung sieht Jens Haustein (1994) in den Bezügen auf die ,faktische Wirklichkeit‘ ein Indiz dafür, dass das „heilsgeschichtliche Geschehen […] gewissermaßen den Gesetzen dieser Welt“ folgt und damit als „Geschichte der Zeit, in einer Zeit, die für den Menschen erfahrbar ist“, konzipiert ist.34 Referenzen auf die Kultur zur Entstehungszeit der Texte können jedoch auch genau den umgekehrten Effekt haben. Wenn nämlich das ,Alltägliche‘ mit dem Exzeptionellen kontrastiert wird, dienen Referenzen auf die Alltagswelt dazu, das Heilige noch deutlicher herauszustellen:35BibelepikLegendarik Bruno Quast (2014) hat für die ,profane‘ Szene der Vorverkündigung in Priester Wernhers Driu liet von der magetPriester WernherDriu liet von der maget gezeigt, dass sie innerhalb der heilsgeschichtlichen Erzählung einen „Säkularisierungseffekt“ erzeuge.36Konrad von FußesbrunnenKindheit Jesu844–869 Im Marienleben Bruder PhilippsBruder PhilippMarienleben lassen die detaillierten Erläuterungen zur textilen Technik, derer sich Maria bei der Anfertigung des Heiligen Rocks bedient habe, das Mitwachsen des Rockes umso wunderbarer erscheinen.37 In der Kindheit Jesu Konrads von FußesbrunnenKonrad von FußesbrunnenKindheit Jesu wiederum ist mehrfach ,kindliches‘ mit ,göttlichem‘ Verhalten Jesu in Konfrontation gebracht.38Konrad von FußesbrunnenKindheit Jesu1373–1410Konrad von FußesbrunnenKindheit Jesu2695–2808Neues TestamentMarkusevangelium Mc3,1–6Neues TestamentJohannesevangelium Io2,13–16 Insgesamt sind diese Szenen im theologischen Referenzrahmen der Diskussion um die Doppelnatur Jesu zu sehen;39Konrad von FußesbrunnenKindheit Jesu12 im Textverlauf wird diese Doppelnatur aber nicht zuletzt durch Referenzen auf die Praktik des Kinderspiels demonstriert, die mit den Wundern, die das spielende ,Kind‘ vollbringt, kontrastiert wird.

Wie komplex Referenzrahmen ineinander verschachtelt sein können, lässt sich nicht zuletzt am Badeschaum-Wunder in der Kindheit Jesu verdeutlichen: Als die Heilige Familie das erste Mal im Hause des Schächers empfangen wird, badet die Frau des Schächers hingebungsvoll das Jesuskind (vv. 1798–1818)Konrad von FußesbrunnenKindheit Jesu1798–1818. Die Entstehung des Schaums wird damit erklärt, dass es in ,kindlicher‘ Weise begonnen habe zu planschen.40 Wie der Text suggeriert, entfaltet der Badeschaum seine heilende Kraft nicht zuletzt aufgrund der andächtigen Haltung der Frau des Schächers, die das Exzeptionelle des Jesuskindes wahrgenommen zu haben scheint (vv. 1811–1817; 2172–2209Konrad von FußesbrunnenKindheit Jesu2172–2209).41 Die Leistung dieser Frau kann aber ebenso wie der Kontrast zwischen (vermeintlich) kindlichem Verhalten und der Wundertätigkeit Jesu nur erkannt werden, wenn der Referenzrahmen kindlichen Normalverhaltens erst einmal aufgerufen ist. Zugleich gehört das Baden des Jesuskindes zur vorbildlichen Bewirtung der Heiligen Familie, wobei dieses Verhaltensmuster höfisch konnotiert ist.42 Die Referenzen auf ,das Höfische‘ beschränken sich nicht auf die Inhaltsebene; die rhetorische Gestaltung der Bewirtung (Schilderung des locus amoenus, indirekte Ausdrucksweise; vgl. vv. 1819–1866Konrad von FußesbrunnenKindheit Jesu1819–1866) verweist auf den höfischen RomanHöfischer Roman.43 Das scheinbar alltagsweltliche Motiv des planschenden Jesuskindes ist also auch nicht unabhängig von diesem ,literary frame‘ zu deuten. Insofern ist es eine analytische Fokussierung, die Referentialität einzelner Textelemente auf die praktische Erfahrungswirklichkeit herauszugreifen.

Für das Genre der Bibelepik im deutschen Hochmittelalter lässt sich auf der Grundlage der angeführten Beispiele aber festhalten, dass Elementen aus ,Alltagswelt‘ und ,Lebenspraxis‘ nicht notwendig eine allegorische Bedeutung zugeschrieben sein muss (genauso wenig wie sie von vornherein auszuschließen ist). Neben der Bibel als dominantem externen Bezugsfeld ist also auch mit literarischen Traditionen und nicht zuletzt mit der Alltagserfahrung als Referenzrahmen zu rechnen. Weil für bibelepische Texte die Orientierung an einem autoritativen Referenztext konstitutiv ist, unterscheiden sie sich in der Gewichtung der Bezugsfelder von den oben skizzierten fiktionalen Texten; sie teilen mit ihnen jedoch die grundsätzliche Eingebundenheit in verschiedene Kontexte.44BibelepikHeldenepikHöfischer Roman Damit sind auch bibelepische Texte offen für Anlagerungen von semantischem Material aus der Erfahrungswirklichkeit zeitgenössischer Rezipienten bzw. mögen sogar Begründungszusammenhänge entwerfen, die erst vor diesem Hintergrund fassbar werden. Die Erschließung der inhaltlichen Implikationen von Realitätsreferenz in der Bibelepik ist damit eine Vorbedingung für die Interpretation der Texte. Die Kerntexte sind also für eine Untersuchung von ,Recht und Literatur‘ so zu behandeln, wie es in Kapitel 1.3.2 für literarische Texte skizziert wurde.

Jesus und das Landrecht

Подняться наверх