Читать книгу Jesus und das Landrecht - Henrike Manuwald - Страница 35
4.1 Explizite kontextuelle Verankerung
ОглавлениеWenn im Folgenden das Erzählen heilsgeschichtlich bedeutsamer Ereignisse unter der übergeordneten Perspektive der Aneignung eines ,historischen‘ Stoffes betrachtet wird, so sei damit die spezifische Zeitstruktur des Heilsgeschehens nicht geleugnet: Es hat eine historische Dimension, aber auch eine zukünftige, da das Heilsgeschehen aus christlicher Perspektive noch nicht abgeschlossen ist.1 Zwar zeichnet sich gerade die Passion Jesu durch einen dezidierten Geschichtsbezug aus,2 doch verweist sie ebenso zurück auf die alttestamentarischen Prophezeiungen wie voraus auf die Gegenwart des einzelnen christlichen Subjekts, für das der Glaube an die Passion die Verheißung auf die eigene Erlösung bedeutet.3AugustinusConfessiones10,43,68 Außerdem wird das Christusgeschehen in der Liturgie in besonderer Weise vergegenwärtigt.4 Die Verschränkungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart scheinen punktuell auch in den Kerntexten auf.
Eine explizite Adressierung der liturgischen Gegenwart bzw. das Verschmelzen der Ebenen von liturgischem und historischem Geschehen findet sich nicht nur im Gebetsteil von Christi Hort, wenn die Karfreitagslesung aufgerufen wird und das betende Ich in das auf diese Weise präsente Heilsgeschehen unmittelbar involviert erscheint (vv. 2056–2064), sondern im Evangelium Nicodemi auch innerhalb der Narration bei der Schilderung des letzten Abendmahls:
ein brot nam er in die hant,
zu berge hub er iz zuhant,
und tet daruber einen segen,
den die priestere allewegen
uber dem altare sprechen,
e sie daz brot zubrechen. (Evangelium Nicodemi, vv. 463–468)
Hier wird das Verhalten der Priester nicht mit dem von Jesus erklärt, sondern das Verhalten Jesu durch den Verweis auf einen aus der Liturgie allenthalben bekannten Vorgang erläutert. Dass die Liturgie das Modell für die Anlage der ganzen Szene war,5Neues TestamentJohannesevangelium Io13,12–15 zeigt auch das Detail, dass Jesus in den heiligen drin namen Wasser und Wein in den Kelch gießt (vv. 457–462). Dass das für Heinrich von Hesler ein selbstverständlicher liturgischer Vorgang war, lässt sich mit Versen aus seiner Apokalypse untermauern (vv. 12903f.Heinrich von HeslerApokalypse12903f.; 13055Heinrich von HeslerApokalypse13055; 13068f.Heinrich von HeslerApokalypse13068f.).6
Die Verschränkung verschiedener Zeitebenen ist in den Kerntexten jedoch nicht dominant. Sie konzipieren die Passion Jesu eher als historisches Geschehen, und zwar auch im Hinblick auf die darin wurzelnde liturgische Festordnung. So kommt im Evangelium Nicodemi ein Bewusstsein davon zum Ausdruck, dass das einmalige Heilsereignis ein christliches Fest begründet hat. Zum Beispiel wird die Handlungssequenz am leeren Grab mit den Versen eingeleitet: An dem dritten tage vru, / daz osteren ist genant nu (vv. 2333f.).7 Die Zeitangabe nu stellt zugleich einen Bezug zur Gegenwart des Erzählers dar. Solche Zeitangaben treten jedoch auch in Figurenreden auf, wenn etwa Joseph bei der Erzählung von seiner Befreiung die Worte in den Mund gelegt sind „In der dritten naht, / daz osteren nu genant ist, / […]“ (vv. 2588f.). Das nu in der wörtlichen Rede Josephs dürfte sich wohl kaum auf seine eigene Gegenwart beziehen, sondern einen Anachronismus darstellen, wie er sich auch häufig in Geistlichen SpielenGeistliches Spiel findet.8Bibelübersetzung An der entsprechenden Stelle der Handlung in Christi Hort lässt der Erzähler Joseph ganz selbstverständlich vom Karfreitag sprechen.9 Eine solche anachronistische Verwendung christlicher Zeitangaben schließt aber keineswegs ein historisches Bewusstsein davon aus, dass eine zeitliche Distanz zu den geschilderten Ereignissen besteht und sich das Christentum als Religion erst etablieren musste, denn als in Christi Hort Jesus die Jünger auffordert, für seine Himmelfahrt zum Ölberg zu kommen, und sie daraufhin alle Christen versammeln, wird ausdrücklich gesagt, dass es noch wenige gewesen seien (vv. 2839–2841).
