Читать книгу Jesus und das Landrecht - Henrike Manuwald - Страница 15
2.2 Zur Forschungslage
ОглавлениеDer im ,Vorwort‘ des Nikodemusevangeliums erhobene Anspruch, dass der nachfolgende Text aus dem Aktenbestand im Archiv des Pilatus stamme, fordert eine rechtshistorische Betrachtungsweise des Textes geradezu heraus. In der Tat hat Ernst von Dobschütz 1902 die These aufgestellt, dass sich der Abschnitt über den Prozess nur dadurch angemessen verstehen ließe, dass man „ihn fasse als Versuch, den Process Jesu als in allen Formen des römischen StrafprocessesRechtsordnungenrömisches Recht, wie er dem Verfasser geläufig war, verlaufen darzustellen.“1 Unter dieser Prämisse analysierte von Dobschütz die Prozesshandlung und kam zu dem Ergebnis, dass die Anlehnung an Prozessakten eine Fiktion sei, dass es sich aber durchaus um ein specimen iuridicum handele: Es sei von einem vermutlich juristisch gebildeten Verfasser versucht worden, den Prozess als Akkusationsverfahren darzustellen, wie es im 4. Jahrhundert üblich gewesen sei.2 Dem hat Theodor Mommsen, auf dessen rechtshistorische Arbeiten sich von Dobschütz bei seinen Ausführungen maßgeblich stützt, noch in demselben Jahr heftig widersprochen: „Die PilatusaktenNikodemusevangeliumGesta Pilati […] rühren […] her von einem Verfasser, der vom römischen Recht gar nichts verstand und dessen juristische Unwissenheit vor allem da hervortritt, wo er Rechtsausdrücke wie praetorium, praeco, velum in den Mund nimmt, während er überdies an Albernheit seines Gleichen sucht.“3
Die (sich auf die Rezension Griechisch ANikodemusevangeliumRezension Griechisch A konzentrierende) Kontroverse zwischen Mommsen und von Dobschütz, auf die bereits Erich Klibansky (1925) einleitend zu seiner Analyse der Prozesshandlung in mittelhochdeutschen Versdichtungen über die Passion verwies,4 verdient immer noch Aufmerksamkeit, weil sie zusammen mit der darauf aufbauenden Forschung grundlegende methodologische Fragen offenlegt.5 Klibanskys Kritik, dass das Nikodemusevangelium unreflektiert als rechtshistorische Quelle genutzt worden sei,6 trifft dabei nicht den Kern der Sache, denn von Dobschütz fragt nach dem „Motiv“ für die Abfassung der Schrift7 und interpretiert den Abschnitt über den Prozess als einen Versuch der kulturellen Aneignung, die das Geschehen einem zeitgenössischen Publikum näherbringen sollte.8Heliand Dass von Dobschütz ein übergeordnetes Erzählziel annimmt, mag der Grund dafür sein, dass er bei Abweichungen vom Prozessrecht des 4. Jahrhunderts zumindest erwägt, dass sie sinnstiftend gewesen sein bzw. auf die Gegebenheiten der Vorlage zurückgehen könnten.9
Mommsen, der wesentlich mehr Irregularitäten des Prozessablaufs konstatiert als von Dobschütz, schließt daraus dagegen auf die Inkompetenz des Verfassers in Rechtsdingen. Dabei gesteht Mommsen dem Verfasser durchaus zu, dass er die (mögliche) Form des Akkusationsverfahrens habe wählen wollen, „weil es dem Verfasser sicher als Blasphemie erschienen wäre, den Heiland im Bagatellprocess verurteilen zu lassen“.10 Selbst innerhalb von Mommsens Beitrag wird so erkennbar, wie stark die Interpretation rechtlicher Motive von den Prämissen abhängig ist, die der Interpret über die Kohärenz des Textes und den Gestaltungswillen seines Verfassers aufgestellt hat. Das lässt sich auch am Kapitel Chaim Cohns (1997 [1977]) über das Nikodemusevangelium zeigen. Er wendet sich mit Bezug auf die Kontroverse zwischen von Dobschütz und Mommsen dagegen, dass das Erkenntnisinteresse in erster Linie auf den Kompetenzen des Verfassers liegen sollte.11 Grundlage für Cohns eigene Interpretation ist die Annahme, dass der Verfasser einige Unstimmigkeiten der kanonischen Evangelien habe ,wegerklären‘ und das Geschehen mit seinem Wissen über die römische Gesetzgebung und das römische Verfahrensrecht habe in Einklang bringen wollen.12 Um die narrative Bearbeitung durch den Verfasser als sinnstiftend zu erweisen, muss Cohn dann jedoch mit den beim Verfasser und dessen zeitgenössischen Rezipienten vorhandenen oder nicht vorhandenen Kenntnissen über das römische und das jüdische Recht argumentieren.13
Dass von Dobschütz und Mommsen zu abweichenden Ergebnissen kommen, was die Korrespondenzen zwischen dem im Nikodemusevangelium geschilderten Prozess und einem ,korrekten‘ Akkusationsverfahren angeht, ist nur zu einem geringen Grad darauf zurückzuführen, dass sie das Nikodemusevangelium unterschiedlich datieren.14 Ihre divergierenden Annahmen über die Entstehungszeit des Textes verweisen aber auf ein zusätzliches Problem der Forschung zum Komplex ,Literatur und Recht‘, insbesondere bei vormodernen Texten: Kann überhaupt davon ausgegangen werden, dass sich Referenzen auf das Rechtswesen auf die Verhältnisse zur Entstehungszeit des Textes beziehen? Das scheint beispielsweise Anne Daguet-Gagey (2005) vorauszusetzen, wenn sie aus den rechtlichen ,Realien‘ im Nikodemusevangelium eine Datierung des Textes ableitet. Ihre These stützt sich allerdings nicht auf die ,Realien‘ allein, sondern vor allem auf die verwendeten termini technici.15 Die Datierung über termini post quem für bestimmte Ausdrücke ist überzeugend; die Frage, wie sich aktualisierende Bezeichnungen zur dargestellten Sache verhalten, stellt Daguet-Gagey jedoch nicht. Dabei zeigen sich ihren Erkenntnissen zufolge sowohl bei der Lokalisierung des ,Tribunals‘ als auch bei der Episode mit den sich verneigenden ‚Zeichen‘ Wissenslücken des Verfassers über römische Gepflogenheiten.16 Daraus wäre aber doch dann zu schließen, dass der Verfasser eben nicht die zu seiner Zeit gegenwärtige Rechtspraxis darstellt, vielmehr das, was für ihn und die Rezipienten als ,römisch‘ plausibel ist. Dass durch den Versuch der Darstellung eines ‚römischen‘ Kontexts ein hybrides Bild eines Rechtswesens entsteht, wäre beim Untersuchungsziel Daguet-Gageys, versteckte Realien im Prozessteil des Nikodemusevangeliums aufzuspüren,17NikodemusevangeliumGesta Pilati zu bedenken.
