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3.3.2 geriht

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Die Darstellung des Prozesses gegen Jesus in Christi Hort orientiert sich nach Erich Klibansky (1925) – im Vergleich zu Diu urstende Konrads von Heimesfurt und dem Evangelium Nicodemi Heinrichs von Hesler – am stärksten an „der deutschen Prozeßform“Rechtsordnungen‚deutsches‘ Recht.1 Das gilt, wie noch zu zeigen sein wird, für einige Aspekte, insbesondere für die nach Urteilen fragenden Richterfiguren und die Berücksichtigung des Willens der Menge. Vom Formalismus eines deutschen Verfahrens ist jedoch nichts zu spüren; Zeugenaussagen erfolgen ohne verfahrenstechnische Einbettung, abgesehen davon, dass die Zeugen (wie an mehreren Stellen im Nikodemusevangelium impliziert)2 jeweils aufstehen, um ihre Aussagen zu machen (vv. 1639; 1646).3 Es dürfte zwar ohnehin nicht angemessen sein anzunehmen, dass ein ,vollständiges‘ deutschrechtliches Verfahren dargestellt werden sollte, aber es ist doch aufschlussreich, dass nur an bestimmten Stellen entsprechende Anpassungen durchgeführt wurden.

Für den Handlungsablauf nach dem Nikodemusevangelium unverzichtbar war es, einen Ort des Gerichts zu benennen, da das Betreten oder Verlassen des PrätoriumsGerichtsortePrätorium durch die Prozessbeteiligten dort mehrfach eine zentrale Rolle spielt. In Christi Hort ist der Ort des Gerichts (wie in Diu urstende) durch eine AbschrankungGerichtsorteAbschrankung (unter freiem Himmel) markiert:4 Der Läufer, den Pilatus ausgesandt hat, um Jesus zu holen, bittet ihn, in die schrangen zu gehen (v. 1435). Im abgeschrankten Bereich befinden sich offenbar auch ,die Juden‘, denn sie gehen hinaus, um (nach dem ersten Neigen der chriuce)5 zwölf jüdische Träger auszuwählen (vv. 1533f.)6 bzw. um eine Befleckung durch eine Beteiligung an der Verurteilung Jesu zu vermeiden (vv. 1817–1822).

Pilatus wird als auf einem (Richt)stuhl (stuͦle, v. 1562) sitzendRichterSitzen (während der Verhandlung) vorgestellt, denn er springt vor Schreck davon auf, als sich die chriuce zum zweiten Mal vor Jesus verneigen (vv. 1562f.).7 Zu einem späteren Zeitpunkt steht er zornig auf und will uz der schrangen hinausgehen, um die Verhandlung zu beenden (vv. 1689f.),8 setzt sich dann jedoch wieder hin (du saz er anz geriht nider, v. 1705). Sein Niedersitzen zeigt auch den Wiederbeginn des Verfahrens an, nachdem Herodes Jesus wieder zu Pilatus zurückgesandt hat (v. 1751). Dass das Aufstehen des Richters das Ende eines Verfahrens markiert, ist ein Zug, der aus dem lateinischen Nikodemusevangelium übernommen wurde, der aber in einem deutschrechtlichen Kontext sehr plausibel ist.9

Logischer als bei einem im PrätoriumGerichtsortePrätorium vorgestellten Gerichtsverfahren, wie es das Nikodemusevangelium voraussetzt, ist bei einer Verhandlung innerhalb von GerichtsschrankenGerichtsorteAbschrankung (unter freiem Himmel) die Anwesenheit einer Öffentlichkeit. Dass ,die Juden‘ hören, was Jesus zu Pilatus gesagt hat, und darauf reagieren (vv. 1591; 1622–162610Neues TestamentMarkusevangelium Mc14,63f.), erscheint in einem deutschrechtlichen Kontext ganz natürlich. Entsprechend unscharf ist die Verortung des aus Io 18,33–38Neues TestamentJohannesevangelium Io18,33–38 übernommenen Verhörs (vv. 1751–1778). Im Johannesevangelium findet die Unterredung im Prätorium statt, ,die Juden‘ haben das Gebäude nicht betreten, um nicht unrein zu werden (Io 18,28Neues TestamentJohannesevangelium Io18,28).11 In Christi Hort scheint Pilatus Jesus von seinem Gerichtsstuhl aus anzureden,12 geht dann jedoch von Jesus weg,13 und zwar dorthin, wo ,die Juden‘ stehen (vv. 1779f.). Für die weitere Befragung Jesu nach Io 19,9–11Neues TestamentJohannesevangelium Io19,9–11 (vv. 1798–1816) geht Pilatus wieder zu ihm (vv. 1796f.). Auch Jesus gegenüber tritt er in den Augen des Erzählers als Richter auf, denn die Frage redst du niht mit mir (v. 1801; vgl. Io 19,10) wird als ordnungsgemäße Reaktion darauf gekennzeichnet, dass der Angeklagte schweigt.14 Nach der Unterredung mit Jesus geht Pilatus wieder zu den juden (v. 1851), wo er weiterhin als Richter agiert. Jedenfalls kommt der Prozess in der nun folgenden Unterredung mit ,den Juden‘ zu einem Ende. Wo Jesus und ,die Juden‘ sich jeweils genau befinden, wird nicht explizit gesagt; aber wenn man davon ausgeht, dass Jesus beim Richtstuhl (vgl. vv. 1751f.) innerhalb der Gerichtsschranken steht, dann lassen sich vv. 1817–1822 wie eine nachgeschobene Erklärung lesen, warum ,die Juden‘ nicht mehr dort zu finden sind: Im Plusquamperfekt wird dort erklärt, sie hätten den abgeschrankten Bereich verlassen,15Neues TestamentJohannesevangelium Io18,28 weil sie negative Konsequenzen für sich selbst befürchteten, wenn sie die Verurteilung Jesu mit ansähen.16Neues TestamentLukasevangelium Lc22,61Neues TestamentLukasevangelium Lc22,62

