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2.3 Ausgestaltung der Prozesshandlung

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Hier ist nicht der Ort, um die Bezüge der Prozesshandlung im Nikodemusevangelium zum Rechtswesen der Entstehungszeit im Einzelnen zu diskutieren.1 Im Hinblick auf die Fortsetzung der ,Apokryphisierung‘ in den deutschen Versdichtungen soll aber festgehalten werden, welche rechtlichen Aspekte bei der Apokryphisierung der kanonischen Evangelien im Nikodemusevangelium herausgearbeitet wurden. Ausgangspunkt für die Darstellung des Prozesses gegen Jesus im Nikodemusevangelium war das äußerst diffuse Bild, das die kanonischen Evangelien in ihrer Gesamtheit bieten: In welchem Verhältnis die Verhandlungen vor dem Sanhedrin und vor Pilatus stehen,2 bleibt dort ebenso unklar wie die genauen Anklagepunkte3 und die Art des Prozessendes (mit formellem Urteil oder nicht?).4

Im Nikodemusevangelium liegt die gerichtliche Zuständigkeit klar bei Pilatus (cap. I 1f.), der als selbsturteilender RichterRichterselbsturteilender Richter die Verhandlung führt.5 Auch wenn im ersten Teil des Nikodemusevangeliums keine Verhandlung vor dem Sanhedrin geschildert wird, ist das jüdische RechtRechtsordnungenjüdisches Recht präsentJudenjüdisches RechtRechtsordnungen, und zwar auf der diskursiven Ebene, weil Pilatus das Verfahren mehrfach an die jüdische Gerichtsbarkeit überweisen will (cap. III 1; IV 4) und sich ,die Juden‘ auf ihr Gesetz berufen (cap. II 5; III 1; IV 3; VII [6,3 (G/I)]). Rechtsordnungen werden auch thematisiert, wenn sich Pilatus auf die Sitte bezieht, dass ,den Juden‘ am PassahfestPassah-Amnestie immer ein Gefangener freigegeben werde, und diese Sitte als consuetudo bezeichnet (cap. IX 1 [7,1 (G/I)], Zitat Z. 6).

Die von Pilatus geleitete Verhandlung erfährt eine genaue Lokalisierung: In Anlehnung an das Johannesevangelium (18,28–19,15)Neues TestamentJohannesevangelium Io18,28–19,15 spielt sich die Pilatus-Handlung im PrätoriumGerichtsortePrätorium und davor ab, wobei im Nikodemusevangelium das Tribunal im Prätorium angesiedelt ist.6Neues TestamentMatthäusevangelium Mt27,27Neues TestamentMarkusevangelium Mc15,16Neues TestamentJohannesevangelium Io19,13 Trotzdem ist die Verhandlungsführung dort öffentlich.7 Für alle Phasen der Verhandlung wird in der Erzählung sorgfältig differenziert, ob sie in der Öffentlichkeit stattfindet oder nicht.8 Die ,Menge‘ spielt schon in den kanonischen Evangelien eine wichtige Rolle, insofern eine Tendenz besteht, ,den Juden‘ Schuld zuzuweisen.9 Im Nikodemusevangelium ist die rechtsrelevante Rolle der Menge um einen weiteren Aspekt erweitert, da erzählt wird, dass Pilatus das Weinen eines Teils der Menge bei seinen Entscheidungen berücksichtigt (cap. IV 5).

Mit der Öffentlichkeit der Verhandlung ist das Gebiet des Verfahrensrechts berührt. Auch in seinem zeitlichen Ablauf ist der Prozess als geregeltes Verfahren erkennbar, das auf der Figurenebene als solches thematisiert wird, wenn ,die Juden‘ die Art der Vorladung Jesu durch Pilatus kritisieren (cap. I 2) oder das ZeugnisrechtZeugenZeugnisfähigkeit bestimmter Personengruppen (Proselyten, Frauen) anzweifeln (cap. II 4; VII [6,3 (G/I)]). Dass die Intention des Pilatus, vom Richterstuhl aufzustehen (cap. II 1; IX 3 [8,1 (G/I)]), oder sein Verlassen des Prätoriums (cap. III 1; IV 1) immer auch implizieren, dass das Verfahren dadurch abgebrochen werden könnte, verdeutlicht weiterhin dessen formellen Charakter. Der Ablauf des Verfahrens ist – nach der Klageerhebung durch eine Gruppe von ,Juden‘ (cap. I 1) – zunächst durch die respektvolle Vorladung Jesu durch Pilatus geprägt, die in der Erzählung mit dem Wunder der sich verneigenden ‚Zeichen‘ verbunden wird (cap. I 2–6). Dass mit der Ausgestaltung der Vorladung, die einen noch in Freiheit befindlichen Angeklagten impliziert, deutlich von den kanonischen Evangelien abgewichen wurde,10NikodemusevangeliumRezension Griechisch A zeigt, welch hoher Stellenwert dem prozessualen Verfahren zukommt. Bei der Vorladung sind mit der Art der Durchführung zugleich bestimmte inhaltliche Implikationen verbunden. Allerdings ist die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Prozesses dann auch wieder anderen Erzählzielen untergeordnet, wenn sich etwa Pilatus mit den für Jesus eintretenden Zeugen berät (cap. II 6; IX 1 [7,1 (G/I)]) und so die schlechten Absichten der Jesus feindlich gesonnenen ,Juden‘ diskutiert werden.11