Als historisches Geschehen hat das Heilsgeschehen nach den Kerntexten auch direkte Konsequenzen für die ,heutige‘ Gesellschaftsstruktur: Diu urstende und vor allem das Evangelium Nicodemi leiten die Stellung ,der Juden‘ aus dem Heilsgeschehen abJudenJudenrecht (und dessen Herleitung).10 Anders als ätiologische Erzählungen mit bloßem Erklärungswert hat diese historische Herleitung der Stellung ,der Juden‘ einen appellativen Charakter, da nach der Logik der Texte von allen Christen ein Eintreten gegen ,die Juden‘ verlangt wird.11
Neben der Erläuterung der unmittelbaren Konsequenzen des Heilsgeschehens für die Gegenwart und der Engführung mit der Liturgie gibt es noch einen dritten Typus des Bezugs auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit, der für den Zugang zur Heilsgeschichte spezifisch ist: die Auslegung des Erzählten bezogen auf das eigene Leben oder auf Fragen des richtigen moralischen Verhaltens in der Gegenwart. Im Evangelium Nicodemi (vv. 1872–1882) beispielsweise wird aus der Erlösung des guten Schächers abgeleitet, dass für uns – eine Gemeinschaft sündiger Menschen – ebenfalls Hoffnung auf Erlösung bestehe. Um moralisch falsches Verhalten geht es bei der in Christi Hort (vv. 2568–2582) anlässlich der Bestechung der Grabwächter eingefügten Reflexion darüber, dass ,noch‘ mancher seine Seele durch unrecht erworbenes Gut verwirke. In Diu urstende (vv. 159–170) wird beklagt, dass die Falschheit des Judas ,noch‘ in der Welt zu finden sei; arglistige Täuschung werde aber denselben Lohn finden, den Judas bekommen habe. Auffällig ist bei diesen Moralisierungen, dass es sich nicht eigentlich um tropologische Auslegungen handelt, die auf den Einzelnen bezogen wären, sondern dass allgemein Verhaltensweisen mit ihren Konsequenzen benannt werden.
Bei den Auslegungen wird vom Erzähler jeweils eine eigene Erfahrungswirklichkeit entworfen, die sicherlich keinen Abbildcharakter hat, aber doch plausibel gewirkt haben muss. Dass ,heutige‘ Situationen zu ,damaligen‘ in Bezug gesetzt werden, ist möglich, weil der moralische Gehalt nicht zeitgebunden ist bzw. das Wertesystem sich gegenüber dem aus den biblischen Szenen abzuleitenden nicht entscheidend verändert hat, ja sich sogar teilweise aus ihm speist. Bei der Judas-Passage in Diu urstende scheint aber zu der expliziten Übertragung in die Gegenwart noch eine Deutung des Verrats vor dem kulturellen Hintergrund der Entstehungszeit des Textes gekommen zu sein, denn die Information, dass Judas von der Abendmahlstafel weggegangen sei (vgl. Io 13,30Neues TestamentJohannesevangelium Io13,30), wird in Diu urstende (vv. 155–158) angeführt, um die Größe seines Verrats zu verdeutlichen. Darin wird man eine Anspielung auf den Bruch des Vertrauensverhältnisses sehen können, wie es das gemeinsame Mahl voraussetzt.12 Noch komplexer sind die Verfahren der kulturellen Aneignung an der Stelle in Christi Hort (vv. 1817–1826), an der vom Erzähler die Tatsache, dass ,die Juden‘ die Gerichtsschranken verlassen, kommentiert wird. Die Gemeinsamkeit zwischen ,heute‘ und ,damals‘ wird wieder in einer bestimmten Verhaltensweise gesehen: dem Vermeiden von Befleckung durch Ansehen eines TodesurteilsUrteilTodesurteilproblematik. Die ganze Situation des Verlassens des abgeschrankten Gerichtsbezirks ist aber nur vor dem Hintergrund eines konkreten kulturellen Umfeldes verständlich, das hier in die Vergangenheit zurückprojiziert ist und dann auf die Gegenwart bezogen ausgedeutet wird.
Zwar ist bei dem Kommentar zum Verlassen der Gerichtsschranken wegen der negativen Grundeinstellung gegenüber ,den Juden‘ wahrscheinlich eine Missbilligung durch den Erzähler anzunehmen, sie wird aber nicht als solche kenntlich gemacht. An anderen Stellen in Christi Hort sind auch Bezüge zur Gegenwart zu beobachten, die keine moralische Ausdeutung implizieren, wenn zum Beispiel erläutert wird, dass die Jünger beim Fischen keine Beute gemacht hätten, als dicke vischæren noch geschiht (v. 2752). Bei solchen Erläuterungen ist der heilsgeschichtliche Gehalt nicht relevant, sondern dem historischen Geschehen wird durch den Bezug auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit Plausibilität verliehen.
