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3.2.2 geriht

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Symptomatisch für den kreativen Umgang mit den Motiven aus dem Nikodemusevangelium ist es, dass für die Prozesshandlung in Diu urstende nur ein Drittel des Vorlagentextes verarbeitet ist.1 Die inhaltlichen Unterschiede werden gleich schon zu Beginn manifest, da – den kanonischen Evangelien folgend2 – vom Verrat des Judas und der Gefangennahme Jesu erzählt wird (vv. 129–217). Nach der nächtlichen Verspottung Jesu (vv. 237–258) bitten ,die Juden‘, noch bevor der Tag angebrochen ist, Pilatus, dass er früh am nächsten Morgen Gericht halten möge (vv. 259–270; daz er fruo bereit wære, / zuo der schrangen quæme / und ir rede vernæme, vv. 264–266). Pilatus entspricht dieser Bitte (vv. 271–275), und ,die Juden‘ führen Jesus gefangen vor (vv. 276–278). Das Wunder der sich senkenden Fahnen (vv. 279–305; van, v. 300), d.h. schefte, an denen zeichen hängen (vv. 280f.), interpretieren sie als Zauberei, mit der Jesus das Verfahren in die Länge ziehen wolle (ir gerihte lengen, v. 311), um sein Leben zu retten (vv. 306–312). Sie drohen Pilatus mit dem Kaiser, wenn Jesus, der behaupte, König zu sein, keine Strafe erleide (vv. 313–318; ob er genist,3 v. 315). Pilatus schließt aus der starchen rüege,4 dass Jesus schuldig sein müsse, lässt ihn geißelnStrafeGeißelung und will ihn dann freilassen (vv. 319–329). Die ,Verfluchten‘ fordern jedoch die Todesstrafe (vv. 330f.). Daraufhin ziehen sich einige Juden und Heiden vom Gericht zurück (vv. 332–335; ir begunden sich scheiden / sumelîche von der phlihte, vv. 334f.).5 Ein Mann aber erhebt das Wort und macht – zugunsten von Jesus – eine Aussage (nû stuont dâ vor gerihte / ein man, der offenlîche6 sprach, vv. 336f.).

Wie in der Forschung schon früh erkannt wurde, ist gerade diese Eingangssequenz mit Termini und inhaltlichen Elementen aufgeladen, die ein Verfahren nach ,deutschem‘ RechtRechtsordnungen‚deutsches‘ Recht evozieren.7 Ein entsprechendes Setting wird zuallererst durch den Ausdruck zuo der schrangen (vv. 265; 272) aufgerufen, womit der Ort des Gerichts bezeichnet ist, der hier als ein durch Bänke abgeschrankter RaumGerichtsorteAbschrankung (unter freiem Himmel) vorgestellt ist.8 Zugleich mit dem Gerichtsort wird die Gerichtszeit benannt, denn aus den tadelnden Worten des Erzählers, dass ,die Juden‘ die richtige Zeit nicht hätten abwarten können und Pilatus schon vor Tagesanbruch aufgesucht hätten (vv. 259–261), ist zu schließen, dass Tagesanbruch die richtige Zeit gewesen wäre.9 Die Zeitangabe ist eine Präzisierung gegenüber den kanonischen Evangelien (nach denen der Prozess am frühen Morgen beginnt), die im Einklang mit Gepflogenheiten des deutschen Rechts steht.10 Dass Pilatus gleich sechs baniere (v. 275) vor sich hertragen lässt, dürfte zwar keine direkte Entsprechung in der Erfahrungswelt des Verfassers und der zeitgenössischen Rezipienten gehabt haben,11 immerhin wird das Banner als Herrschaftszeichen und auch als Zeichen der Gerichtsgewalt nicht unplausibel gewirkt haben.12

