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2 Das lateinische NikodemusevangeliumNikodemusevangelium: Zu ,Literatur und Recht‘ im Prätext 2.1 Charakteristika des Werks
ОглавлениеDas heute in der Regel als Nikodemusevangelium oder Evangelium NicodemiEvangelium NicodemiNikodemusevangelium1 bezeichnete Werk ist in so vielen Fassungen überliefert, dass der Titel als ein Sammelbegriff zu gelten hat.2NikodemusevangeliumGesta Pilati Konkurrierende Titel (wie etwa Acta PilatiNikodemusevangeliumGesta Pilati), die sich oft nur auf einen Teil des Werks beziehen, verweisen darauf, dass es aus unterschiedlichen Teilen zusammengewachsen ist.3 Die komplizierte Textgeschichte ist für die Interpretation der deutschen Versdichtungen, die lateinische Fassungen des Nikodemusevangeliums als Vorlage benutzen, insofern von Bedeutung, als trotz der narrativen Verknüpfung der Teile4 und eines einheitlich ,dramatischen‘ Charakters,5NikodemusevangeliumDescensus Christi ad Inferos Erzählblöcke mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen erkennbar geblieben sind, mit denen die Verfasser der deutschen Texte umzugehen hatten. Daher sei das Nikodemusevangelium hier in seiner Entstehungsgeschichte skizziert und in seinen einzelnen Teilen kurz charakterisiert. Als Grundlage für die Textarbeit dient – auch im Hinblick auf ihre Relevanz für die deutschen Texte – die im Mittelalter am weitesten verbreitete Rezension Lateinisch ANikodemusevangeliumRezension Lateinisch A.6
Der einheitlichen Forschungsmeinung folgend lässt sich das Nikodemusevangelium genetisch in zwei Teile gliedern: einen Abschnitt über Jesu Passion, seine Auferstehung und Himmelfahrt sowie die Geschichte Josephs von Arimathia (Gesta PilatiNikodemusevangeliumGesta Pilati, cap. I–XVI) und den Bericht von Christi Höllenfahrt (Descensus Christi ad InferosNikodemusevangeliumDescensus Christi ad Inferos, cap. XVII–XXVII).7 Nach den Erkenntnissen von Gounelle / Izydorczyk sind für die beiden Teile unterschiedliche Entstehungszeiten anzunehmen: Der erste sei (möglicherweise auf älteren Traditionen aufbauend) innerhalb der ersten drei Viertel des 4. Jahrhunderts auf Griechisch, der zweite, so wie er in der Version A erscheine, nach der Mitte des 4. Jahrhunderts, vielleicht im 6. Jahrhundert, verfasst worden, und zwar zunächst auf Lateinisch.8 Es gibt allerdings gute Gründe9 für die Hypothese, dass auch die Geschichte Josephs von Arimathia im Rahmen einer Redaktion des Textes der Prozesshandlung erst nachträglich hinzugefügt worden ist.10NikodemusevangeliumGesta Pilati Monika Schärtl nimmt an, dass die ältere Textschicht der Gesta PilatiNikodemusevangeliumGesta Pilati in den sechziger Jahren des 4. Jahrhunderts entstanden und vor allem an ein heidnisches (aber auch ein christliches) Publikum adressiert sei, während die jüngere Schicht, die zeitlich nicht vor dem Ende des 4. Jahrhunderts anzusetzen sei, sich an ein jüdisches Publikum wende.11 Unumstritten ist, dass im Text nach der Grablegung Jesu ein thematischer Einschnitt erfolgt.12