Da in den Kerntexten das Heilsgeschehen – ausgehend vom sensus historicus der Evangelien – überwiegend als vergangenes Geschehen dargestellt wird, zeigen sich an den bisher genannten Textstellen Verfahren der expliziten kontextuellen Verankerung, wie sie auch in anderen Erzählungen von etwas Vergangenem zu finden sind, zum Beispiel der Bezug auf ein ,heute‘, das dem Erzähler und den Rezipienten gemeinsam ist, ausgedrückt durch nu oder noch. Ein solcher gemeinsamer Erfahrungsraum wird auch suggeriert, wenn von den geschilderten Verhaltensweisen der Figuren gesagt wird, dass sie dem entsprechen, was ,man‘ machen soll. Das geschieht in Diu urstende trotz der judenfeindlichen Gesamttendenz sogar einmal in Bezug auf ,die Juden‘, als erzählt wird, dass sie die tumben von der Befragung Josephs durch die Hohepriester ausschließen (vv. 1320–1325). Der Erzähler kommentiert:
swâ man umbe solhe sache
trahtet und ze râte wirt,
der tumben man dâ wol enbirt. (Diu urstende, vv. 1326–1328)
Ein strukturell vergleichbarer Kommentar findet sich in Christi Hort in Bezug auf die Ausstattung des Boten Adrian durch Pilatus (vv. 4113–4126):
den berait er shon unt wol
als man werde potten schol,
die man hohen herren
senten wil von verren. (Christi Hort, vv. 4117–4120)13
Ob das hier vorausgesetzte Wissen darüber, wie man Boten ausstatten soll (mit üppigen Gastgeschenken, vv. 4121–4126), sich letztlich aus der Praxis oder aus literarischen Texten speist, ist für den Prozess der kulturellen Aneignung irrelevant.
Das Bemühen des Erzählers in Christi Hort, das historisch ferne Geschehen von der eigenen Gegenwart ausgehend zu erschließen, wird besonders deutlich bei dem Kommentar zu dem weißen Tuch, das der ,Läufer‘ des Pilatus um den Hals trägt (vv. 1423–1429). Schon diese Aussagen über das Tuch sind eine von den Angaben im Nikodemusevangelium abweichende Konkretisierung, wo gesagt wird, dass der Läufer ein fasciale inuolutorium, das er in der Hand trug, ausgebreitet habe (cap. I 2).14(Klosterneuburger) Evangelienwerk Bei der Kommentierung in Christi Hort wird das Tragen eines solchen Tuches als Gewohnheit deklariert, die ,man‘, Junge und Alte, ,noch‘ jenseits des Meeres habe, d.h., das, was den ‚Läufer‘ auszeichnet, wird als Sitte anschlussfähig an die Gegenwart gemacht, aber zugleich in eine lokale Distanz verlegt. Dass das Passionsgeschehen überhaupt in einem geographisch fremden Raum stattfindet, wird in den hier analysierten Texten, von geographischen Angaben abgesehen, nicht thematisiert. Solche geographischen Angaben finden sich zum Beispiel in Christi Hort, wo der Erzähler angesichts des Pfingstwunders ,das Volk‘ erstaunt die Heimatregionen sämtlicher Leute aufzählen lässt (u.a. Ägypten und Libyen), die trotz ihrer unterschiedlichen Sprachen die Botschaft der Jünger verstehen könnten (vv. 2921–2961). Auf diese Weise wird die Vielfalt der Sprachen deutlich, es erfolgt aber kein ausdrücklicher Transfer wie etwa im (Klosterneuburger) Evangelienwerk(Klosterneuburger) Evangelienwerk in Bezug auf den Dialekt des Petrus. In der zweiten Auslegung15GöttweigStiftsbibl.Cod. 222 [Gö] der Verleugnung Petri heißt es dort:
Sand Pet(er)n er / chanden die dien(er). di pei dem feiv(er) stuende(n). pei sein(er) red wa(n)d si vo(n) / Jer(usa)l(e)m. vnd di von Galyle. di waren ain(er) sp(ra)ch. ab(er) si hete(n) niht ain we / is vnd ainen don zu d(er) red. als swab. vn(d) payr vn(d) steyr(er). sint ain sp(ra)ch. / vn(d) gehebi(t) doch ni(t) d(er) red niht geleich. Also erchanden si auch sand pe / tern pei sein(er) red. wa(n)d er galyleisch redt. vnd niht Jerusalemisch. (Schaffhausen, Stadtbibl., Cod. Gen. 8SchaffhausenStadtbibl.Cod. Gen. 8 [S, H1], fol. 248r, Z. 9–14)16(Klosterneuburger) Evangelienwerk
Dagegen genügt im Evangelium Nicodemi die Bemerkung eines Knechts über die galiläisch geprägte Sprache des Petrus (vv. 665–667; vgl. Mt 26,73Neues TestamentMatthäusevangelium Mt26,73), und es bleibt dem Rezipienten überlassen, sich sowohl das Fremdartige als auch die entsprechende eigene Erfahrung bewusst zu machen.