Versucht man, ausgehend von den konkreten Benennungen von Ort und Zeit des Gerichts, die damit im 13. Jahrhundert wahrscheinlich verbundenen Assoziationen zu rekonstruieren, werden weitere Bezüge zum ,deutschen‘ Rechtswesen deutlich. Die Bezeichnung des Gerichtsorts impliziert nach modernen Erkenntnissen, dass die Verhandlung im öffentlichen Raum unter freiem Himmel stattfindet, dass auf den Bänken UrteilerUrteilUrteiler, Urteilergremium sitzen und außerhalb des abgeschrankten Bezirks weitere Beteiligte stehenUmstand.13RechtsordnungenStadtrecht Dass diese Vorstellung tatsächlich für Diu urstende relevant ist, belegt die Formulierung, dass der Mann, der das Wort ergriffen habe, zu Gericht ,gestanden‘ habe (v. 336; vgl. auch v. 496). Eine aktive Beteiligung der Gerichtsgemeinde wird auch durch das Wort phlihte (v. 335) signalisiert, das hier offenbar die ,Dingpflicht‘Dingpflicht bezeichnet: Juden und Heiden, die zu dem von Pilatus – so ist anzunehmen – gebotenen Ding erschienen sind, wollen nicht bei dem von den Anklägern geforderten Todesurteil gegen Jesus mitwirken.

Der juristisch präzise Sprachgebrauch14 lässt es möglich erscheinen, dass mit der starchen rüege (v. 319), die Pilatus dazu veranlasst, Jesu Schuld anzunehmen, die Art der Anklage spezifiziert ist: Kennzeichnend für das RügeverfahrenVerfahrenRügeverfahren ist, dass nicht von einem unmittelbar Geschädigten Klage erhoben wird, sondern dass Vertreter einer Gemeinschaft aktiv werden, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.15 Sie würde durch einen (politischen) Königsanspruch Jesu unterminiert; auch der zuerst vorgebrachte Vorwurf, dass Jesus reht und ê verdrehe (v. 269), hatte auf die Störung der öffentlichen Ordnung abgezielt, dort allerdings eingeschränkt auf die jüdische Gesetzesordnung (v. 268).

Die Handlungsweisen, die den Figuren in Diu urstende zugeordnet sind, gewinnen vor dem Hintergrund des ,deutschen‘ Rechts ebenfalls weitere Sinndimensionen. Dass Pilatus die GeißelungStrafeGeißelung als alternative Bestrafung zur KreuzigungStrafeKreuzigung einsetzt, ist zunächst einmal eine Anlehnung an die Evangelien von Johannes und Lukas (Io 19,1Neues TestamentJohannesevangelium Io19,1 und 4–6Neues TestamentJohannesevangelium Io4–6; Lc 23,22f.Neues TestamentLukasevangelium Lc23,22f.).16 Aber wie hat man es einzuschätzen, dass Pilatus Jesus aufgrund der Schwere der Anklage und des feindseligen Verhaltens ,der Juden‘ (vv. 319–324) für so schuldig hält, dass er den Angeklagten geißeln lässt, ohne ihn überhaupt zu befragen? Nach ,deutschem‘ Recht ist das nicht unbedingt ein Zeichen für ungerechtes Richten, denn die Art der Vorführung Jesu weist Parallelen zu sogenannten HandhaftverfahrenVerfahrenHandhaftverfahren auf: Dass ein ,gebotenes Ding‘ einberufen werden muss, deutet – ebenso wie die Fesselung des AngeklagtenFesselung des Angeklagten (vv. 182; 267f.; 278) – darauf hin, dass er auf frischer Tat ertappt worden ist, seine Schuld mithin feststeht.17Pfaffe KonradRolandsliedHermann von SachsenheimDie Mörin1177–1379Vorsprecher In diesen Fällen war es den Angeklagten verwehrt, sich durch einen Unschuldsbeweis von den Vorwürfen zu reinigen.18Eike von RepgowSachsenspiegelEidEideshelfer Häufig ist das Verfahren für Diebstahl belegt, ein Delikt, das in der Regel mit ErhängenStrafeErhängen bestraft wurde. Die (nach der GeißelungStrafeGeißelung) vorgebrachte Forderung, man solle Jesus hâhen (v. 331),19 fügt sich in den Kontext des Umgangs mit einem offenkundigen Verbrecher ein, denn das Wort begegnet zwar in der Wendung ,ans KreuzStrafeKreuzigung hängen‘, bedeutet aber in Bezug auf Hinrichtungen in erster Linie ,einen Menschen durch Erhängen töten‘.20 Vor dieser Folie könnte eine Befragung Jesu als unnötig erschienen sein.

