Читать книгу Jesus und das Landrecht - Henrike Manuwald - Страница 6
1 Jesus und das Landrecht: Perspektiven auf reht in der Bibelepik 1.1 Erzählen von Gott vor Gericht: Zum Ausgangspunkt der Untersuchungen
ОглавлениеDer ‚Prozess‘ gegen Jesus vor Pontius Pilatus gehört zu den berühmtesten Gerichtsverhandlungen der Weltgeschichte. Wie auch immer man die Historizität des Geschehens einschätzen mag,1 die Schilderungen dieser zur KreuzigungStrafeKreuzigung Jesu führenden Verhandlung2VerfahrenStrafprozessVerfahrenKoerzitionsverfahrenNeues TestamentLukasevangelium Lc haben das Christentum maßgeblich mitgeprägt. Die Bekanntheit des Prozesses steht in einem gewissen Gegensatz zu der Tatsache, dass zentrale Punkte des Prozessgeschehens unklar sind: Der juristische Grund für die Verurteilung ist bis heute umstritten;3 der Wortlaut des Urteils ist unbekannt, ja es ist sogar angezweifelt worden, ob überhaupt ein formelles Urteil gefällt wurde.4 Ausgangsbasis für diese Diskussionen sind die kanonischen Evangelien, die ihrerseits Versuche der Sinnstiftung darstellen. So ist etwa im MarkusevangeliumNeues TestamentMarkusevangelium Mc eine ,Historisierung‘ der exegetischen TraditionenExegetik des Alten TestamentsAltes Testament zu erkennen.5Exegetik Die Herstellung eines solchen Geschichtsbezugs ist von ,Historizität‘ im Sinne eines objektivierbaren Quellenwerts abzusetzen.6Neues TestamentJohannesevangelium Io Für die kanonischen Evangelien ist beides allerdings nur schwer zu trennen, auch wenn der Geschichtsbezug zumindest teilweise nach der Erfahrungswirklichkeit7 der Evangelisten und ihres Publikums modelliert ist, denn deren (Rechts-)Welt entsprach noch in Grundzügen den Verhältnissen zur Zeit Jesu.8 Bereits die kanonischen Evangelien bieten jedoch eine Mischung von Referenzen auf die Zeit Jesu und solchen auf die Entstehungszeit der Evangelientexte.9Neues TestamentJohannesevangelium Io
Auf diese komplexe historische Welt der kanonischen Evangelien und die in ihnen fixierten Prozessabläufe referieren alle späteren (apokryphen) Prozesserzählungen, die jeweils in einem intertextuellen Verhältnis zu den kanonischen Evangelien stehen.10 Abgesehen von dem Bezug auf die bereits vorhandene autoritative Texttradition zeigen die späteren Texte Verfahrensweisen der Sinnstiftung, die mit denen in den kanonischen Evangelien parallel gehen: So ist das Prozessgeschehen im spätantiken NikodemusevangeliumNikodemusevangelium weiter komplettiert worden, indem etwa klare Anklagepunkte benannt werden.11 Inwieweit im Nikodemusevangelium auch eine partielle Anpassung an die Rechtskultur der Entstehungszeit des Textes erfolgte, ist nicht abschließend geklärt.12
Unverkennbar ist eine solche Adaptation in einer Gruppe deutscher Versdichtungen des 13. Jahrhunderts, die sich als „Apokryphen zweiten Grades“13Bibelepik bezeichnen lassen, weil sie sich für das Prozessgeschehen und die Ereignisse nach dem Tod Jesu maßgeblich auf das Nikodemusevangelium stützen:14 Diu urstende Konrads von HeimesfurtKonrad von HeimesfurtDiu urstende, Christi Hort Gundackers von JudenburgGundacker von JudenburgChristi Hort und das Evangelium Nicodemi Heinrichs von HeslerHeinrich von HeslerEvangelium Nicodemi.15Nikodemusevangelium Schon früh ist in der Forschung erkannt worden, dass in das Prozessgeschehen ,deutschrechtliche‘16 DetailsRechtsordnungen‚deutsches‘ Recht eingearbeitet sind.17 Sie liegen auf der Ebene von Realien, Handlungsabläufen und Konzeptionalisierungen des Gerichtsverfahrens. In Diu urstende argumentieren sogar Figuren mit zeitgenössischen Rechtsgewohnheiten: Die Aussage von zwölf Männern, die einen ungerechtfertigten Vorwurf der Anklage widerlegen wollen, versuchen die Ankläger mit dem Argument zu entkräften, dass deren lantreht in diesem Prozess nichts gelte (sie also nicht als Zeugen aussagen könnten), denn sie seien Proselyten (vv. 702–723). Um die Argumentation nachvollziehen zu können, muss man mit dem Personalitätsprinzip des LandrechtsRechtsordnungenLandrechtPersonalitätsprinzip vertraut sein, d.h., der Text fordert die Rezipienten18 geradezu auf, zeitgenössische Konzepte an die Handlung heranzutragen, die im Text nicht explizit genannt sind. Doch heißt das, dass auch die weitere Handlung unter den Prämissen des ‚deutschen‘ Rechts betrachtet werden soll? Oder produktionsästhetisch gefragt: Ist versucht worden, die vorgegebene Handlung dementsprechend umzugestalten?
