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3.4.3 wârheit

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Die Wahrheitsthematik wird im Evangelium Nicodemi bereits im Prolog eingeführt, wenn das Autor-Ich den Heiligen Geist bittet, er möge es mit dem Feuer seiner Minne erfüllen zu schribene die waren schrift (vv. 312–315). In diesen Versen geht es um eine Wahrheit, die durch göttliche Inspiration vermittelt wird. Mit seiner schrift will das Autor-Ich die ,heilige Schrift‘ Gottes vermitteln:

[…]

mache wis mich tummen

an diner heiligen schrift,

die wunder die du hast gestift

daz ich die den luten

muge also beduten, 1

daz ich des lon dort vinde

vor der meide kinde,

mit dem du ein war got2 bist. (vv. 336–343)

An dieser Stelle bleibt unklar, ob es sich bei der heiligen schrift um eine Wort- oder eine Werkoffenbarung handelt. Der Inhalt des Textes, nämlich die Wunder, die Jesus zu Lebzeiten und bei seiner Auferstehung vollbringt, spricht aber ebenso für eine Werkoffenbarung wie der Status, der den neutestamentlichen Schriften im Evangelium Nicodemi zuerkannt wird.3

Dass die göttliche Wahrheit an zeichen erkennbar ist, wird später erläutert, als das Autor-Ich unvornunftigen luten Jesu Worte am Kreuz ,deutet‘ (vv. 2045f.). Es bezieht sich dabei auf die Propheten, die den waren geist empfangen hätten (vv. 2047–2055), also den Zustand erreicht haben, um den es selbst im Prolog bittet. Auf dieser Basis hätten sie die Zukunft vorhergesagt, damit ihre Nachkommen Jesus an seinen zeichen und urkunden erkennen und so zur warheit vordringen könnten (vv. 2056–2073). Während hier die Wahrheit in den Werken Jesu zu liegen scheint, die die Propheten vorhergesagt haben, kehrt sich das Verhältnis in den folgenden Versen um: Jesus habe durch sein Verhalten die Wahrheit der Prophetenworte bestätigen wollen:4Altes TestamentPs21[22]

Do unse herre Jesus Crist

an daz cruze gehangen wart,

[…]

do wolde er irzeigen

die warheit und urkunden

den vienden und den vrunden,

daz die gesprochen heten war

mit gotlichen steten gar,

und bewarte besunderen

mit zeichen und mit wunderen

mit worten und mit gedulde

die tat mit unschulde, –

an simem libe was gestift

gar al der propheten schrift –

[…] (vv. 2074–2088)5

Dass sich Jesus alttestamentarischen Prophezeiungen entsprechend verhält, ist im Evangelium Nicodemi kein vereinzeltes Motiv.6Altes TestamentIs53,7 Nach den Ausführungen des Autor-Ich sieht sich sogar GottRechtsordnungengöttliches Recht an das Alte TestamentAltes Testament gebunden:

Do er der werlde began,

er sprach: „Wir machen einen man

nach unseme glichnisse.“

Do er den val vor wisse,

daz er ganz mohte niht bestan,

het er des alles niht getan,

entweder Moses der luge

der uf got diz wort zuge,

oder got muse volgen –

swie harte ir sit irbolgen –

sinen worten mit den werken. (vv. 1697–1707)7

In einer paradoxen Umkehrung werden hier die Worte Mose, der Gottes Worte überliefert, zum Maßstab für Gottes Handeln.8

Von dieser umfassenden Autorität des Alten Testaments unterscheidet sich die der Evangelien deutlich, wie dem ,quellenkritischen‘ Abschnitt des Prologs (vv. 369–392) zu entnehmen ist: Die vier Evangelisten hätten die zeichen und wunder Jesu und seine Passion aufgeschrieben – hier folgt also das Wort den Werken nach. Jedoch hätten sie viel ausgelassen, sowohl von dem, was Jesus getan habe, als auch von dem, was seine Gegner getan hätten. Das Werk der Evangelisten habe der meister Nikodemus vollendet, der mit Juden und Christen zusammen gewesen sei: die rehten waren mere / beidenthalb er wiste (vv. 382f.).9Neues TestamentJohannesevangelium Io3,1–9 An späterer Stelle wird das Wissen des Nikodemus auf dessen Augenzeugenschaft zurückgeführt, die er den Evangelisten vorausgehabt habe (vv. 679–709).10

