Читать книгу Jesus und das Landrecht - Henrike Manuwald - Страница 26
3.3.4 reht und ê
ОглавлениеHinsichtlich der Rechtsordnungen ist der auffälligste Zug von Christi Hort, dass die irdische Gerichtsbarkeit, vor die Jesus gestellt wird, in einen politischen Kontext eingeordnet wird. Der eigentlichen materi, nämlich der Passion Christi (vv. 1367f.), sind relativ ausführliche Erklärungen zur Stellung von Herodes und Pilatus vorgeschaltet (vv. 1327–1366). Ausschlaggebend dafür könnte die Benennung der Ämter im Prolog des Nikodemusevangeliums gewesen sein, die in Christi Hort als genaue historische Verortung wiedergegeben ist (vv. 1381–1393), außerdem das Bedürfnis, aus der Pilatus-Veronika-LegendePilatus-Veronika-Legende bekannte Elemente der Vorgeschichte des Pilatus den Prinzipien des ordo naturalis gemäß unterzubringen.1 Damit ist aber die spezifische Akzentsetzung in Christi Hort noch nicht zu erklären: Die Erläuterungen beginnen mit dem historiographischen BestrebenChronistik, die Verhältnisse zur Zeit der vergangenen Römerherrschaft darzulegen, als die römische Rechtsordnung in vielen Gebieten übernommen worden sei, so auch in Jerusalem (vv. 1327–1333). Dass es fursten sind, die das Recht aus Rom ,nehmen‘, deutet aber schon darauf hin, dass die damaligen Verhältnisse in die Zeit des Verfassers übersetzt werden. Dementsprechend ist der König Herodes, dem die Fürsten in Galiläa untergeben sind, als jemand gekennzeichnet, der leut und lant, scepter und chrône vom Kaiser empfangen hat und ihm untertan ist (vv. 1334–1342).2Neues TestamentMarkusevangelium Mc6,14Neues TestamentLukasevangelium Lc3,1 Pilatus (dessen Stand nicht benannt wird) hat sich die Feindschaft des Herodes dadurch zugezogen, dass er den GerichtsbannRichterGerichtsbann3 nicht von Herodes haben wollte, sondern ihn direkt vom Kaiser in Rom erhalten hat (vv. 1343–1348).4Historia apocrypha der Legenda aureaNeues TestamentLukasevangelium Lc23,12 An späterer Stelle wird erklärt, dass Pilatus in Jerusalem StadtrichterRechtsordnungenStadtrecht ist:
Herodes was chunick uber daz lant;
do was Pilatus rihtær da
in der stat unt niht ander swa. (vv. 1740–1742)
Es handelt sich bei dieser Wiederaufnahme des Motivs nicht um ein Anzeichen einer fehlenden Endredaktion,5 vielmehr um eine Präzisierung des Verhältnisses zwischen Pilatus und Herodes.6Neues TestamentLukasevangelium Lc23,6f. Jerusalem wird über die reichsunmittelbare Gerichtsbarkeit indirekt der Status einer Reichsstadt zugestanden, und für zeitgenössische Rezipienten dürfte es plausibel gewesen sein, dass die rechtliche Selbstständigkeit gegenüber der Amtsgewalt des Herodes zu Konflikten führen konnte.7 Da der Konflikt zwischen Pilatus und Herodes eine größere Prominenz erhält, als für den Handlungsverlauf nötig wäre, sind realhistorische Anspielungen nicht auszuschließen,8 jedoch sind die Indizien im Text zu wenig spezifisch, als dass man einen solchen Bezug sichern könnte.