Das Problem der Raumlogik ist auf diese Weise gelöst, jedoch wirft die Aussage verfahrenstechnisch neue Fragen auf (von der noch zu diskutierenden Motivation für den Weggang einmal abgesehen): Sind ,die Juden‘, die den abgeschrankten Bereich verlassen haben, identisch mit denen, die Pilatus später nach dem Urteil fragt (vv. 1876f.)? Wenn ja, welchen Status haben sie? Sie wären dann durch das Verlassen der schrangen nicht zu Unbeteiligten geworden. Man wird von der Erzählung wiederum keine verfahrenstechnische Stringenz verlangen dürfen, aber das Verhalten der Menge spielt durchgehend eine wichtige Rolle, sodass die Frage nach deren Status am Ende des Prozesses nicht unberechtigt ist. Zu deren Beantwortung soll jedoch zunächst betrachtet werden, welche Funktionen den verschiedenen Akteuren im Verlauf des Prozesses zukommen.

Der Prozess wird – wie im Nikodemusevangelium – dadurch eingeleitet, dass ,die Juden‘ den Richter Pilatus aufsuchen und Anklagen vorbringen (vv. 1396–1419).17VerfahrenRügeverfahren Sie berichten Pilatus auch von der Gefangensetzung Jesu (v. 1399), jedoch schickt dieser trotzdem seinen ,Läufer‘18 aus, um Jesus zu holen. Dass der ,Läufer‘ ein Tuch um den Hals trägt, das er ehrend vor Jesus ausbreiten kann, wird als Sitte ,jenseits des Meeres‘ erklärt, wo Jung und Alt für ein solches Tuch Geld ausgäben (vv. 1423–1429).19 Während diese Erklärung der Sitte das Ungewöhnliche des Verfahrens noch betont, ist in der Formulierung der Kritik ,der Juden‘, Jesus hätte mit schergen stimme / […] unt mit grimme (vv. 1445f.) herbeigebracht werden sollen,20 mit schergeBüttel, Fronbote, Gerichtsbote eine Person des Gerichts benannt, wie sie aus der deutschrechtlichen Praxis bekannt war.21 ,Die Juden‘ fordern auch explizit eine Erfüllung der gängigen Gerichtspraxis (‘das wær recht’, v. 1447).

Obwohl in Christi Hort nicht ausdrücklich davon die Rede ist, dass Jesus zu einer Gerichtsverhandlung geladen wird, wird mit der schrangen (vv. 1435; 1533) und dem Richtstuhl (v. 1562) ein entsprechendes Setting aufgebaut. Offenbar obliegt dem Richter die Entscheidung darüber, ob er eine Verhandlung eröffnet oder nicht. Jedenfalls lässt Procula, die Frau des Pilatus, – in einer signifikanten Präzisierung von Mt 27,19Neues TestamentMatthäusevangelium Mt27,19 und der entsprechenden Stelle im Nikodemusevangelium (cap. II 1) – Pilatus ausrichten:

“du solt dich dehain gerith an

nemen um disen rechten man;

ich han heint in jamers sitten

grozen ungemach erlitten

in dem troum von im,

da von dih von der rede nim.” (vv. 1571–1576)