Dass die Evangelisten nicht alles berichteten, wird im Text aber nicht allein damit erklärt, dass sie nicht alles gewusst hätten: Im Prolog heißt es, sie hätten durch tumme lute (v. 377) manches ungeschrieben gelassen. Ist damit gemeint, dass man diesen Leuten bestimmte Komplexitäten nicht zumuten könne, oder eher die Angst vor der Reaktion törichter Leute? Auf Letzteres könnte der Kommentar zu den Kreuzesworten in den Evangelien (vv. 2166–2178)11 hindeuten. Dort werden gleichberechtigt die Versionen der vier Evangelisten und die des Nikodemus gegenübergestellt. Sinngemäß wird gesagt, dass Markus und Matthäus den einen Ausruf überlieferten (gemeint ist: „Eli / lamasabatani“, vv. 1927f.; vgl. Mc 15,34Neues TestamentMarkusevangelium Mc15,34; Mt 27,46Neues TestamentMatthäusevangelium Mt27,46), Lukas und Nikodemus den anderen (gemeint ist: „Via alach / hoe fricole“, vv. 2185f.; vgl. Lc 23,46Neues TestamentLukasevangelium Lc23,46; Nikodemusevangelium, cap. XI 1), während Johannes die Worte ‚verschwiegen‘ habe (v. 2171).12Altes TestamentPs30[31],6 Sie hätten jedoch alle die Wahrheit gesprochen: Der eine habe mehr gewusst als der andere bzw. so gesprochen, wie er es gewagt habe (als er torste ien, v. 2177). So provokativ eine solche Deutung auch ist, der Wortlaut scheint nahezulegen, dass dahinter die Vorstellung steht, die wahrheitsgetreue Übermittlung des Heilsgeschehens erfordere Mut.

Die Aspekte der AugenzeugenschaftZeugenAugenzeugenschaft und des mutigen Eintretens für die Wahrheit schaffen eine Querverbindung von der Quellenreflexion zum geschilderten Prozessgeschehen. Auch in der Darstellung des Prozesses wird Nikodemus als vorbildlich charakterisiert, indem er für Jesus aussagt (vv. 1155–1186). Er wiederholt, was er schon beim Mordrat gesagt habe: Wie an den von Moses vollbrachten zeichen erkennbar sei, hätten Wunder, die von Gott kämen, Beständigkeit. Das bestätigen ,die Juden‘ als wahr. Deshalb, so argumentiert Nikodemus, könne man in Analogie entscheiden, dass Jesu Werke von Gott seien, wenn sie bestehen blieben. Nikodemus erweist sich als fähig, das Wahrgenommene richtig zu interpretieren.13 ,Die Juden‘ aber werden zornig auf Nikodemus, weil er die Wahrheit gesagt hat (daz er der warheite jach, vv. 1187–1189). Da die Szene auf den Dialog zwischen Jesus und Pilatus über die Wahrheit (vv. 1084–1092) folgt, in dem Jesus – ähnlich wie im Nikodemusevangelium (cap. III 2) – auf das GefährdungspotenzialZeugenGefahr für Zeugen hinweist, das damit verbunden ist, wenn jemand auf Erden die Wahrheit sagt, kann die Reaktion ,der Juden‘ auf die Rede von Nikodemus als Exemplifikation dieser Aussage verstanden werden. Dass im Evangelium Nicodemi Pilatus dann ,die Juden‘ dafür tadelt, dass sie Nikodemus zürnten, weil er die Wahrheit gesagt habe (vv. 1192f.), wirft ein positives Licht auf das Gericht als wahrheitsbewahrende Instanz.

Überhaupt fällt – vor allem im Vergleich mit Diu urstende – auf, dass die Wahrheit im Kontext des Prozesses wenig Schwierigkeiten hat, sich durchzusetzen: Die Augen- und Ohrenzeugenschaft des Läufers wird ohne Weiteres akzeptiert (vv. 800–826). Beim Proselytenvorwurf (vv. 994–999) gegen die zwölf Juden, die aussagen, Jesus sei nicht unehelich geboren, wird nur kurz gesagt, dass die zwölf diesen Vorwurf hätten widerlegen können (vv. 1000–1002). Daraufhin akzeptieren – anders als im Nikodemusevangelium (cap. II 5) – sogar Kaiphas und Annas deren Aussage (vv. 1003–1005), die auf Augenzeugenschaft beruht (vv. 979f.).14 Die Zeugenaussage von Veronika, einer Frau (ein wib, v. 1237), wird nicht hinterfragt (vv. 1237–1242). Und die gegenüber dem lateinischen Nikodemusevangelium zusätzlich eingefügte Zeugenaussage des Lazarus, der sich wiederum auf zahlreiche Zeugen beruft, die seine Auferweckung vom Tode gesehen hätten (vv. 1249–1265),15 hat eine solche Überzeugungskraft, dass ,die Juden‘ sich daraufhin zur Beratung zurückziehen und keine andere Möglichkeit mehr sehen, als den Richter ‚zornig‘ zu machen, um eine Verurteilung Jesu zu erreichen (vv. 1266–1274).