Wichtig für die weitere Erzählung vom Prozess ist jedoch, dass Pilatus – entsprechend zu seiner Funktion als Statthalter in den kanonischen Evangelien9 – in Christi Hort als Richter direkt dem Kaiser untersteht. Wenn ,die Juden‘ Pilatus mehrfach auf mögliche Konsequenzen für sein Verhältnis zum Kaiser hinweisen,10 sind das also keine leeren Drohungen. Als Pilatus dann vom Kaiser später tatsächlich zur Rechenschaft gezogen wird, spielt die Bannleihe dabei keine Rolle, aber seine Bestrafung ist immerhin die Folge von unrecht gericht (v. 4062 im Erzählerkommentar) und ist innerhalb der zuvor geschilderten Machtverhältnisse nachvollziehbar. Die ,deutschrechtlich‘Rechtsordnungen‚deutsches‘ Recht ablaufende Verhandlung am Kaiserhof in Rom macht dann auch noch einmal deutlich, dass das Recht nur insofern ,römisch‘Rechtsordnungenrömisches Recht ist, als die Gerichtsgewalt von Rom aus verliehen ist, nicht weil es etwa dem Corpus iuris civilis folgt. So beruft sich Vespasian bei seinem Urteil auch nicht auf ein Regelwerk, sondern auf die Rechtsordnung als Ganze (v. 5255).11
Wie das Recht, das für den Prozess vor Pilatus ausschlaggebend ist, inhaltlich aussieht, ist (wie schon in den kanonischen Evangelien) offenbar nicht von Interesse. Es gibt aber einzelne Punkte, an denen eine eingehendere Beschäftigung mit rechtlichen Fragen erkennbar ist. So ist der Erzähler bemüht, die Passah-AmnestiePassah-Amnestie zu erklären: Zum Osterfest ,der Juden‘ habe Pilatus jedes Jahr einen Gefangenen freigelassen, um die ehemals freien Juden zu ehren, das habe vor ihm kein richtær getan (vv. 1869–1873).12Thomas von AquinSuper Ioannemcap. 18, l. 6, XII (2369)Passah-Amnestie Hier scheint die Funktion des Pilatus als Herrscher durch, der Recht setztRechtsordnungengesetztes Recht vs. Gewohnheitsrecht und sich dann daran gebunden sieht. Erneut liegt dem Erzähler an einer historischen Herleitung der in seinen Quellen als Gewohnheit benannten Verhaltensweise (vgl. Mt 25Neues TestamentMatthäusevangelium Mt25; Mc 15,6Neues TestamentMarkusevangelium Mc15,6; Io 18,39Neues TestamentJohannesevangelium Io18,39; Nikodemusevangelium, cap. IX 1 [7,1 (G/I)]), ohne dass der Kommentar für den Handlungsablauf funktionalisiert würde.
Wie im Johannesevangelium (Io 18,31Neues TestamentJohannesevangelium Io18,31; vgl. Nikodemusevangelium, cap. IV 3) versucht Pilatus, den Fall an die jüdische GerichtsbarkeitRechtsordnungenjüdisches Recht zu überweisen, die in Christi Hort – anders als in den Evangelien, wo Jesus auch Kaiphas vorgeführt wird – bis zu diesem Punkt der Handlung in keiner Weise an dem Verfahren beteiligt war:
‘nu tût im selbe des ir gert,
nemt in unt riht nach ewer ê,
als es an ewerm orden stê!’ (vv. 1714–1716)
,Die Juden‘ lehnen das unter Verweis auf das Tötungsverbot der ê ab (vv. 1718–1722).13Neues TestamentLukasevangelium Lc24,15f.Neues TestamentJohannesevangelium Io10,31–33 Obwohl bei diesem Verweis ein Rekurs auf das (mosaische) sechste Gebot mitschwingt, ist hier ê vor allem im Sinne der Regeln einer Gemeinschaft gebraucht,14 genauso wie bei dem einleitenden Vorwurf der jüdischen Ankläger, dass Jesus ihre ê breche (v. 1409). Die alttestamentarische Dimension von ê wird innerhalb des Prozesses aber deutlich, wenn Jesus zu Pilatus sagt, dass Moses und die Propheten seine Passion und Auferstehung vorhergesagt hätten (vv. 1614–1621), und ,die Juden‘ daraufhin fordern, Pilatus solle ihnen nach der ê zu ihrem Recht verhelfen (vv. 1622–1626). Hier ist mit ê offenbar nicht eine Rechtsordnung gemeint, sondern ,die Juden‘ fordern in einem literalen Schriftverständnis,15Österreichischer Bibelübersetzer(Klosterneuburger) Evangelienwerk(Klosterneuburger) Evangelienwerk dass Pilatus so richten solle, dass die Prophezeiungen der ê erfüllt würden.