Alle diese tentativ aufgezeigten Bezüge zum ,deutschen‘ Recht sind punktuell: Es wird weder ein ordentliches Rüge- noch ein Handhaftverfahren21 geschildert, noch lässt sich das Verhalten des Pilatus mit solchen Bezügen allein klären, denn schließlich wird der Prozess fortgesetzt,22StrafeGeißelungUrteilUrteilsschelte und die Schuldfrage wird darin noch einmal von Grund auf diskutiert. In einer Erzählwelt ist aber durchaus mit der Darstellung eines hybriden Verfahrens zu rechnen. Wie zu zeigen sein wird, sind auch in der Erzählung vom weiteren Prozessverlauf verfahrensrechtliche Elemente punktuell sinnstiftend funktionalisiert, ohne dass das Verfahren insgesamt einen modellhaft deutschrechtlichen Charakter hätte.23Richterselbsturteilender Richter

In der Narration wird der folgende äußere Ablauf des Verfahrens entworfen:24 Nachdem die Aussage des heidnischen Mannes (vv. 338–367) von ,den Juden‘ hinterfragt (vv. 368–370) und nach der direkten Antwort des Mannes darauf (vv. 371–388) schließlich als irrelevant erklärt worden ist (vv. 389–391), bringen sie eine ganze Serie von Vorwürfen und Anklagepunkten vor – von der unehelichen Geburt Jesu über die Schuld am Kindermord bis hin zur Zauberei (vv. 392–424). Daraufhin ergreift Nikodemus das Wort (vv. 425–427), der vom Erzähler hier unter Berufung auf die schrift vorgestellt wird (vv. 428–448).25 Nikodemus will den Vorwurf der unehelichen Geburt Jesu widerlegen und beruft sich dazu auf zwölf rechtschaffene Männer (vv. 449–476). ,Die Juden‘ reagieren mit DrohungenZeugenGefahr für Zeugen gegen Nikodemus (vv. 477–492). Das veranlasst Pilatus zu einer Grundsatzrede über das angemessene Verhalten vor Gericht, in der er auch die bisherigen Anklagepunkte für nicht ausreichend erklärt (vv. 493–519). ,Die Juden‘ insistieren darauf, dass Jesus ein ,Übeltäter‘ sei, und fügen als weiteren Anklagepunkt hinzu, dass Jesus die Sabbatruhe und die ê insgesamt nicht achte (vv. 520–528). Als nächstes tritt ein Jude vor, der Pilatus darum bittet, Ruhe herzustellen und ihm das Rederecht zu erteilen (vv. 529–532).26Pfaffe KonradRolandsliedChanson de Roland Pilatus kommt der Bitte nach, wobei er einen schergenBüttel, Fronbote, Gerichtsbote27 für Ruhe sorgen lässt (vv. 533–546). Auf die Aussage des Juden, der von seiner Heilung durch Jesus berichtet (vv. 547–569), folgen ohne weitere verfahrenstechnische Zwischenspiele Aussagen weiterer Geheilter, abschließend die eines ehemals Blinden (vv. 570–610). ,Die Juden‘ erfragen von ihm direkt die näheren Umstände seiner Heilung, die an einem Samstag stattfand (vv. 611–619), und wiederholen den Vorwurf des Bruches der Sabbatruhe (vv. 620–628). Daran anknüpfend erheben sie allgemeinere Anklagen der Missachtung der ê und der Irreführung sogar gelehrter Leute wie Nikodemus und fordern diesen auf, seine zwölf Gewährsleute zu präsentieren (vv. 629–649). Nikodemus führt sie namentlichZeugennamentliche Nennung ein (vv. 650–663). Von Pilatus befragt (vv. 664f.) bestätigen und ergänzen die zwölf die Aussage des Nikodemus (vv. 666–701). ,Die Juden‘ versuchen in einer direkten Konfrontation die Gerichtsfähigkeit der zwölf zu bestreiten (vv. 702–713), diese können jedoch den vorgebrachten Proselyten-Vorwurf entkräften (vv. 714–723). ,Die Juden‘ dringen daraufhin zornig in den abgeschrankten Bereich ein (vv. 724–742). Angesichts dieses Tumults überlässt Pilatus ihnen Jesus (vv. 743–749).