Offenbar wurde in der Erzählung vom Prozess das Augenmerk ausdrücklich nicht auf Methoden der Wahrheitsfindung und deren Absicherung gelegt, da man beobachten kann, dass sie an anderen Stellen des Textes durchaus ausgestaltet sind. Zwei verschiedene Verfahren zur Wahrheitsfindung werden bereits in der Fahnenwunder-Episode eingeführt. Wie im lateinischen Nikodemusevangelium (cap. I 5f.) werden zunächst die heidnischen Fahnenträger befragt, dann folgt zur Ermittlung der Wahrheit das von Pilatus angeordnete pragmatische ,Experiment‘, dass die Fahnenträger gegen Vertrauensleute ,der Juden‘ ausgetauscht werden (vv. 872–918). Jedoch dient der Austausch der Fahnenträger im Evangelium Nicodemi vor allem der öffentlichen Wahrheitsdemonstration, denn schon vorher ist Pilatus, der das Senken der Fahnen als zeichen deutet (v. 865), von der Unschuld der heidnischen Träger überzeugt (vv. 884f.). Dass er sie bei ihrem Eid auf das Reich befragt hat (ein Zusatz zum lateinischen Nikodemusevangelium), hat es ihm erlaubt, Wahrheit von Lüge zu scheiden. Der Eid dient hier nicht als direktes Mittel zur WahrheitsfindungEidals Mittel der Wahrheitsfindung, sondern garantiert das ,verlässliche Verhalten‘ der Untergebenen.16

Eiden als Absicherungsmechanismus kommt auch im weiteren Handlungsverlauf ein hoher Stellenwert zu,17 vor allem bei den Befragungen, die ,die Juden‘ nach Jesu Auferstehung durchführen.18 In der Wächter-Szene (vv. 2333–2449) spielt der Eid allerdings noch keine Rolle: ,Die Juden‘ glauben den Wächtern nicht und wollen sie in einem Gerichtsverfahren zur Rechenschaft ziehen, das so implizit als Mittel der Wahrheitsfindung anerkannt wird. Die Wächter können sich dem jedoch durch Verweis auf den evidenten Befund entziehen, dass auch Joseph auf mirakulöse Weise verschwunden ist, und werden von ‚den Juden‘ zu Falschaussagen gegenüber Pilatus veranlasst. Auch die Aussage der drei Priester (vv. 2450–2493) ist nicht durch einen EidEidZeugeneid gesichert, sondern erhält durch die Übereinstimmung (vgl. vv. 2460f.) ihrer auf Augenzeugenschaft beruhenden AussageZeugenMehrzeugenregelung,19 die in eine Bezeugung der Himmelfahrt Jesu mündet, Autorität. ,Die Juden‘ glauben den dreien erst, als sie – wiederum übereinstimmend – beteuern, die Wahrheit gesagt zu haben und sich zu der Verpflichtung bekennen, die Wahrheit nicht zu verschweigen (vv. 2490–2493). Daraufhin verpflichten die Hohepriester sie bei einem Eid (mit Todesdrohung) zum Schweigen (vv. 2494–2498) und lassen sie wegführen (vv. 2499–2501).

Bei der Befragung Josephs wird das Mittel des EidesEidZeugeneid dazu eingesetzt, die Wahrheit seiner Aussage zu garantieren. Dass die ,Bischöfe‘ Joseph bi der e die er bege (v. 2513) beschwörenEidBeschwören eines anderen sollen, ist bereits Teil des von Nikodemus geäußerten Rates, man solle Joseph befragen (vv. 2506–2524). In der Tat wird später ein Schwur von Joseph verlangt:

daz volc20 in bi der e bat

und hiez in uf den buchen swern,

als er sich wolde genern

zu deme jungesten tage,

daz er sagete ware sage

um in und umme Cristen: (vv. 2578–2583)