Mag auch die Vorstellung, Pilatus hätte es einfach ablehnen können, über Jesus zu Gericht zu sitzen, in einem heilsgeschichtlichen Kontext rein hypothetisch wirken, wird sie im Pilatus-Veronika-Teil von Christi Hort wieder aufgenommen, wenn Pilatus formuliert, er hätte richtig (reht, v. 4095) gehandelt, wenn er dem Rat seiner Frau gefolgt wäre und gar nicht erst über Jesus zu Gericht gesessen hätte (vv. 4094–4100). reht wäre diese Verhaltensweise aus der subjektiven Sicht des Pilatus deshalb gewesen, weil dann sein eigenes Leben nicht in Gefahr geraten wäre. Jedoch könnten sich hinter der – gegenüber den Vorlagen – neuen Idee auch Bezüge zur Rechtswirklichkeit verbergen, denn eine Möglichkeit der Einflussnahme des RichtersRichterVerantwortung in einem deutschrechtlichen Verfahren war der passive Widerstand.22RechtsordnungenStadtrecht

In Christi Hort leitet die Reaktion ,der Juden‘ auf die Botschaft Proculas – sie werfen Jesus mit lautem Geschrei Zauberei vor (vv. 1577–1581) – direkt zu einer Verhandlung über, die (wie im Nikodemusevangelium) weder formell eröffnet noch mit einer offiziellen Anklage eingeleitet wird. Stattdessen nimmt Pilatus in einer Rede an Jesus auf die Vielfalt der gegen ihn erhobenen Vorwürfe Bezug (vv. 1582–1585).23 Die Antwort Jesu, dass jeder frei entscheiden könne, ob er gut oder schlecht (über jemanden) spreche (vv. 1586–1590), wird in den folgenden Versen in der Handlung entfaltet, denn die Mehrheit ,der Juden‘24 äußert, von Zorn getrieben und schreiend, weitere Vorwürfe, wie die uneheliche Geburt Jesu und die Verantwortung für den Kindermord (vv. 1591–1602; zum Geschrei vgl. 1607f.), während eine andere Gruppe über dieses Verhalten traurig ist und mit semftichait den Vorwurf der unehelichen Geburt bestreitet (vv. 1603–1608). Anders als in Diu urstende reden die Unterstützer und Gegner Jesu nicht direkt miteinander. Das entspricht der über den Richter laufenden Kommunikation der Prozessparteien in einem deutschrechtlichen Verfahren.25

Die Gruppe der schreienden ,Juden‘ lässt sich verfahrenstechnisch als die der Ankläger klassifizieren, die andere bleibt verschwommen: Befindet sie sich innerhalb des abgeschrankten Bereichs oder außerhalb? Ist vom gesamten UmstandUmstand die Rede, oder gibt es ein gesondertes UrteilergremiumUrteilUrteiler, Urteilergremium? In Christi Hort ist offenbar nur wichtig, dass der Richter auf das Verhalten der Menge zu reagieren hat. In einem Zusatz gegenüber dem lateinischen Nikodemusevangelium heißt es, dass es Pilatus angemessen gewesen wäre, das Geschrei zu stoppen – also den GerichtsfriedenGerichtsfrieden herzustellen –, es ihm aber nicht gelingt, die Ankläger zur Mäßigung zu bringen (vv. 1609–1612),26 und er sich stattdessen ratsuchend an Jesus wendet (v. 1613). Jesus verweist darauf, dass sein Martyrium bereits feststehe (vv. 1614–1621; vgl. Nikodemusevangelium, cap. IV 3), was ,die Juden‘ nur zu gern bekräftigen (vv. 1622–1626; vgl. Mt 26,65). Als daraufhin aber auch viele ,der Juden‘ anfangen zu weinen und damit ihr Missfallen zu erkennen geben, wie ausdrücklich gesagt wird (vv. 1627–1629), reagiert Pilatus als Richter darauf: Er und Nikodemus hätten mit ir chunst und ir list versucht, Jesus zu retten (vv.1630–1636). Die Rolle von Nikodemus an dieser Stelle erklärt sich nur aus der Vorlage (cap. V 1), nach der Nikodemus vor den Zeugenaussagen der Geheilten eine Rede hält, in der er für Jesus eintritt. Die für Pilatus positive Zusammenstellung mit Nikodemus weist hier aber auch auf die geschickte Verhandlungsführung des Richters Pilatus voraus, wie sie später in Bezug auf die Passah-AmnestiePassah-Amnestie geschildert wird.27