Im Verlauf des Prozesses wird – nach der Darstellung im Text – von Anklägern eine Reihe von Anklagepunkten vorgebracht, die jeweils durch Aussagen anderer widerlegt werden. Auch wenn es sich dabei inhaltlich um Reden zur Anklage und zur Verteidigung handelt, wäre es nicht ganz zutreffend, von Parteienreden zu sprechen, denn die Verteidigung Jesu ist jeweils Zeugen in den Mund gelegt. Sie berichten teilweise von eigenen ErfahrungenZeugenAugenzeugenschaft (cap. VI–VIII [6 (G/I)]). Dass die Ankläger mit der vita anteacta12 argumentieren (cap. II 3), ruft aber auch ein ,Charakterzeugnis‘ der Jesus wohlgesonnenen ,Juden‘ hervor, die als laudatores auftreten (cap. II 4).13 Pilatus will sich den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen durch einen EidEidals Mittel der Wahrheitsfindung bestätigen lassen, den sie aber wegen der Vorschriften in ihrer Religion verweigern (cap. II 5). Durch die EidforderungEidZeugeneid wird jedoch der Augenzeugenschaft noch eine Facette der Wahrheitsfindung hinzugefügt. Auch performativ werden Methoden der Wahrheitsfindung vorgeführt, wenn Pilatus die römischen Träger der ‚Zeichen‘ durch jüdische austauschen lässt, nachdem sich die signa das erste Mal vor Jesus verneigt haben, um beim zweiten Mal sicherzustellen, dass sich wirklich die signa verneigen und nicht deren Träger (cap. I 5f.).

Bei der Wahrheitsfindung scheint es sich also um einen Aspekt zu handeln, der mit der Rechtshandlung verbunden, aber nicht darauf beschränkt ist. Auch auf der diskursiven Ebene des Textes ist die Wahrheitsthematik im Nikodemusevangelium gegenüber den kanonischen Evangelien weiterentwickelt, indem der Frage des Pilatus, was Wahrheit sei (Io 18,38Neues TestamentJohannesevangelium Io18,38), eine Antwort Jesu hinzugefügt ist, dass sie nämlich vom Himmel käme. Auf die erneute Nachfrage des Pilatus, ob es denn auf Erden keine Wahrheit gebe, sagt Jesus: ‘Intende ueritatem dicentis in terra, quomodo iudicantur ab his qui habent potestatem in terris.’ (cap. III 2, Z. 17f.; „ ,Sieh dir an, wie diejenigen, die auf Erden die Wahrheit sagen, von denen gerichtet werden, die auf Erden die Macht haben.‘ “). Durch diese Antwort Jesu wird ein Bezug zwischen der grundsätzlichen Frage nach Wahrheit, ihrer göttlichen Herkunft und der Unangemessenheit der irdischen Rechtspraxis hergestellt.

Die verfahrensrechtlichen Elemente im Nikodemusevangelium sind auf diese Weise eingebunden in Reflexionen über konkurrierende Rechtsordnungen und die Rechtspraxis auf Erden überhaupt. Auf der Ebene übergreifender Rechtsfragen sind thematische Vernetzungen mit Textteilen zu beobachten, die an die Prozesshandlung anschließen. Wie es Personen ergeht, die die Wahrheit sagen, wird im Abschnitt über Joseph von Arimathia (cap. XII–XVI) thematisiert, wobei sich hier zunächst der pessimistische Blick Jesu auf den Umgang mit der Wahrheit auf Erden zu bestätigen scheint, bevor sich die Wahrheit dann doch durchsetzt, und zwar aufgrund eines von jüdischen Autoritäten durchgeführten formalisierten Verfahrens der Wahrheitsfindung. Dass sich die Hohepriester dabei Methoden wie der getrennten Befragung von ZeugenZeugengetrennte Befragung (cap. XVI 3 [16,3,1 (G/I)]) bedienen, spiegelt in gewisser Weise das Prozessgeschehen in den Gesta PilatiNikodemusevangeliumGesta Pilati.14 Auch die Erzählung von der Höllenfahrt ist Teil einer Zeugenaussage (vgl. cap. XVII 3; XXVII 3). Innerhalb dieses Berichts der AugenzeugenZeugenAugenzeugenschaft Leucius und Karinus wird wiederum – wie im Prozess – die Rechtmäßigkeit der Verurteilung Jesu diskutiert, diesmal zwischen ,der Hölle‘ (dem Höllenvolk) und Satan (cap. XXIII 1).15 Wenn man den Blick vom Prozessrecht im engeren Sinne auf den gesamten Themenkomplex ,Recht‘ erweitert – und das erscheint gerade angesichts der Verknüpfung der Ebenen in der Aussage Jesu zur Wahrheit auf Erden gerechtfertigt –, dann wird deutlich, dass Rechtsfragen, eingebettet in den Erzählkontext, das gesamte Nikodemusevangelium durchziehen, wenn sie auch in den einzelnen Textteilen in unterschiedlicher Intensität behandelt werden.

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