Читать книгу Jesus und das Landrecht - Henrike Manuwald - Страница 11
1.4 Text und Kontext: ,Recht‘ als Bezugsfeld 1.4.1 Was ist reht? Probleme der Abgrenzung
ОглавлениеIn der Einleitung zu ihrer Bibliographie zu „Law and Literature in the Middle Ages“ halten John A. Alford und Dennis Seniff (1984) fest, ,Literature‘ sei für ihr Vorhaben einfacher zu definieren gewesen1 als ,Law‘:
The medieval concept of law was extremely broad. It included not only positive law (custom, royal and papal decrees, legislative acts, etc.) but also natural law and even divine law. These various kinds of law were seen not as merely analogous to one another, but rather as a manifestation of a single law in different spheres […].2
Das Problem liegt nicht nur darin, dass ,Law‘ bzw. ,Recht‘ neben dem objektiven und dem subjektiven RechtRechtsordnungenobjektives vs. subjektives Recht auch Fragen der Rechtsbegründung umfasst, wie sie heute in der Rechtsphilosophie diskutiert werden, sondern auch darin, dass ,Recht‘ sich im Mittelalter erst allmählich als eigenständiges System herauskristallisiert. Insofern können Konzepte der globalen Weltordnung bei der Betrachtung von ,Recht‘ im Mittelalter noch weniger ausgeklammert werden als in der Moderne, wobei im Einzelfall erst zu bestimmen wäre, wie das Verhältnis von göttlichem und menschlichem RechtRechtsordnungengöttliches vs. menschliches Recht konzeptionalisiert wird. Außerdem ist angesichts der Vielfältigkeit koexistierender positiver Rechtsordnungen in besonderem Maße zu klären, welche in den zu analysierenden literarischen Texten vorrangig aufgerufen werden.
Für den deutschsprachigen Raum wird für das Hochmittelalter (abgesehen von der ständischen und regionalen Differenzierung) meist eine Untergliederung in kanonischesRechtsordnungenkanonisches Recht, römischesRechtsordnungenrömisches Recht3 und ,deutsches‘ RechtRechtsordnungen‚deutsches‘ Recht4Rechtsordnungengesetztes Recht vs. Gewohnheitsrecht angenommen.5 Die drei Bereiche sind jedoch eng miteinander verwoben, zumal angesichts der zunehmenden Rezeption des römischen Rechts in dieser Zeit.6 Bereits im SachsenspiegelEike von RepgowSachsenspiegel als frühestem deutschen RechtsbuchRechtsbücher7 lassen sich Spuren römischen und kanonischen Rechts finden.8 Auch wenn sich ein literarischer Text in eine ,deutschrechtliche‘ Tradition einschreibt, können Prinzipien des römischen oder kanonischen Rechts als Referenzrahmen nicht von vornherein ausgeschlossen werden.Rechtsordnungen‚deutsches‘ vs. römisch-kanonisches Recht
Ein fundamentaleres Problem bei der Annäherung an ,Recht‘ im Mittelalter ist jedoch die Frage, inwiefern heutige und mittelalterliche Rechtsvorstellungen überhaupt kompatibel sind, aus der gegebenenfalls Konsequenzen für die Untersuchungskategorien zu folgen haben.9 Für das ,deutsche‘ Recht hat die Forschung das Problem sowohl wort-10 als auch begriffsgeschichtlich11 in den Blick genommen. Die Ergebnisse konvergieren insofern, als für das Wort reht festgestellt wurde, dass es erst im Verlauf des Mittelalters zu einer Bezeichnung für das objektive RechtRechtsordnungenobjektives vs. subjektives Recht wurde.12 Damit korrespondiert die Beobachtung in der begriffsgeschichtlichen Forschung, dass das ,deutsche‘ Recht im Mittelalter nicht primär als abstraktes Normensystem, sondern als an Personen in konkreten Situationen gebunden gedacht wird.13Rechtsordnungenobjektives vs. subjektives Recht ,Recht‘ konstituiert sich weiterhin vor allem durch die Rechtsförmigkeit des Verfahrens, weniger durch die Normen, auf die dabei eventuell zurückgegriffen wird.14 Dementsprechend kann mittelhochdeutsch reht auch das Gerichtsverfahren bezeichnen.15