Als Pilatus und Nikodemus die Ankläger nicht umstimmen können (vv. 1637f.), treten Zeugen auf, die von Heilungswundern berichten (vv. 1639–1654). Pilatus handelt im Folgenden wie ein Richter, der die ,Beweislage‘BeweiseBeweiswürdigung selbst einschätzt: Er erschrickt vor der goͤtlichen ere, die er in den Heilungswundern erkennt (vgl. Nikodemusevangelium, cap. VI 4), und will Jesus freilassen (vv. 1655–1657; vgl. Io 19,12Neues TestamentJohannesevangelium Io19,12). Als ,die Juden‘ ihm daraufhin mit dem Kaiser drohen, hält er eine Scheltrede, in der er ,den Juden‘ unter Berufung auf ihr Verhalten gegenüber Moses vorwirft, sie seien seit jeher von Falschheit und einem Mangel an triwe (v. 1677) geprägt und drohten ihm deshalb mit dem Kaiser, wenn er Jesus freiließe, dessen Schuld sie mit redlichen sachen nicht nachweisen könnten (vv. 1663–1688; vgl. Nikodemusevangelium, cap. IX 2 [7,2 (G/I)]).28 Seine Absicht, zornig den abgeschrankten Bereich zu verlassen und so den Prozess abzubrechen, realisiert Pilatus jedoch nicht, als ‚die Juden‘ darauf hinweisen, dass es Jesus ist, um dessentwillen Herodes die Kinder habe erschlagen lassen (vv. 1689–1705). Bei ihren neuerlichen Vorwürfen befinden sich die Ankläger offenbar im abgeschrankten Bereich, denn sie bedrängen Pilatus, indem sie sich um ihn herumstellen (vv. 1706–1710).29 In dieser Situation erfragt Pilatus ein UrteilUrteilUrteilsfrage, woraufhin sich ,die Juden‘ für die KreuzigungStrafeKreuzigung aussprechen. An dieser Stelle, die ohne Parallele in den Vorlagen ist, überwiegen deutschrechtliche Elemente, indem Verfahrensführung und Urteilsfindung getrennt werden.30 Allerdings scheint die Gruppe der UrteilsfinderUrteilUrteiler, Urteilergremium mit der der Ankläger identisch zu sein. Außerdem wird deutlich, dass mit dem Urteilsvorschlag31 nicht etwa ein Ende des Prozesses erreicht ist, da Pilatus das Urteil nicht ausgibtUrteilAusgabe, sondern den Fall an die jüdische GerichtsbarkeitRechtsordnungenjüdisches Recht überweisen will (vv. 1714–1717; vgl. Io 18,30f.Neues TestamentJohannesevangelium Io18,30f.). Als ,die Juden‘ unter Berufung auf das Tötungsverbot in ihrer ê das ablehnen (vv. 1718–1722), beendet Pilatus die Verhandlung, indem er sich erhebt (v. 1733) und Jesus zu Herodes bringen lässt (vv. 1734f.; vgl. Lc 23,7Neues TestamentLukasevangelium Lc23,7).32GerichtsfriedenNeues TestamentLukasevangelium Lc23,11

In der erneuten Verhandlung (ab v. 1751) wird der (begrenzte) Entscheidungsspielraum des RichtersRichterVerantwortung wiederum deutlich. Angelehnt an das Lukasevangelium (Lc 23,14Neues TestamentLukasevangelium Lc23,14; 16Neues TestamentLukasevangelium Lc23,16; 22Neues TestamentLukasevangelium Lc23,22) verkündet Pilatus nach einem weiteren Verhör Jesu, er könne kein todeswürdiges Vergehen finden, deshalb wolle er Jesus zuchtigen lassen, und man solle ihn dann freigeben (vv. 1782–1786). Interessanterweise kündigt er nicht wie im Lukasevangelium an, er wolle ihn selbst freilassen, und die jetzt einstimmige Forderung ,der Juden‘, Jesus solle gekreuzigtStrafeKreuzigung werden (vgl. Mc 15,13Neues TestamentMarkusevangelium Mc15,13), und der nochmalige Hinweis auf den Kaiser (vv. 1787–1790) veranlassen Pilatus, die Verhandlung fortzuführen. Im ‚Gespräch‘ mit Jesus, der ihm nicht antwortet, bedeutet ihm Pilatus aber dann – in wörtlicher Übersetzung von Io 19,10Neues TestamentJohannesevangelium Io19,10 –, er habe die Macht, Jesus freizulassen oder zu töten (vv. 1801–1805). ,Die Juden‘ scheinen den abgeschrankten Bereich nicht aus Angst vor einer aktiven Beteiligung an einem TodesurteilUrteilTodesurteilproblematik zu verlassen, sondern wegen der Befürchtung, dass sich schon das Anschauen einer solchen Verurteilung negativ auswirken könnte (vv. 1817–1822). Das wird mit der aktualisierenden Übertragung durch den Erzähler, dass sich etliche Leute noch heute dadurch rein halten wollten, dass sie sich eine Verurteilung zum Tode nicht anschauen wollten (vv. 1823–1826), noch einmal bekräftigt.33 In der Barrabas-Szene (vv. 1851–1877; vgl. Mt 27,16–23Neues TestamentMatthäusevangelium Mt27,16–23; Mc 15,6–15Neues TestamentMarkusevangelium Mc15,6–15; Lc 23,18–25Neues TestamentLukasevangelium Lc23,18–25; Nikodemusevangelium, cap. IX 1 [7,1 (G/I)]) befragt Pilatus jedoch dann wiederum ,die Juden‘, wie er mit Jesus verfahren solle. Da das Geschrei des Volkes, von dem die kanonischen Evangelien an der entsprechenden Stelle berichten, ebenso wie im Nikodemusevangelium ausgespart ist, endet die Szene nicht im Tumult, sondern mit einer Frage des Pilatus (‘wes ist nu Jesus wert?’, v. 1876), die sich als erneute UrteilsfrageUrteilUrteilsfrage verstehen lässt.34 Sie ist – dem biblischen Kontext nach – an das gesamte jüdische Volk gerichtet, das sich in einem deutschrechtlichen Zusammenhang als Umstand denken ließe. Auch wenn die Gruppe ,der Juden‘ in der Prozessschilderung nur punktuell so an Kontur gewinnt, dass ihre verfahrenstechnische Rolle genau zu bestimmen ist, entsteht doch der Eindruck, dass der Richter durchgehend in Abstimmung mit der Menge agiert.