Deutlicher als die geographische Distanz des Erzählers und seiner Adressaten gegenüber den erzählten Ereignissen wird in den Texten die historische Distanz dazu reflektiert, indem das vergangene Heilsgeschehen, jedenfalls in Christi Hort und im Evangelium Nicodemi, ausdrücklich auch in der politischen Geschichte verortet wird: Im Evangelium Nicodemi wird nicht nur die Funktion der offenbar als erklärungsbedürftig empfundenen Statussymbole des Pilatus erläutert, sondern das Mitführen der ,Fahnen‘ ist auch konkret als eine römische Gerichtssitte benannt (Do pflagen sie al geliche / uber romische riche, / […], vv. 835f.). Aus dem deiktischen Do lässt sich der Standpunkt des Erzählers ableiten, der über Sitten in einer vergangenen Zeit spricht. In Christi Hort ist die Vergangenheit, von der erzählt wird, – wie im Prolog des Nikodemusevangeliums – durch eine konkrete Angabe zur Datierung präzisiert (vv. 1381–1395), und der Erzähler macht unmissverständlich klar, dass er und seine Adressaten (wir[z], v. 1376; uns, v. 1391) auf Schriftquellen angewiesen seien.17SchriftlichkeitProzessaufzeichnungen Außerdem werden – wie im Evangelium Nicodemi – Zustände zur Zeit der Römer erklärt, die mit der Angabe hie bevor (v. 1327) zur Gegenwart des Erzählers in ein Verhältnis gesetzt sind. Wie schon bei der Textstelle, an der berichtet wird, dass ‚die Juden‘ die Gerichtsschranken verlassen, ist die explizite Benennung des zeitlichen Abstandes von impliziten Verfahren der kulturellen Aneignung begleitet, denn die Beschreibung der Machtverteilung rückt in der Wortwahl (fursten, v. 1331, bzw. faͤrsten, v. 1336; scepter unt chrône, v. 1339) und von der politischen Struktur her18 die römischen Verhältnisse an die Gegenwart des Textes heran.19
Gegenüber einer solchen impliziten Adressierung der zeitgenössischen Erfahrungswirklichkeit20 bleiben explizite Referenzen in den Kerntexten auf einzelne Stellen beschränkt, was angesichts des mehr narrativen als kommentierenden Charakters der Texte nicht verwundern kann.21 Die punktuellen Verweise genügen aber, um für alle drei Texte zu belegen, dass die Ereignisse für ein zeitgenössisches christliches Publikum aufbereitet worden sind. Während Erzähler und Adressaten hinsichtlich ihrer Position in Zeit und Raum sowie ihrem Weltverständnis als eine Gemeinschaft inszeniert werden,22 deuten sich hinsichtlich ihrer Bildung Unterschiede an: Die Erzähler in Diu urstende (vv. 44–47) und in Christi Hort (vv. 1377f.) beanspruchen jeweils für sich, den Sprachtransfer vom Lateinischen ins Deutsche vollbracht zu haben, wohingegen die Übersetzungen lateinischer Einsprengsel in allen drei Werken23 davon zeugen, dass Lateinkenntnisse beim Publikum nicht vorausgesetzt werden, auch wenn in Christi Hort die Gemeinschaft der Überlieferungsempfänger betont wird (da von wirz in latin han, v. 1376). Die spezifische Rezipientenorientierung, die in der sprachlichen Hilfestellung fassbar ist, bietet eine Erklärung dafür, warum sich die genannten expliziten Referenzen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit vor allem auf Bereiche beziehen, die einem nicht-lateinkundigen Publikum zugänglich sind.24 Aber auch die kulturelle Übersetzung,25 wie sie implizit durch Anpassungen an den Sprachgebrauch und die Vorstellungswelt der anvisierten Rezipienten zum Ausdruck kommt, ist auf ein entsprechendes Zielpublikum zugeschnitten.