Zu dem breiten Bedeutungsspektrum von reht, das außerdem Aspekte umfasst, die von den subjektiven Rechten und Pflichten einzelner oder bestimmter Personengruppen über die Gerichtsbarkeit bis hin zu der gesamten RechtsordnungRechtsordnungenobjektives vs. subjektives Recht und ihrer BegründungRechtsbegründung reichen,16 gehört auch die Grundbedeutung: ,das, was richtig ist‘.17Bruder Berthold (von Freiburg)RechtssummeRechtsbücher Es ist nicht untypisch für den sich im Mittelhochdeutschen erst allmählich herausbildenden Rechtswortschatz,18 dass die Bedeutungen nicht auf den Spezialbereich des Rechts eingeengt sind. Zwar wird bei der konkreten Verwendung des Wortes immer nur eine Bedeutung aktiviert, doch stehen die Einzelbedeutungen in einem inhaltlichen Zusammenhang,19 sodass Rückschlüsse auf konzeptionelle Vernetzungen möglich sind. Die semantische Offenheit von reht kann so auch als Chance gesehen werden, einen Zugang zu Zusammenordnungen von Aspekten zu finden, die von den heutigen abweichen.20 Ebenso legt das Bedeutungsspektrum von ê in mittelhochdeutscher Zeit Querverbindungen zwischen Konzepten langer Dauer, althergebrachtem Recht, dem mosaischen Gesetz bzw. auch weiteren erlassenen Gesetzen und dem Buch bzw. Gesetz der jüdischen bzw. christlichen ReligionsgemeinschaftRechtsordnungenlex vetus vs. lex nova offen.21 Hier wird auf der Wortebene die eingangs angesprochene Eingebundenheit von ,Recht‘ in die religiöse Ordnung fassbar.
Für eine rezeptionsorientierte Untersuchung, die an intersubjektiven Verstehensvoraussetzungen zur Entstehungszeit der zu analysierenden Texte interessiert ist, ist eine Berücksichtigung von Aspekten der Historischen Semantik unabdingbar.22 Eine semasiologische Betrachtungsweise ist zwar zur Erschließung von Konzepten nicht ausreichend,23 kann aber helfen, bestimmte Themensegmente zu identifizieren. So wurde zur Vorbereitung der thematisch orientierten Lektüren der Kerntexte auch der Verwendung von Schlüsselwörtern wie reht und ê nachgespürt. Zwar war für die Wahl der thematischen Felder des Gerichtsverfahrens (geriht), der Wahrheit (wârheit) und der Rechtsordnung (reht und ê) der Befund in den Kerntexten maßgeblich (d.h. auch deren Motivebene), nicht primär das Wort reht oder der oben skizzierte Rechtsbegriff, aber mit dem Fokus auf das Gerichtsverfahren und dem Einbezug religiöser Aspekte bei der Betrachtung der Rechtsordnung sind gleichzeitig zentrale Aspekte von ,Recht‘ bzw. reht berührt. Als Konsequenz daraus, dass reht nicht allein den juristischen Bereich im engeren Sinne betrifft, wurde die Untersuchung entsprechend offengehalten und für den in den Kerntexten zentralen Aspekt der Zeugenschaft mit wârheit sogar eine nicht spezifisch rechtliche Kategorie gewählt.
Was die Bereiche des kanonischenRechtsordnungenkanonisches Recht, römischenRechtsordnungenrömisches Recht und ,deutschen‘ RechtsRechtsordnungen‚deutsches‘ Recht angeht, so deuten Details des Gerichtsverfahrens in den Kerntexten jeweils auf das ,deutsche‘ Recht als vorrangiges Bezugsfeld hin.24 Sobald man jedoch die konzeptionellen Kontexte dieser verfahrensrechtlichen Details erkundet, werden auch Aspekte des römisch-kanonischen Rechts relevant.25Rechtsordnungen‚deutsches‘ vs. römisch-kanonisches Recht