Wiederum wird jedoch das Urteil vom Richter nicht ausgegebenUrteilAusgabe, vielmehr verkündet Pilatus, ,die Juden‘ würden geschändet, wenn er ihren König kreuzigenStrafeKreuzigung ließe (vv. 1878f.; vgl. Io 19,15Neues TestamentJohannesevangelium Io19,15; Nikodemusevangelium, cap. IX 2 [7,2 (G/I)]). In vv. 1881f. heißt es dann, dass Pilatus von ‚den Juden‘ weggegangen sei und nun seinerseits Jesus gefangen gesetzt habe (um ihn anschließend geißelnStrafeGeißelung zu lassen). Davor ist die Bemerkung des Erzählers eingeschoben da beginnet diu rede sich spreucen (v. 1880). Der Vers ist schwer zu deuten, weil nicht ganz klar ist, was mit der rede gemeint ist, die sich ,spreizt‘ oder ,auseinander wächst‘.35Heinrich von MünchenWeltchronik6,1873 Obwohl rede in Christi Hort gelegentlich auch in Bezug auf Figuren gebraucht wird (v. 1806), ist es unwahrscheinlich, dass hier die rede des Pilatus gemeint ist, weil sie ihm nicht pronominal zugeordnet ist und der Vers im Präsens steht. Auch dürfte die rede nicht auf eine Auslegung des Geschehens zu beziehen sein, denn in analogen Fällen waren in Christi Hort das Geschehen interpretierende Verse vorangegangen. rede kann in Christi Hort aber auch die Erzählung selbst meinen (vgl. v. 4045).36 Dann würde thematisiert, dass die Erzählung bzw. der Gegenstand der Erzählung37 widersprüchlich wird, da Pilatus zu erkennen gibt, dass er Jesus für unschuldig hält, aber nicht danach handelt. Dass an dieser zentralen Stelle vom Erzähler eine Irritation ausgedrückt wird, ist ungewöhnlich, scheint aber vor dem Hintergrund anderer selbstreflexiver Bemerkungen zum Erzählen in Christi Hort durchaus plausibel. Der Vers, der einen formellen Abschluss des Prozesses ersetzt, stellt vermutlich auch eine Reaktion darauf dar, dass aus den kanonischen Evangelien, denen Christi Hort an dieser Stelle folgt, keine formelle Urteilsverkündung entwickelt werden konnte. Die Verteilung der Verantwortlichkeiten zwischen Pilatus und ,den Juden‘ bleibt in Christi Hort unklar, auch im Folgenden. Zwar ist es Pilatus, der Jesus geißelnStrafeGeißelung lässt,38 aber bei der Kreuztragung und KreuzigungStrafeKreuzigung scheinen vor allem die mit si bezeichneten ,Juden‘ aktiv zu sein (v. 1915; dann Passivformen).39