Der erste Teil des ersten Abschnitts des Nikodemusevangeliums (cap. I–XI [11,3,1 (G/I)])13 ist durch die Prozesshandlung strukturiert. Nicht umsonst wird in einem ,Vorwort‘, das einigen Rezensionen vorangestellt ist,14NikodemusevangeliumRezension Griechisch ANikodemusevangeliumWiener PalimpsestWienÖNBCod. 563 (Wiener Palimpsest)NikodemusevangeliumRezension Lateinisch B behauptet, dass der folgende Text unter der Herrschaft des Kaisers Theodosius am Gerichtsort, dem Prätorium des Pontius PilatusGerichtsortePrätorium, unter den staatlichen Akten gefunden worden sei, also als offizielle Dokumentation des Prozesses zu gelten habe.15SchriftlichkeitProzessaufzeichnungenNikodemusevangeliumRezension Griechisch ANikodemusevangeliumRezension Lateinisch ANikodemusevangeliumRezension Griechisch BNikodemusevangeliumRezension Lateinisch B Handlungsträger in diesem Teil sind vor allem Pilatus und ,die Juden‘. Während Pilatus in positivem Licht erscheint, ist das Bild ,der Juden‘ ambivalent: Ihre Anführer werden sehr negativ gekennzeichnet; auch fordert die Volksmenge, nicht Jesus, sondern Barrabas freizulassen. Andererseits weint ein Teil der jüdischen Menge angesichts der von den Anklägern vorgebrachten Forderung, dass Jesus gekreuzigt werden solle; außerdem treten Juden als Zeugen auf, die sich für Jesus verwenden. In diesen Zeugenaussagen gewinnt das Wirken Jesu Kontur; seine göttliche Macht wird darüber hinaus durch das einleitend (cap. I 5f.) geschilderte Wunder der sich vor ihm verneigenden ,Zeichen‘ des Pilatus deutlich gemacht. Ob mit diesen Zeichen die in der Spätantike als Feldzeichen üblichen reich dekorierten Lanzen oder auch Standarten, die jeweils das Porträt des Kaisers tragen konnten, gemeint sind, ist nicht erkennbar. Jedenfalls erweisen die römischen Hoheitszeichen in dieser als Standartenepisode oder Fahnenwunder bezeichneten Szene der göttlichen Macht Jesu ihre Reverenz. Der aktive Anteil Jesu an der Prozesshandlung ist hingegen (wie in den kanonischen Evangelien) gering.16NikodemusevangeliumRezension Griechisch ANikodemusevangeliumRezension Lateinisch A
Die auf die Prozesshandlung folgenden Kapitel (cap. XII [11,3,2 (G/I)]–XVI) können als eine sich steigernde Reihe von Bezeugungen dafür verstanden werden, was nach dem Tod Jesu geschehen ist.17 Die anfänglichen Versuche ,der Juden‘, das ,Verschwinden‘ Jesu aus dem Grab zu vertuschen, münden in aktive Bemühungen um Wahrheitsfindung durch Zeugenbefragung. Ihren eigenen Prinzipien folgend müssen die Hohepriester schließlich das Faktum der Auferstehung anerkennen. Mit Joseph von Arimathia, der wegen seines Einsatzes für Jesus von ,den Juden‘ gefangen gesetzt, aber von Jesus befreit wird und das bezeugt, ist die Vorbildfigur eines gläubigen Judenchristen gegeben.18
Über die Joseph-Figur erfolgt eine Verknüpfung mit dem Descensus-TeilNikodemusevangeliumDescensus Christi ad Inferos des Werks (cap. XVII–XXVII),19 der zugleich als krönender Abschluss der Zeugenaussagen fungiert: Es ist Joseph, der den Hohepriestern von Leucius und Karinus berichtet, die Jesus auferweckt habe. Sie werden herbeigeholt und geben unabhängig voneinander einen identischen schriftlichen BerichtSchriftlichkeitFixierung von Zeugenaussagen vonZeugenschriftliche Fixierung von ZeugenaussagenSchriftlichkeit der Höllenfahrt Jesu. Die darin geschilderten Geschehnisse haben einen klaren Fokus auf das Transzendente;20 auf der diskursiven Ebene gibt es jedoch Bezüge zur vorangehenden innerweltlichen Handlung, indem zum Beispiel Propheten als ‚Zeugen‘ für die Messianität Jesu auftreten. Das Königtum Jesu, das Gegenstand des Prozesses gewesen war, wird performativ vorgeführt, indem er als ‚König der Ehren‘ die Höllenpforte sprengt. Der Descensus-Teil endet damit, dass ,die Juden‘ dem Zeugnis des Leucius und Karinus nichts entgegensetzen können und verstört auseinandergehen; Joseph und Nikodemus erstatten Pilatus über die Geschehnisse Bericht; dieser lässt alles aufzeichnen und im PrätoriumGerichtsortePrätorium deponieren.