Wie Daguet-Gagey will auch Schärtl (2011) die Gesta PilatiNikodemusevangeliumGesta Pilati als historische Quelle auswerten. Ihr geht es jedoch nicht um die Realien, sondern um kulturelle und gesellschaftliche Strömungen, aus denen die Motivation für die Abfassung des Textes erwachsen sein könnte.18 Um ihrem Ziel näherzukommen, analysiert Schärtl die Erzählstrategien, zieht daraus Schlüsse über mögliche Adressatengruppen und arbeitet dem Text inhärente Einstellungen zu Heidentum, Christentum und Judentum heraus. Ihre Analyse der rechtshistorischen Bezüge steht im Einzelnen dem Vorgehen bei von Dobschütz und Mommsen sehr nahe, verfolgt aber dezidiert das Ziel, die Funktion der Prozessgestaltung zu bestimmen.19 Das betrifft sowohl die Darstellung der Prozessparteien als auch die Tatsache, dass der Prozess überhaupt formal durchgestaltet wurde.20NikodemusevangeliumGesta Pilati Aspekte wie die Vorlagengebundenheit, die etwa bei von Dobschütz nur andeutungsweise zur Sprache kamen, werden von Schärtl explizit formuliert: „Für den Verfasser liegt die weitestreichende Beschränkung darin, dass seine Darstellung dem beim Leser bekannten Prozessverfahren mehr oder weniger folgen muss und dies unter der Bedingung, dass die ebenfalls bekannten ,Fakten‘ aus den kanonischen Evangelien enthalten sein müssen. Ein dritter wesentlicher Punkt, der die Darstellung dabei nachhaltig beeinflusst, ist die vom Verfasser vorgesehene Aussage, also seine Intention.“21 Historisch ,inkorrekte‘ Details führt Schärtl dementsprechend auf die Intention des Verfassers zurück, wenn sie auch Unkenntnis seinerseits keineswegs ausschließen will.22
Zwar wäre aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu fragen, ob die von Schärtl skizzierten Rahmenbedingungen des Erzählens tatsächlich notwendige Reaktionen herausgefordert haben und inwieweit sicher auf eine Intention des Verfassers zu schließen ist, dennoch ist ihre Berücksichtigung der verschiedensten Aspekte weiterführend. Unbeachtet lässt Schärtl dagegen mögliche Motivtraditionen23 oder die Orientierung an vorgeprägten Erzählmustern.24NikodemusevangeliumRezension Griechisch B
Grundsätzlichere Aspekte der ,Historizität‘ des im Nikodemusevangelium dargestellten Geschehens sind bisher nicht erörtert worden. Ansatzpunkte dafür könnte neben dem Komplex ,Literatur und Recht‘ die theologische Forschung zu den kanonischen Evangelien bieten. Ausgehend von Jörg Freys (2009) Differenzierung zwischen ,Historizität‘ und ,Geschichtsbezug‘25 lässt sich festhalten, dass bei der Prozessdarstellung im Nikodemusevangelium vor allem ein Geschichtsbezug zu konstatieren ist (ohne dass – wie bei Frey impliziert – dieser Bezug einen heilsgeschichtlichen Charakter hat). Um zu ergründen, wie der Eindruck eines plausiblen Prozessgeschehens erzeugt wird und welche Implikationen die einzelnen Elemente haben, ist jedoch historisch-kritische Forschung nötig. Als Ergebnis der bisherigen Forschung zum Nikodemusevangelium hat sich – gleichsam paradigmatisch für das Verhältnis von ,Literatur und Recht‘ in Texten, die etwas Vergangenes schildern – als grundlegende Frage ergeben, ob die aktualisierenden Züge primär dazu dienen, das vergangene Geschehen plausibel zu machen, oder ob eine Transposition des Geschehens in die Entstehungszeit des Textes vorgenommen ist, bei der der Gegenwartsbezug konstitutiv für bestimmte Sinndimensionen ist.