Nimmt man den Gesamttext in den Blick, ergibt sich, dass mit ê außerdem rituelle Komponenten des jüdischen religiösen Lebens bezeichnet werden können, wenn gesagt wird, dass Jesus nach der alten ê beschnitten wird (vv. 370f.) oder dass Joseph ihn schoͤn nach der ê bestattet (v. 2165). Aber auch für christliche Riten wird das Wort gebraucht, denn es heißt, dass Joseph nach christen ê getauft wird (vv. 2426f.).16
Dass die ê, vor allem im Sinne der alttestamentarischen Bestimmungen, auf Gott zurückgeht, wird nicht herausgearbeitet.17 Für Gott als ,Gesetzgeber‘Rechtsordnungengöttliches Recht bzw. eher Inhaber der Befehlsgewalt zieht sich stattdessen eine andere semantische Linie durch den Text, nämlich die des Gebots:18 Gott gebietet Adam und Eva bei ihrem Gehorsam (‘ich gepiut ew pi der gehorsam / […]’, v. 78), nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Sie vergessen jedoch Gotes gebot (v. 108) und werden deshalb von Gott verflucht (vv. 125; 131). Gehorsam gegenüber Gottes Gebot ist ein Ideal, das die Heiligen Drei Könige verwirklichen (si waren gehorsam dıͤnem gebot, v. 418), dem Maria (v. 322) und der geheilte Tiberius (vv. 5020f.) folgen wollen19Pilatus-Veronika-Legende und das auch das Ich der Gebete anstrebt (vv. 647–652). An dieser Stelle bezieht sich der Gehorsam darauf, den Namen Gottes zu ehren und der Welt zu entsagen. Vorbild dafür sind die Jünger, die um Jesu willen Entbehrungen auf sich genommen haben (vv. 638–642) und dafür auserwählt worden sind:
du erwelts ûz aller der werlde gar,
daz si waren sunderbar
uber allez menschlich geslæht
richter nach recht. (vv. 643–646)
In Kombination mit dem Armutsmotiv dürfte es sich hier um eine Anspielung auf Mt 19,27f.Neues TestamentMatthäusevangelium Mt19,27f. handeln, wonach die Jünger am Ende der Zeiten auf zwölf Thronen neben dem Menschensohn auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen und die zwölf Stämme Israels richten werden. Der Gedanke wurde in der Auslegung mehrfach so interpretiert, dass die Apostel beim Jüngsten GerichtJüngstes Gericht als Schöffen fungieren.20 Dass das ,Richten nach Recht‘ sich tatsächlich auf das Jüngste Gericht bezieht, lässt sich textimmanent nachweisen, denn nachdem Jesus nach seiner Auferstehung den Jüngern ,geboten‘ und sie gebeten hat zu predigen (vv. 2818–2822), kündigen sie das Jüngste Gericht in einer Predigt folgendermaßen an:
‘[…]
her wider am jungstem tag chûmt er
ze richten nah rechte
uber alles mensch geslæchte,
uber lebentige unt uber tote.’ (vv. 2992–2995)
Interessanterweise wird beim göttlichen Richten das Prinzip benannt, nach dem es erfolgt: nah rechte, ,so, wie es richtig ist‘. Zu vermuten ist dahinter in diesem Zusammenhang die Vorstellung einer Identität von ,Gott‘ und ,Recht‘,21Eike von RepgowSachsenspiegelLdr. I62,7 sodass das Richten nah rechte nicht eine Unterordnung Gottes unter ihm wesensfremde Prinzipien bedeutet. Vor dieser Folie verliert auch Gottes Handeln nach der minne gebot (v. 326) etwas von dem provokativen Potenzial, wenn der Text auch die Vorstellung eines Kampfes der Minne mit Gott aufrechterhält.
Dass am Jüngsten TagJüngstes Gericht alle vor Gottes Gericht erscheinen müssen, wird mehrfach im Text thematisiert (vgl. vv. 366–368; 4766–4770),22Neues TestamentApostelgeschichte Act2,14–36 aber der Schwerpunkt liegt dabei auf der Gesamtheit der Menschen. Eine Verbindung zu den Gerichtsverhandlungen auf Erden wird nicht hergestellt. Auch sonst ist die Forderung, dem göttlichen Gebot zu folgen, nicht mit dem Handlungsverlauf verknüpft, bis auf eine Ausnahme: die Befragung von Karicius und Leucius. ,Die Juden‘ bitten sie um Gottes willen, und zwar pi der ê unt pi dem gebot (v. 3552), ihnen zu sagen, ob die Auferstehung wirklich stattgefunden habe. Als sie schweigen, mahnt sie Nikodemus bei der wæren minne bant, das sie an Gott bindet, und führt unterstützend an, dass sie doch sein Gebot achteten (vv. 3585–3592). Offenbar gehört es für ,die Juden‘ und für Nikodemus zum Befolgen von Gottes Gebot, dass man wahrheitsgemäß Auskunft gibt, vor allem, wenn man im Namen Gottes darum gebeten wird. Die Simeonsöhne haben jedoch von Jesus selbst ein Schweigegebot erhalten (vv. 3618–3620). Dass sie sich trotzdem zu einer (schriftlichen) Äußerung entschließen, also dem folgen, was die Menschen für Gottes Gebot halten, begründen sie damit, dass man sie in Gottes Namen so innig beschworen habeEidBeschwören eines anderen (vv. 3624f.).23 Dieser Schritt ist in der Vorlage vorgeprägt (vgl. Nikodemusevangelium, cap. XVIII 1) und erzähltechnisch notwendig. Zugleich klingt aber die Möglichkeit an, dass auch Menschen nach eigenem ErmessenRechtsordnungengöttliches vs. menschliches Recht nah rechte handeln können, wenn es darum geht, die Wahrheit als Augenzeuge zu bestätigen (vv. 3598–3600; vgl. v. 3559).