Joseph beschließt seine Aussage mit einer entsprechenden Wahrheitsbeteuerung: […] / Diz ist war bi miner e!“ (v. 2678). Mit ,den Büchern‘, auf die Joseph schwörtEidEidritual, dürften die fünf Bücher Mose gemeint sein, die bei JudeneidenEidJudeneid üblicherweise zum Einsatz kamen,21 weil nicht anzunehmen ist, dass der christliche Verfasser hier ein jüdisches Ritual beschreibt.22

Mit dem Eid Josephs kommt eine metaphysische Instanz ins Spiel. Glaubwürdigkeit gewinnt seine Aussage aber auch dadurch, dass er als WahrnehmungszeugeZeugenAugenzeugenschaft spricht, wie die zahlreich gebrauchten Verben des Sehens anzeigen (z.B. vv. 2606; 2618).23HeidelbergUniversitätsbibl.Cpg 342 [p] Außerdem wird seine Aussage von den drei Priestern bestätigt (vv. 2679–2681) – auf der Grundlage ihrer eigenen Augenzeugenschaft der Himmelfahrt, so kann man vermuten. Wie schon in der Prozesshandlung (vv. 1003–1005) erkennt Kaiphas auf Augenzeugenschaft beruhende übereinstimmende AussagenZeugenMehrzeugenregelung als wahr an (v. 2701), allerdings ist hier ein weiterer Schritt dazwischen geschaltet: Kaiphas verweist auf Elias und Enoch, die Gott ebenfalls vor dem Tod bewahrt habe (vv. 2684–2687), führt also Präzedenzfälle an, die das wunder möglich erscheinen lassen, dass Jesus, den doch alle tot gesehen hätten (v. 2696), wiederauferstanden ist.

Bei der abschließenden Befragung der vom Tod wiederauferstandenen Simeonsöhne sind wiederum rituelle und rationalistische MethodenBeweiseBeweisverfahren der Wahrheitssicherung kombiniert, indem sie im Tempel beschworenEidBeschwören eines anderen (vv. 2760–2787), zusätzlich aber bei der Abfassung ihrer schriftlichen BerichteSchriftlichkeitFixierung von Zeugenaussagen voneinander getrenntZeugengetrennte Befragung werden (vv. 2829–2835). Das Resultat dieser irdischen Vorsichtsmaßnahme ist jedoch ein weiteres wunder, nämlich die völlige Übereinstimmung der BerichteZeugenMehrzeugenregelung (vv. 2836–2841).24

Welche Wahrheit sollen die Simeonsöhne aber garantieren? Bei der Einführung der Figuren geht es noch einmal um den Wahrheitsgehalt der Aussage Josephs, der rekapituliert, dass man die Simeonsöhne gemeinschaftlich begraben habe, dann aber berichtet, dass sie wiederauferstanden seien (vv. 2714–2727). ,Die Juden‘ senden daraufhin Joseph nach ihnen aus, prüfen aber zugleich nach, ob ihre Gräber tatsächlich leer sind (vv. 2748–2759). Joseph hatte Leucius und Carinus als Quelle der Wahrheit angekündigt; man solle sie sowohl dazu befragen, was mit Jesus passiert sei, als auch dazu, was sie über die Erlösung wüssten (vv. 2728–2737). Für die Übermittlung einer solchen heilsgeschichtlichen Wahrheit sind sie nach Joseph geeignet, da sie zu ihren Lebzeiten wahrheitsliebend gewesen seien und außerdem wüssten, was nach dem Tode passiere (vv. 2738–2743). Bei dieser Einführung wird erneut deutlich, dass zur Übermittlung von ,Wahrheit‘ nach dem Evangelium Nicodemi sowohl eine inhaltliche als auch eine moralische QualifizierungZeugenGlaubwürdigkeit nötig ist. Letztere solle, so hatte es bereits Joseph vorgesehen, durch einen EidEidEidesformel bi der e, / die an unsen buchen ste (vv. 2733f.) gesichert werden. Tatsächlich werden die Simeonsöhne vor ihrer Befragung bei dem Inhalt der e beschworenEidZeugeneid (auf den alttestamentarischen Gott, der Moses die Gesetze gab);25 die e – aufgefasst als materielles Schriftstück26 – wird ihnen dabei für den EidEidEidritual auch auf den Kopf gelegt (vv. 2768–2783).