Auf jeden Fall gewinnen die Prozesserzählungen in den drei genannten Werken (im Folgenden ,Kerntexte‘ genannt)19 durch die ,deutschrechtlichen‘ Elemente neben dem Geschichts- auch einen deutlichen Gegenwartsbezug. Mit einer solchen hybriden Zeitstruktur stehen diese bibelepischen Werke20BibelepikPilatus-Veronika-LegendeLegendarikKonrad von FußesbrunnenKindheit Jesu unter den Texten des Mittelalters nicht allein; ähnliche Phänomene finden sich in AntikenromanenAntikenroman oder Geistlichen SpielenGeistliches Spiel. Die konkrete Wirkungsweise und die Funktion der partiellen Aktualisierung in den bibelepischen Kerntexten bleiben jedoch klärungsbedürftig. Die in ihnen zu beobachtende Hinzufügung ,deutschrechtlicher‘ Motive lässt sich als ein Schritt in der weiteren Apokryphisierung21Exegetik der Prozesserzählung verstehen, bei der das Prozessgeschehen vervollständigt und das Handeln der Figuren neu interpretiert wird. Dabei wird aber gleichzeitig eine Referenz auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit geschaffen, die den (damaligen) Rezipienten sowohl dazu einlädt, semantisches Material aus seinem Lebensumfeld an die Texte heranzutragen, als auch, das im Text beschriebene Gerichtswesen auf die außertextliche Wirklichkeit zu beziehen. Soweit sich diese Wechselwirkungen heute rekonstruieren lassen, legen sie die Vermutung nahe, dass sich die der Prozesshandlung inhärenten Spannungen durch den Gegenwartsbezug verstärkt haben: Das heilsgeschichtliche ParadoxRechtsordnungengöttliches vs. menschliches Recht, dass sich der Weltenrichter der menschlichen Gerichtsbarkeit unterwirft, um die Menschheit zu erlösen, dürfte umso prekärer gewirkt haben, wenn das menschliche Gerichtswesen nicht von vornherein als Unrechtssystem gekennzeichnet wird, sondern – z.B. über das Stichwort ,Landrecht‘ – eine zeitgenössische Rechtsordnung anzitiert ist, bei der Gott als LegitimationsgrundRechtsbegründung fungiert.22Eike von RepgowSachsenspiegelPrologus
Möglicherweise haben Vorstellungen von der Göttlichkeit des Rechts schon bei der Produktion der Kerntexte eine Rolle gespielt. Auffällig ist jedenfalls, dass zwar jeweils am Ende des Prozesses Pilatus als Richter versagt, dass aber das Rechtswesen vorher so dargestellt wird, als ob Gerechtigkeit möglich wäre, und sogar an Pilatus vorbildliches richterliches Verhalten demonstriert wird, obwohl das zu handlungslogischen Brüchen führt. Solche Brüche lassen auch Rückschlüsse auf Spielräume und Grenzen bibelepischen Erzählens23Bibelepik zu: Den Freiheiten in der Ausgestaltung der Prozesshandlung (auch über die Anbindung an die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit) stehen die Erfordernisse der heilsgeschichtlichen Abläufe gegenüber, wie sie in den kanonischen Evangelien fixiert sind.
Vor dem Hintergrund der skizzierten Zusammenhänge kristallisiert sich aus dem mit den Stichworten ‚Jesus‘ und ‚Landrecht‘ umrissenen Problemkreis eine konkrete Fragestellung heraus: Wie gehen die bibelepischen Kerntexte um mit dem Verhältnis von ,Gott‘, der Weltenrichter, aber in Gestalt von Jesus auch Objekt eines Gerichtsverfahrens ist, und ,Recht‘, das die göttliche Rechtsordnung, aber auch menschliche Verfahrensweisen umfasst?Rechtsordnungengöttliches vs. menschliches Recht Diese Frage wird sich nur durch eine Analyse des thematischen Netzes von Bezügen in den jeweiligen Texten klären lassen. Sie sind wiederum nur zu erfassen, wenn die Sinnstiftung über Referenzen auf das zeitgenössische Lebensumfeld und deren Implikationen, soweit wie möglich, rekonstruiert wird.24 Dass solche Referenzen in den Kerntexten überhaupt eine zentrale Rolle spielen, deutet darauf hin, dass sich das Erzählen von Heilsgeschichte nicht allein aus dem (durch autoritative Texte vermittelten) sakralen Stoff speist.25 ,Jesus‘ und das ,Landrecht‘ können deshalb auch als Chiffren für den heilsgeschichtlichen Stoff und die Bezugnahme der Texte auf die Erfahrungswirklichkeit zu ihrer Entstehungszeit verstanden werden. In diesem Sinn vermag die Analyse des Verhältnisses von ,Jesus‘ und dem ,Landrecht‘ auch Perspektiven auf die Poetologie der bibelepischen Texte zu eröffnen.