Schaut man sich den Prozess bzw. die ,apokryphe‘ und die ,kanonische‘ Verhandlung in Christi Hort insgesamt an, so wird deutlich, dass sie nicht konsequent an das deutsche Recht angepasst sind: In beiden Teilen changiert die Rolle des Richters zwischen urteilender und verfahrensleitender FunktionRichterselbsturteilender Richter. Die unklare Verteilung der Verantwortlichkeiten war in den Vorlagentexten schon angelegt und ist durch einige explizit deutschrechtliche Elemente, insbesondere die erste Urteilsfrage des Pilatus (v. 1711), verstärkt worden; denn einerseits wird deutlich, dass die Urteiler eine Verantwortung haben, andererseits zeigt aber die Reaktion des Pilatus, der das Urteil nicht ausgibtUrteilAusgabe, dass auch der Richter einen Spielraum hat. Durch das Herauskürzen von Figurenreden des Nikodemus und der zwölf für Jesus eintretenden Juden fokussiert sich das Geschehen gegenüber dem Nikodemusevangelium ganz auf Pilatus als Richter, Jesus als Angeklagten und ,die Juden‘, die überwiegend als feindselige Gruppe dargestellt werden. Pilatus wird dabei tendenziell als positive Figur gekennzeichnet, während es am Ende des Prozesses vollkommen in den Hintergrund getreten ist, dass es auch Juden gibt, die Jesus nicht gekreuzigt sehen wollen.

Das Problem, wer die Verantwortung für die KreuzigungStrafeKreuzigung trägt, bleibt bis zum Ende des Prozesses offen: Pilatus billigt sie nicht, aber er lässt sie, wie von ‚den Juden‘ gewünscht, vollziehen. In der Pilatus-Veronika-LegendePilatus-Veronika-Legende wird der Prozess gegen Jesus jedoch diskursiv und in einer weiteren Gerichtsverhandlung aufgearbeitet. Dort geht es dann nicht um den Ablauf im Einzelnen, sondern um die Schuldfrage. Da diese aber mit dem Verfahren verknüpft ist, sollen hier auch die ,Rückblicke‘ auf den Prozess gegen Jesus diskutiert werden. Zunächst fasst der Erzähler das bisherige Geschehen um Pilatus zusammen:

ir hapt da von wol vernomen

wie er zeJerusalem was chomen

unt richtær wart inder stat

und wie er da gerichtet hat;

er was ungaͤtic al sein ceit,

er wesse wol daz die juden durch ir neit

Jesum heten verraten,

unt swas si im ubels taten,

daz wesse wol Pilatus

daz si das taten um sus.

doch rihter durch siu uber in,

dar an betraug in sein sin

daz er durch der juden pêt

unrecht gericht uber in tet. (vv. 4049–4062)

Bereits aus diesen Versen ist erkennbar, dass man es in diesem Textabschnitt mit einem deutlich veränderten Pilatus-Bild zu tun hat. Der Rückbezug auf die in Christi Hort nur knapp angedeutete Vorgeschichte, wie Pilatus zu seiner GerichtsgewaltRichterGerichtsbann kam (unter Umgehung von Herodes direkt von Rom) und damit zugleich die Feindschaft mit Herodes begann (vv. 1343–1350), verweist auf die Kenntnis der legendarischen Pilatus-Vita, aus der auch die Tendenz zu einer negativen Bewertung der Figur insgesamt herrühren dürfte.40Historia apocrypha der Legenda aurea Allerdings gibt es hinsichtlich der über den Prozess referierten ‚Fakten‘ keinen Bruch zu dem auf dem Nikodemusevangelium beruhenden Teil von Christi Hort: Pilatus weiß, dass ,die Juden‘ aus Missgunst handeln (vv. 1663–1688), und er sitzt trotzdem weiter über Jesus zu Gericht. unrecht gericht (v. 4062) könnte sich entweder auf das gesamte Verfahren oder auf den (bei der Erzählung vom Prozess ausgesparten) Urteilsspruch beziehen – das Bedeutungsspektrum von gericht lässt beides zu.41 Für Pilatus selbst, der nur aus Angst um sein Leben Reue über das Geschehen empfindet (vv. 4063–4070), liegt der Fehler in seinem ubermût (v. 4090), der ihn dazu verleitet habe, überhaupt erst über Jesus zu Gericht zu sitzen. Über einen Boten will Pilatus versuchen, in Rom Deutungshoheit in seinem Sinne zu erlangen (vv. 4101–4109). Und in der Tat erklärt sein Bote Adrian, als er schiffbrüchig bei Vespasian landet, die ,falschen Juden‘ hätten Jesus gefangen und gekreuzigt (vv. 4289f.).42