Mit dem erneuten Eintreten der Pilatus-Figur in die Handlung ist zugleich eine inhaltliche Klammer zum ersten Teil des Textes hergestellt, während die römische Obrigkeit (abgesehen von der Grabwachen-Episode im zweiten Teil) sonst in den Hintergrund gerückt war. Dass der von Rémi Gounelle und Zbigniew Izydorczyk (1997a) übersetzte Text der Rezension Lateinisch ANikodemusevangeliumRezension Lateinisch A abschließend (cap. XXVIII)21 einen Brief des Pilatus an den Kaiser Claudius enthält, ist symptomatisch dafür, dass sich in der Überlieferung oft Texte des sogenannten ,Pilatus‘-Zyklus anschließen.22 Neben der Epistola Pilati ad ClaudiumEpistola Pilati ad Claudium war eine häufige Ergänzung die Cura sanitatis TiberiiCura sanitatis Tiberii, in der davon berichtet wird, wie der erkrankte römische Kaiser Tiberius Boten nach dem Wunderheiler Jesus ausschickt und schließlich durch seine Verehrung des Bildes der Veronika geheilt wird. Pilatus wird als Verantwortlicher für den Tod Jesu in diesem Text negativ gezeichnet und erfährt eine weltliche Bestrafung. Trotz der Divergenzen zu den Gesta PilatiNikodemusevangeliumGesta Pilati findet sich die Cura mit dem Nikodemusevangelium nicht nur im Verbund überliefert, sondern die beiden Texte erscheinen in den Handschriften teilweise als zu einem verschmolzen23 – ein weiterer Beleg für den oben angesprochenen offenen Charakter des Werks.
Die große Varianz in der Überlieferung ist typisch für apokryphe Schriften.24 Unter ihnen kommt dem Nikodemusevangelium eine besondere Autorität zu.25 Nicht nur aus heutiger Perspektive erscheint der Text eher als Interpretation der kanonischen Evangelien denn als konkurrierender Text;26 es gibt auch aus dem 13. Jahrhundert Belege dafür, dass der Text zur ExegeseExegetik benutzt wurde.27 Außerdem deuten Kürzungen in der Mehrheit der Handschriften der Rezension Lateinisch BNikodemusevangeliumRezension Lateinisch B darauf hin, dass das Nikodemusevangelium als Ergänzung der kanonischen Evangelien verstanden werden konnte: Ein Teil der Verhandlung vor Pilatus (cap. II 3–IV 5) ist dort durch den Satz ersetzt Quid multa? iam omnia nota sunt uobis a sancto euuangelio.28 („Wozu noch Weiteres? Alles ist euch bereits bekannt aus dem heiligen Evangelium.“). Mit auschlaggebend für die Wertschätzung des Textes dürfte die im ,Prolog‘ vorgenommene Verbindung mit der Person des Nikodemus gewesen sein, die der Erzählung Authentizität verlieh. Ab dem 13. Jahrhundert wurde der Text sogar als ,Evangelium‘ bezeichnet, auch wenn diese Klassifikation die Textsorte nicht genau trifft.29 Der ,Kanonisierung‘ des apokryphen Textes steht seine narrative Fortentwicklung gegenüber. Für die reiche literarische Rezeption, vor allem des Descensus-TeilsNikodemusevangeliumDescensus Christi ad Inferos,30 dürfte nicht zuletzt die effektive dramatische Gestaltung von Bedeutung gewesen sein.
In der Rezeption ist also die Doppelnatur des Nikodemusevangeliums aufgenommen worden: der heilsgeschichtliche Wahrheitsanspruch und die Orientierung am kanonischen Vorlagentext auf der einen Seite und die Eigenständigkeit der Narration auf der anderen. Insofern auch Rechtsmotive narrativ verarbeitet sind, scheint es gerechtfertigt, den Text unter der Perspektive von ,Literatur und Recht‘ zu betrachten,31 auch wenn die diffizile Frage, inwieweit das Nikodemusevangelium als literarischer Text gelten kann, an dieser Stelle nicht ausdiskutiert werden kann.32