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4.3 Mediävalisierung des Heilsgeschehens

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Wie eingangs (Kap. 4.1) erläutert, nähern sich die Kerntexte der Passion und der Auferstehung Jesu vor allem als historischem GeschehenBibelepik, sodass Fragen der kulturellen Differenz relevant werden, wie sie auch sonst bei Erzählungen von Vergangenem begegnen. Von den punktuellen expliziten Bezugnahmen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit abgesehen, können die Verfahren der kulturellen Aneignung, die in den Kerntexten zu beobachten sind, als Anachronismen beschrieben werden, die das erzählte Geschehen an die Gegenwart des Erzählens heranrücken. Vereinzelte Markierungen lassen den historischen Abstand jedoch nicht ganz aus dem Blick geraten. Verweise auf die Schöpfung und den Sündenfall, der die Notwendigkeit einer Erlösung des Menschen mit sich gebracht hat (Christi Hort, vv. 1–170; Evangelium Nicodemi, vv. 1–300), und das Jüngste GerichtJüngstes Gericht (Diu urstende, vv. 1470–1478; Christi Hort, z.B. vv. 2992–2995; Evangelium Nicodemi, z.B. vv. 180–196; 3705–3712) halten zudem den heilsgeschichtlichen Rahmen präsent. In der heilsgeschichtlichen Orientierung sind die Kerntexte Geistlichen SpielenGeistliches Spiel verwandt, wobei diese – über Anachronismen hinaus – performativ spezifische Strategien der Vergegenwärtigung und Distanzierung verwenden.1Le jeu d’AdamGeistliches Spiel Zugleich sind die Kerntexte in ihrem Gebrauch von Anachronismen bei gleichzeitigem Anspruch, Vergangenheit darzustellen, mit den bereits erwähnten Übersetzungen antiker Texte und auch mit epischen Bearbeitungen historischer Stoffe, etwa im AntikenromanAntikenroman, verbunden.

Forschungsgeschichtlich ist für die Anachronismen im Geistlichen Spiel und in mittelalterlichen Umsetzungen antiker Stoffe eine Bewegung von der Einordnung solcher Anachronismen als naiv und amüsant hin zur Untersuchung ihrer Funktion zu beobachten.2 Die positive Sicht auf Anachronismen als einer Technik der Akkulturation schlägt sich auch im programmatischen Begriff der Mediävalisierung nieder.3BibelepikHeldenepik Deren Funktion muss für jeden Text individuell bestimmt werden; es ist aber auch versucht worden, für einzelne Gattungen Stoßrichtungen der Aktualisierung festzumachen: Für AntikenromaneAntikenroman wurde zum Beispiel die These aufgestellt, dass die dadurch geleistete Abmilderung des ,Fremden‘ es ermögliche, den exemplarischen Wert des geschilderten Geschehens zu konturieren,4 wobei diese pauschale Einschätzung der Differenzierung bedarf.5Rudolf von EmsAlexander19563–19594Curtius Rufus, QuintusHistoriae Alexandri Magni6,9,36RechtsordnungenLandrechtPersonalitätsprinzip Anachronismen in Geistlichen Spielen sind unter anderem als Versuch interpretiert worden, „Vergangenheit in die Gegenwart zu transplantieren, in ihrer Bedeutung für die Gegenwart klarzustellen.“6 Sind die Anachronismen zuallererst Verfahren der zeitlichen ,Vergegenwärtigung‘, erleichtern sie bei einem heilsgeschichtlichen Gegenstand darüber hinaus die andächtige ,Vergegenwärtigung‘, die von vertrauten Wahrnehmungsmustern ausgehen kann.7Geistliches Spiel

Angesichts ihres heilsgeschichtlich essenziellen Stoffes könnte man auch für die Kerntexte vermuten, dass die Bezugnahmen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit entsprechend funktionalisiert wären. Für eine ,Vergegenwärtigung‘ des Geschehens im Sinne einer Einfühlung bieten die narrativen Texte allerdings kaum Anhaltspunkte.8 Vielmehr erzählen sie die Passion Jesu vor allem als Heilsgeschichte in dem Sinne, dass das Heilsgeschehen in konkrete politische und soziale Verhältnisse eingebettet ist. Die Aktualisierungen dienen größtenteils dazu, diese Ebene zu erschließen. Dadurch wird nicht nur das Heilsgeschehen als Sonderfall in seiner historischen Dimension verständlich gemacht, sondern es werden auch prototypische Situationen herausgearbeitet, die sich auf die Gegenwart der Rezipienten übertragen lassen. Wenn die geschilderten Ereignisse – jedenfalls teilweise – in ein zeitgenössisches kulturelles Umfeld transponiert werden, betrifft das alle Akteure, z.B. auch die Zeugen, die in dem Gerichtsverfahren auftreten – ein Situationsmuster, wie es die Rezipienten selbst erleben könnten. Wie das Beispiel der Antikenromane zeigt, bleibt eine derartige Aktualisierung von materiellen Realien und Handlungsabläufen nicht ohne ,Nebenwirkungen‘, da damit auch die Aktivierung von Konzepten aus dem zeitgenössischen Umfeld der Texte verbunden ist (wie das der guten Herrschaft oder der Richterethik). Dass mit den Aktualisierungen von Handlungsabläufen auch bestimmte Wertvorstellungen evoziert werden, auf die der Text jeweils Bezug nimmt, hat sich für die Kerntexte am konkreten Beispiel der Reaktion des Pilatus auf die Vorführung Jesu als Gefangenen in Diu urstende plausibel machen lassen. Es ist daher zu vermuten, dass in den Kerntexten über Verfahren der kulturellen Aneignung nicht nur die Passionsgeschichte neu perspektiviert wird, sondern dass sich die Texte auch in Diskussionszusammenhängen zu Themenfeldern positionieren, die mit ihr in Zusammenhang stehen.

Jesus und das Landrecht

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