Wie recht Pilatus mit der Sorge um sein Leben hat, ergibt sich aus dem Geschehensablauf, nach dem der vom Aussatz betroffene Kaiser Tiberius vom Wunderheiler Jesus hört und Pilatus gebieten lässt, ihn herbeizuschaffen: Sonst sei es sein Tod (vv. 4450–4452; 4528f.).43Historia apocrypha der Legenda aurea Zunächst haben diese Todesdrohungen nichts mit dem Prozessgeschehen zu tun. Doch als Columban als Bote des Tiberius in Jerusalem Nachforschungen anstellt, erfährt er zuerst, dass die juden unt Pilatus jegliches Gedenken an und Sprechen über Jesus verboten haben (vv. 4569–4574),44Historia apocrypha der Legenda aurea und dann, wie es zum Tod von Jesus gekommen ist. Veronika gibt ihm eine differenzierte Darstellung, in der sie auch heilsgeschichtliche Aspekte mit aufführt (vv. 4701–4770) und die ,falschen Juden‘ die Hauptverantwortung am Tod Jesu zugesprochen bekommen (vv. 4719–4733). Mit der Feststellung, dass Pilatus vom nît ,der Juden‘ gewusst habe (vv. 4732f.; vgl. Mt 27,18Neues TestamentMatthäusevangelium Mt27,18), begründet sie, dass Pilatus das Ansinnen ,der Juden‘ missfiel;45 dass er Jesus dennoch töten ließ, legt sie ihm nicht zur Last.46Historia apocrypha der Legenda aurea Als Tiberius dann in Rom von ihr wissen will, wer Jesus getötet habe, fasst der Erzähler kurz zusammen, dass Veronika ihm und Columban berichtet, wie sich alles zugetragen habe, und dass über all das Pilatus Richter gewesen sei (vv. 5045–5048), der Fokus verschiebt sich also auf Pilatus.47Historia apocrypha der Legenda aurea Tiberius erklärt ihn kurzerhand für ‚verloren‘, wenn er Jesus ,erschlagen‘ habe (vv. 5049–5054). Für Tiberius ist Pilatus ab diesem Zeitpunkt ein Mörder (vgl. v. 5180), eine Einschätzung, die im weiteren Handlungsverlauf von niemandem mehr angezweifelt wird.

Bis dahin ist die Aufarbeitung des Prozesses gegen Jesus aber insgesamt differenzierter als in der Historia apocryphaHistoria apocrypha der Legenda aurea. Für die inhaltliche Stoßrichtung von Christi Hort ist es außerdem aussagekräftig, welcher Ausschnitt aus der Historia apocrypha übernommen worden ist: Dass die Bestrafung ,der Juden‘ durch Vespasian48Historia apocrypha der Legenda aurea weggefallen ist, könnte damit zusammenhängen, dass sie bereits in dem auf dem Somnium NeronisSomnium Neronis basierenden Abschnitt (vv. 3909–3944) angekündigt worden war. Christi Hort endet mit der alleinigen Bestrafung des Pilatus und seiner Selbsttötung; was mit seiner Leiche passiert,49Historia apocrypha der Legenda aurea ist nicht thematisiert. Es scheint also weniger ein Interesse an der Pilatusfigur als solcher zu bestehen als daran zu zeigen, dass Gerechtigkeit hergestellt wird.50Historia apocrypha der Legenda aurea So dürfte auch zu erklären sein, dass die Episode von der Bestrafung des Pilatus zu einer deutschrechtlichen VerhandlungRechtsordnungen‚deutsches‘ Recht vor einem vom Kaiser geleiteten Fürstengericht ausgestaltet worden ist.51Historia apocrypha der Legenda aurea

Zunächst beruft Tiberius einen Fürstenrat ein (vv. 5082–5085) und fragt, wie er mit dem Mörder Pilatus verfahren solle (vv. 5177–5184). Vespasian ergreift – von Zorn geleitet, wie der Erzähler erläutert (v. 5186) – zuerst das Wort und rät, den Mörder zu entehren und gefangen nach Rom bringen zu lassen (vv. 5185–5189); fursten und chnechte stimmen diesem Rat zu (vv. 5190–5192). Der Fürstenrat ist eindeutig von der später folgenden Gerichtsverhandlung abgesetzt (der chaiser an daz gerith saz, v. 5222),52 die Entscheidung der Fürsten hat jedoch rechtliche Implikationen, denn die GefangennahmeFesselung des Angeklagten wird aufgrund der Schuld des Pilatus beschlossen, der dadurch in eine ungünstige Verteidigungsposition gerät.53