Abgesehen von der Einführung des Nikodemus durch den Erzähler (vv. 428–448), seiner Beurteilung der wütenden Menge (vv. 729–735) und seiner Quellenangabe für die Entscheidung des Pilatus (vv. 743–747) ist die Erzählung im Wesentlichen von wörtlichen Reden geprägt, die im Wechsel von Gegnern und Unterstützern Jesu vorgebracht werden.28 Dieser Textgestaltung mag die Struktur von „Klage und Klageabwehr“29 zugrunde liegen, die als kennzeichnend für ein ,deutsches‘ Gerichtsverfahren gelten kann, doch wird sie allenfalls anzitiert. Denn typisch für ein solches Gerichtsverfahren wäre eine Wechselrede zwischen Parteien, die dann jeweils mit einem Zwischenurteil abgeschlossen würde.30RechtsordnungenLandrechtRechtsordnungenStadtrecht Als Prozesspartei sind in Diu urstende aber nur die Ankläger klar identifizierbar. Die Personen, die für Jesus eintreten, scheinen Zeugenstatus zu haben, ja in der Abfolge von pro und contra ist sogar der Richter Pilatus zu ihnen zu zählen. Der Angeklagte bleibt das ganze Verfahren über stumm. Man hat diese signifikante Änderung gegenüber den Vorlagen mit einer Anpassung an das ,deutsche‘ Recht erklären wollen, nach dem sich die Parteien durch VorsprecherVorsprecher vertreten lassen konnten,31 und hat Nikodemus eine Vorsprecherfunktion zuerkannt.32 Zwar gerät Nikodemus selbst in eine Rechtfertigungsposition,33 doch gibt es keine Anzeichen dafür, dass er von Jesus autorisiert spricht. Wahrscheinlicher als die Anpassung an die Rechtspraxis ist daher, dass Jesus in Anlehnung an Is 53,7Altes TestamentIs53,7 schweigend dargestellt wird, zumal die alttestamentarische Prophezeiung vom Lamm, das schweigend zur Schlachtbank geführt wird, vom heidnischen Zeugen gleich zu Beginn des Prozesses referiert wird (vv. 374–388).34Kaiserchronik

Selbst wenn man die Unterstützer und Gegner Jesu als Äquivalente der Prozessparteien betrachtet, würde ihre direkte Auseinandersetzung im Kontrast zu dem streng formalisierten Ablauf eines deutschrechtlichen Prozesses stehen, in dem die Parteien nur über den Richter miteinander in Kontakt treten.35 Gerade das Beispiel der weithin fehlenden Verhandlungsführung durch den Richter zeigt aber, dass der Vergleich mit einem idealen deutschrechtlichen Prozess nur Mittel zum Zweck sein kann, um die Funktion verfahrensrechtlicher Motive näher zu bestimmen. Dass in einem narrativen Text ein Prozess von den formalisierten Eröffnungsfragen und dem Friedensgebot36 bis hin zur Urteilsverkündung in allen Schritten entworfen würde, ist ohnehin nicht zu erwarten. Wenn aber wie bei Diu urstende zu Beginn ein bestimmtes Setting aufgerufen wird, stellt sich die Frage, ob Abweichungen von den dann zu erwartenden Abläufen37 erzähltechnische Gründe haben oder ob etwa die Regelwidrigkeit eines Verfahrens herausgestellt werden soll. In Diu urstende ist das eindeutig nicht der Fall, denn an einzelnen Stellen, an denen von einer Verhandlungsführung durch Pilatus erzählt wird, erweist sie sich als korrekt bzw. mit Rechtsquellen übereinstimmend, sodass man für die direkte Konfrontation der ,Parteien‘ eher dramaturgische Gründe annehmen kann.

Wenn Pilatus seinen schergenBüttel, Fronbote, Gerichtsbote Ruhe gebieten lässt und dem aussagewilligen Juden das Wort erteilt (vv. 529–547), wird punktuell eine deutschrechtliche Prozesspraxis fassbar. Die Ausgestaltung der Szene verleiht der Handlung nicht nur ein entsprechendes Kolorit,38 sondern charakterisiert den Zeugen als jemanden, der die Autorität des Gerichts anerkennt und mit zuht39 handelt, der aber von Pilatus auch den von ihm vorher propagierten GerichtsfriedenGerichtsfrieden einfordert. Das Verhalten des Zeugen steht in krassem Gegensatz zum Bruch des Gerichtsfriedens durch die wütende Menge am Ende des Prozesses, ein Verhalten, das vom Erzähler auch entsprechend bewertet wird (si vergâzen êre und zuht, v. 728). Systematisch betrachtet bildet die Einstellung des jüdischen Zeugen zwar auch eine Kontrastfolie für den Auftritt des heidnischen Zeugen zu Beginn des Prozesses, der einfach das Wort ergreift (vv. 336f.), doch wird an jener Textstelle dessen beherztes Eintreten für Jesus von der Haltung derjenigen abgesetzt, die sich der phlihte (v. 335) entziehen. Es sind – abhängig vom Kontext – also jeweils nur bestimmte Assoziationen zu aktivieren. Dass Zeugen, die aus eigenem Antrieb aussagen, vielleicht nicht unbedingt vertrauenswürdig sind,40Eike von RepgowSachsenspiegel soll in Bezug auf den aussagewilligen Juden wohl nicht nahegelegt werden.