Dieser Ritus fällt aus der im christlichen Kontext üblichen Eidesleistung auf ein Buch (Evangeliar) oder ein Reliquiar heraus,27VerfahrenHandhaftverfahrenJohannes von BuchRichtsteig Landrechts35,6 und auch das Eidzeremoniell der JudeneideEidJudeneid bietet kaum etwas Vergleichbares.28SchwabenspiegelHeidelbergUniversitätsbibl.Cpg 53 Sucht man im christlichen Kontext nach Parallelen, so stößt man auf Riten im Rahmen der Bischofsweihe.29 Sollte hier eine Anspielung darauf vorliegen und ein hybrider jüdischer Schwurritus konstruiert worden sein, gewännen die Simeonsöhne durch diese Art der Beschwörung zusätzliche Autorität als Verkünder des Wortes Gottes.30 Auch die Aufforderung ‚der Juden‘, dass die Simeonsöhne bei ihrem orden Auskunft geben sollten (v. 2786), bringt zum Ausdruck, dass die beiden einen besonderen Status innehaben.31 Dass es sich bei der e aber gerade nicht um das Evangelium handelt, wird nicht nur durch den Inhalt des Schwures präsent gehalten, sondern auch dadurch, dass die Simeonsöhne in ihrer an Jesus gerichteten Rede (vv. 2793–2828) sagen, dass die e, bei der man sie beschworen habe, jetzt durch die Taufe, die Johannes der Täufer zuerst an Jesus vollzogen habe, abgelöst sei (vv. 2805–2810).32

In ihrer – gegenüber dem lateinischen Nikodemusevangelium (cap. XXVII 2) deutlich ausgearbeiteten – abschließenden Mahnrede an ,die Juden‘ (vv. 3695–3777) geben die Simeonsöhne vor ihrer Himmelfahrt dann eine regelrechte Tauflehre (vv. 3713–3735) und fordern ,die Juden‘ zur Taufe auf (v. 3734). Für ihre Rolle als Wahrheitsvermittler ist relevant, dass sie in dieser Rede beanspruchen, ,die Juden‘ die Worte der alttestamentarischen wissagen gelehrt zu haben (vv. 3743–3747). Außerdem ordnen sie sich einer Gruppe von Auferweckten zu, die Jesus mit sich habe auferstehen lassen zum Beweis (urkunde), dass er auferstanden sei (vv. 3698–3701). Eine entsprechende Interpretation der Funktion der mit Jesus Auferstandenen ist auch Adrian in den Mund gelegt:

[…]

die grabe uf sich taten,

die toten die sie haten

die giengen heruz lebende,

antworte den luten gebende,

und vorjigen uns der warheit,

des Jesus hete vor geseit,

er were lebend erstanden

uz des todes banden.“ (vv. 4001–4008)

Durch ihre körperliche Anwesenheit und ihre Worte, die die Erfüllung der alttestamentarischen Prophezeiungen bestätigen, sind die Simeonsöhne also vor allem Übermittler der Heilswahrheit.

Trägt man die verschiedenen Äußerungen auf der Figuren- und der Erzählerebene, die sich auf die Wahrheit und deren Absicherung beziehen, zusammen – und das scheint wegen deren Kohärenz gerechtfertigt –, ergibt sich Folgendes: Die Propheten haben, inspiriert vom Heiligen Geist, die (Erlösungs-)Wahrheit vorhergesagt. Jesus hat diese Wahrheit durch sein Leben und Sterben und seine Auferstehung bekräftigt. Die mit ihm Wiederauferstandenen waren lebende Beweise für diese Wahrheit33 und haben durch ihr Zeugnis, das auch durch irdische Mechanismen (wie den der übereinstimmenden Augenzeugenschaft) abgesichert ist, zugleich eine Überlieferungstradition begründet.34SchriftlichkeitProzessaufzeichnungen Wo sich der Text des Evangelium Nicodemi in dieser Kette positioniert, wird nicht explizit benannt, aber es wird nahegelegt, dass er in dieser Überlieferungstradition ebenfalls Wahrheit für sich beanspruchen kann. Der Ausdruck ,wahre Schrift‘ taucht nur im Schlussteil des Textes nochmals auf: Die Fürsten (v. 5189) ‚pflegten‘ das Unrecht, sie hätten sich von den Idealen der Vorfahren abgekehrt und folgten nicht der waren schrift; sie sollten sich besser an der warheit orientieren (vv. 5232–5238). Hier dürfte mit der waren schrift die christliche Lehre gemeint sein.35 Aus einer anderen Textstelle des Schlussteils lässt sich schließen, dass die Orientierung an der Wahrheit auch die konkrete Dimension des Nicht-Lügens hat (vv. 4764–4767),36 die in der erzählten Prozesshandlung relevant ist. Zumindest onomasiologisch sind die heilsgeschichtliche Wahrheit und Wahrheit als Verhaltensmaßstab verbunden.

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