Zu der Gerichtsverhandlung werden ,Alt und Jung‘ gebeten; zu Gericht sitzen aber offenbar nur die Könige und Fürsten (vv. 5222–5228), die vom Kaiser auch direkt als Urteiler adressiert werden (v. 5229).54Heinrich von MünchenWeltchronik Es wird also offenkundig zwischen einem UrteilergremiumUrteilUrteiler, Urteilergremium und einem UmstandUmstand unterschieden.55 In der weiteren Erzählung über die Verhandlung verlagert sich der Fokus ganz auf die Fürsten und deren Verhalten (vv. 5235–5239; 5256–5260; 5264–5267); von den Königen ist nur Vespasian aktiv beteiligt (vv. 5240–5255; zum Königstitel vgl. vv. 4216f.). Da das begangene Verbrechen bereits offenkundig ist, fragt der Richter zu Beginn direkt nach einem UrteilUrteilUrteilsfrage (v. 5231). Allerdings sind die Fürsten zögerlich, ein Ersturteil zu äußern (vv. 5235–5239). Die Erklärung des Erzählers, dass keiner habe voreilig sein wollen und dass es ihnen unangenehm gewesen sei (si douchte ein tail swære, v. 5239), spezifiziert nicht, wo genau die Bedenken der Fürsten liegen. Vielleicht hat man es wieder mit der Scheu vor der Beteiligung an einem TodesurteilUrteilTodesurteilproblematik zu tun (vgl. vv. 1817–1826), oder halten sich die Fürsten zurück, weil Pilatus einer der Ihren ist?56 Vespasian, der schon im Fürstenrat voll zorn das Wort ergriffen hatte (vv. 5185f.), ist das auf jeden Fall gleichgültig (ummære, v. 5240), wie der Erzähler sagt, und er verkündet sein UrteilJudenVerurteilung ‚der Juden‘, das indirekt auch ,die Juden‘ mit einschließt (vv. 5241–5246).57Somnium Neronis Vespasian begründet seine Forderung, dass Pilatus den schmählichsten Tod sterben solle, den man sich ausdenken könne (vv. 5247–5255), damit, dass das eine angemessene Bestrafung (pillich, v. 5252)58 für das Vergehen sei, den ,höchsten Mann‘ getötet zu haben (v. 5249). Er bekräftigt sein Urteil außerdem mit der Formel […] / pei vrôm recht ertail ich daz.’ (v. 5255), also mit einer Berufung auf eine Rechtsordnung, wie sie aus zeitgenössischen Zusammenhängen bekannt gewesen sein dürfte.59Heinrich von MünchenWeltchronik12,1593(Klosterneuburger) EvangelienwerkEidEidesformelRechtsordnungenStadtrechtRechtsordnungengöttliches Recht

Der Kaiser als Richter fragt die Fürsten daraufhin nach ihrer Zustimmung, und die Fürsten erklären, dem Urteil folgen zu wollen.60 Aus dem Fortgang der Verhandlung wird ersichtlich, dass die Entscheidung nur ein Zwischenurteil war, das die Art der Bestrafung festgesetzt hat, aber noch nicht die Einzelheiten des Vollzugs, denn der Kaiser will nun wissen, was die schändlichste Todesart sei (vv. 5261–5263). Die Fürsten bitten daraufhin um eine Siebentagesfrist, um sich zu beraten (vv. 5264–5267).61 Ausschlaggebend dafür könnte eine erzähltechnische ,Motivation von hinten‘ sein, da so Pilatus ein Zeitfenster für seinen Selbstmord bekommt (vv. 5268–5291). Es wird aber zugleich demonstriert, wie formell geordnet ein Gerichtsverfahren abzulaufen hat, und zwar gerade nach der Phase der ,Beweisaufnahme‘, die bei der Schilderung des Prozesses gegen Jesus weitgehend ausgespart ist. Auf diese Weise wirft der zweite Prozess in Christi Hort ein fragwürdiges Licht auf den ersten, dessen Richter im zweiten Verfahren vor einer weltlichen Instanz zur Rechenschaft gezogen wird.

Traditionellerweise galt der Selbstmord des Pilatus als (göttliche) Strafe für sein Verbrechen gegen den Heiland.62 Dieser Auslegungstradition ist die Verknüpfung von irdischem Gerichtsverfahren und Selbstmord in der Pilatus-Veronika-LegendePilatus-Veronika-Legende sicherlich geschuldet. Pilatus, der sich in Christi Hort der Entehrung durch die menschliche Gerichtsbarkeit entziehen will (v. 5284), wählt mit dem Selbstmord zugleich aus christlicher Perspektive die allerschändlichste Todesart und wird auf diese Weise für sein Vergehen auch an der Seele bestraft (vv. 5292–5294). Der Text lenkt so das Augenmerk darauf, dass es Dimensionen gibt, die mit der irdischen GerichtsbarkeitRechtsordnungengöttliches vs. menschliches Recht nicht zu fassen sind.

Jesus und das Landrecht

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