Der Unterschied zwischen einem deutschrechtlichen Bezugsrahmen und der Schilderung einer kompletten Gerichtsverhandlung nach deutschem Recht lässt sich gut anhand der Stelle verdeutlichen, an der das Verfahren ausdrücklich thematisiert wird: Wenn ,die Juden‘ den zwölf Gewährsleuten des Nikodemus den ZeugenstatusZeugenZeugnisfähigkeit aberkennen wollen, weil sie Proselyten seien und deshalb ihr Landrecht bei diesem Prozess nichts gelte (vv. 702–713), dann wird damit das PersonalitätsprinzipRechtsordnungenLandrechtPersonalitätsprinzip anzitiert, außerdem die Vorstellung, dass nicht alle gleichermaßen gerichtsfähig sind (v. 713). Diese Prinzipien werden von den zwölfen grundsätzlich akzeptiert, denn sie widerlegen den Vorwurf inhaltlich und erheben keine verfahrenstechnischen Einwände. Zugleich ist es aber an dieser Stelle offenbar vollkommen irrelevant, dass Pilatus einem Gericht vorsteht, bei dem Juden gleichermaßen wie Heiden dingpflichtigDingpflicht sind und vor dem zuvor bereits ein Heide ausgesagt hat. Auch das Problem der Zeugnisfähigkeit war vorher nicht thematisiert worden, obwohl die Aussage der weiblichen Zeugin (vv. 570–582) dazu eine Steilvorlage geboten hätte. Wichtig war dem Erzähler hier wohl allein die effektvoll am Ende des Prozesses platzierte juristische Niederlage, die die Ankläger vor Zorn rasen lässt.

Obwohl in Diu urstende weder ein vollständiges noch ein in allen Punkten kohärentes deutschrechtliches Verfahren dargestellt ist, so verweisen doch alle Stellen, an denen das Verfahren überhaupt angesprochen wird, auf das ,deutsche‘ Recht, sodass auch das Verhalten des Richters vor dieser Folie zu interpretieren ist. Als deutschrechtliches Element kann gelten, dass Pilatus in seiner Rede den GerichtsfriedenGerichtsfrieden propagiert.41 Vom musterhaften Ablauf eines Prozesses her gesehen würde der Richter den Gerichtsfrieden nach der Hegung des Gerichts gebieten und dabei das angemessene Verhalten vor Gericht thematisieren;42 in Diu urstende sind jedoch die grundsätzlichen Ausführungen des Pilatus in die Verteidigung des Nikodemus eingebunden und damit funktional im Prozessablauf platziert, wodurch ihnen eine besondere Aufmerksamkeit zukommt. Angesichts der Drohungen, denen Nikodemus ausgesetzt ist, fordert Pilatus eine Konzentration auf die Rechtsfindung ein (vv. 496f.). Niemand solle sich zuchtlos verhalten oder Drohungen aussprechen (vv. 496–500). Nach den RechtsbüchernRechtsbücher wurden Ordnungsverstöße vor Gericht mit empfindlichen Strafen geahndet,43GerichtsfriedenRechtsordnungenStadtrecht sodass die subjektive Einschätzung des Pilatus, dass ,die Juden‘ mit ihren Todesdrohungen gegen Nikodemus ein grôziu missetât (v. 495) begehen, vor diesem Hintergrund umso gerechtfertigter erscheint. Pilatus wendet sich auch deshalb gegen ,die Juden‘, weil noch erst abzuwarten bleibt, ob Nikodemus die Zeugen, von denen er gesprochen hat, nicht tatsächlich beibringen kann (vv. 501–505), d.h., Pilatus beharrt indirekt auf einem ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens. Das suchen ,die Juden‘ seiner Auffassung nach mit übeler urteil zu verhindern (vv. 506–509).

Indem die Äußerungen ,der Juden‘ als urteil bezeichnet werden, wird eine personelle Trennung von Urteilsfindung und -verkündung zumindest angedeutet,44 wenn auch ,die Juden‘ als Ankläger nicht gleichzeitig UrteilerUrteilUrteiler, Urteilergremium im formellen Sinne sein können. Im Folgenden scheint Pilatus jedoch als selbsturteilender RichterRichterselbsturteilender Richter zu sprechen – als solcher hatte er bei der GeißelungStrafeGeißelung auch schon agiert –, wenn er unter Berufung auf die Grundsätze gerechten Richtens45 ankündigt, Jesus wegen guter Werke nicht verurteilen zu wollen (vv. 510–519). Dabei beruft er sich zwar auf die Aussage der Menge (vv. 518f.), aber er bezieht sich auf die ihm vermittelten Fakten (dass Jesus gute Werke getan habe) und nicht auf ein Urteil der Menge. Allerdings sind die Aussagen des Pilatus nicht inkompatibel mit den Aufgaben eines Richters in einem deutschrechtlichen Verfahren, denn rechtskräftig wurde ein Urteil erst, wenn es vom Richter ausgegeben wurdeUrteilAusgabe und die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, gehörte zu dem an Richter gestellten Anforderungsprofil.46 Dass Pilatus den Gerichtsfrieden im Folgenden mithilfe eines Schergen durchsetzt, verstärkt den Eindruck eines nach Maßgabe des ,deutschen‘ Rechts handelnden Richters. Die Tatsache, dass er an dieser Stelle erst auf die Aufforderung des Juden hin, der aussagen möchte, aktiv wird, tritt gegenüber dem Erfolg der Handlung (v. 544), die die Autorität des Gerichts offenbar werden lässt, in den Hintergrund.

Die Darstellung des Pilatus als Richter, der das Gericht jedenfalls punktuell zu einer funktionierenden Institution der Rechtsfindung macht und nach eigenem Ermessen Jesus nicht mit dem Tod bestraft hätte, steht in einem Spannungsverhältnis zu dem durch die Autorität der Quellen vorgegebenen Ergebnis des Prozesses. Dessen Ende wird in Diu urstende dadurch herbeigeführt, dass die wütenden Ankläger, die der Erzähler diffamierend mit zornigen Hunden (im Kampf mit Schweinen) vergleicht,47 in die Schranken eindringen (vv. 724–742), also den GerichtsfriedenGerichtsfrieden brechen.48RichterSitzen (während der Verhandlung) Dass Pilatus daraufhin nachgibt, ist angesichts seines bisher geschilderten Verhaltens in hohem Maße erklärungsbedürftig.49 Der Erzähler sichert sich durch eine (fiktive) Quellenberufung auf daz buoch ab (v. 743) und erläutert dann, dass Pilatus AngstRichterFurcht um sein Leben gehabt habe (vv. 744–747). Pilatus erscheint auf diese Weise als schwacher Richter, dem die fortitudo fehlt, die zur Verteidigung des GerichtsfriedensGerichtsfrieden nötig ist,50 und er verstößt gegen die RichterethikRichterRichtertugenden, die es verbietet, sich von Angst leiten zu lassen. Verfahrenstechnisch kommt der Prozess zu keinem ordentlichen Abschluss, denn Pilatus überlässt zwar Jesus ,den Juden‘, damit sie nach ihrem Gutdünken mit ihm umgehen (vv. 748f.), aber es wird kein formelles Urteil gefällt.51 Das könnte durch eine Anlehnung an die kanonischen Evangelien zu erklären sein,52StrafeKreuzigungStrafeGeißelung hat aber auch Konsequenzen für das Bild von der Gerichtsbarkeit, das in Diu urstende entsteht: Da sich das Gericht am Ende in Auflösung befindet – der Gerichtsfrieden ist gebrochen, der Richter versagt angesichts dieser Situation –, fällt kein Schatten auf das vorher durchgeführte Gerichtsverfahren, das bei ordnungsgemäßer Fortsetzung zu einem Freispruch geführt hätte. Weil ohnehin nicht mehr von einem ordnungsgemäßen Verfahren gesprochen werden kann, sind auch keine konkretisierenden Details geschildert, die eine Deutung unter deutschrechtlichen Vorzeichen unmöglich machten. Vielmehr wird mit dem Eindringen der Ankläger in die Schranken ein deutschrechtlicher Bezugsrahmen bis zum Schluss präsent gehalten.

Jesus und das Landrecht

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