Читать книгу Jesus und das Landrecht - Henrike Manuwald - Страница 31
3.4.4 reht und ê
ОглавлениеEs ist für das Evangelium Nicodemi charakteristisch, dass verschiedene RechtsordnungenRechtsordnungengöttliches vs. menschliches Recht auf Erden zueinander in Beziehung gesetzt werden und dass sie – entweder derivativ oder systematisch – in einem Zusammenhang mit dem göttlichen Recht stehen. Die komplexen Verhältnisse können hier nur skizziert werden, wobei die versuchte Systematisierung nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass im Text gerade kein streng logisches Gedankengebäude entwickelt wird, sondern die einzelnen narrativ funktionalisierten Aspekte assoziativ verknüpft sind.1 Wie Sinnbezüge generiert werden, sei an der Stellung des Pilatus im Rechtssystem verdeutlicht. Sie zu bestimmen scheint einfach zu sein, wenn man nur die expliziten Aussagen zu seiner Gerichtsgewalt berücksichtigt: Er hat sein Amt ,von römischer Hand‘ bekommen (vv. 3895–3904) und übt seine Gerichtsgewalt im Namen des römischen ReichesRichterGerichtsbann aus, dessen Herrscher durch die Fahnen des Reiches repräsentiert ist (vv. 835–851). Unabhängig von der historischen Situation war im Rahmen der Erzählung von der Gefangennahme Jesu an chronologisch passender Stelle in einem Exkurs die ZweischwerterlehreRechtsordnungenZweischwerterlehre2 entfaltet worden (vv. 533–556). Zum weltlichen Schwert heißt es dort:3
Der werlde zu gesihte
der konic sal daz swert tragen;
damite sal er tun geslagen
alle die weder dem rehten[;]
in sime rihte vehten;
er sal die werlt beschermen,
er sal niht mite gehermen
goteshus witewen weisen. (vv. 536–543)
Wenn im Schlussexkurs diejenigen, die über andere herrschen und deswegen Gott dankbar sein sollten, dafür getadelt werden, dass sie, obwohl sie die Gerichtsgewalt hätten, nicht gegen ,die Juden‘ vorgingen, die Gotteshäusern, Witwen und Waisen durch Wucher Schaden zufügten (vv. 4920–4943), dann wird deutlich, dass die Anforderungen des weltlichen Schwerts auch für Vertreter der königlichen Gewalt gelten. Trifft das auch auf Pilatus zu? Immerhin sitztRichterSitzen (während der Verhandlung) er auf des riches dincstul (v. 623). Wenn das römische Reich auch kein christliches Reich ist, so gelten nach dem Sinnentwurf des Textes für Pilatus offenbar doch dieselben Maßstäbe wie für den König nach der Zweischwerterlehre des Exkurses, denn er wird schließlich zur Rechenschaft gezogen, weil er sich erpressbar gemacht und seine Gerichtsgewalt nicht dazu genutzt hat, diejenigen in Schach zu halten, die ein ungerechtes Urteil erwirken wollten (vv. 4326–4357). Da an der entsprechenden Textstelle nicht über den Wortlaut ein Bezug zur Zweischwerterlehre hergestellt wird, ist bei der Engführung der Textstellen Vorsicht geboten, aber es scheint doch über assoziative Bezüge eine universelle Vorstellung davon auf, was gerechtes Handeln in der Welt bedeutet.
Angesichts dieses globalen Konzepts ist es wenig verwunderlich, dass Ausdifferenzierungen verschiedener gerichtlicher Zuständigkeiten, wie sie sich in Christi Hort für Pilatus und Herodes finden,4 unterblieben sind. Nur das partikulare Recht einer bestimmten Gruppe zieht sich als Motiv durch den Text: das ,der Juden‘Rechtsordnungenjüdisches Recht.5 Gleich zu Beginn der Erzählung wird gesagt, dass bei Kaiphas als ,Bischof‘ auch die Gerichtsgewalt liegt (vv. 402–405).6 Die Rechtsordnung, die für das Gericht des Kaiphas maßgeblich ist, wird dann bei den ersten Anklagen ,der Juden‘ gegen Jesus benannt: er (zer)störe mit seinen Werken ,ihre‘ e (vv. 734f., vgl. auch v. 766). Das Wort e bezeichnet an dieser Stelle vor allem die jüdische Zeremonialgesetzgebung,7 da der Vorwurf ,der Juden‘ darin begründet ist, dass Jesus an einem Sabbat Heilungswunder vollbracht hat (vv. 738f.). Dass zu dem Bedeutungsspektrum des Wortes aber auch das jüdische Strafrecht8 gehört, wird deutlich, wenn Pilatus ,die Juden‘ auffordert, sie sollten Jesus nach ,ihrer‘ e richten (v. 1052). e kann aber auch die Gruppe meinen, die sich zu einer bestimmten Ordnung bekennt; jedenfalls lässt der Erzähler Pilatus sagen, die Fahnenträger uz unser e sollten gegen Fahnenträger uz uwer e ausgetauscht werden (vv. 890f.). Hier soll offenbar vor allem ein religiöser Gegensatz ausgedrückt werden, der aber in einer Beziehung zur staatlichen Ordnung steht, denn die Fahnenträger des Pilatus hatten zuvor argumentiert:
[…] „Wir sin heiden
und sin der tempel knehte.
Von wie getanem rehte
bete wir an Jesum Cristen?
Bi dem eide wir enwisten,
wie sich geneigten die vanen!“ (vv. 878–883)
rehte bezeichnet an dieser Stelle sicherlich nicht gesetztes Recht, sondern eine Norm, die den Wächtern aufgrund ihres Glaubens und ihrer eidlichen Verpflichtung (vv. 872f.) zukommt,9 aber sowohl an der Verwendung des Wortes reht als auch an der des Wortes e lässt sich im Evangelium Nicodemi beobachten, dass sich rechtliche und religiöse Ordnungen nicht scharf trennen lassen.
Der Charakter der e als Inbegriff der BuchreligionRechtsordnungenlex vetus vs. lex nova wird in der bereits diskutierten Szene der Beschwörung der Simeonsöhne offensichtlich, wo es zunächst heißt, dass ihnen die e materialiter auf den Kopf gelegt wird (vv. 2768f.), und die e dann für Glaubensinhalte steht („Als ir geloubet / an dise e […]“, vv. 2770f.).10 In der von ,den Juden‘ formulierten ,Eingangsformel‘EidEidesformel des zu schwörenden Eides (vv. 2773–2781)11Vorsprecher wird Gott als derjenige benannt, der Moses die zehn Gebote gegeben habe (vv. 2777–2779). Auch wenn die mosaischen Gesetze an dieser Stelle nicht ausdrücklich als e bezeichnet werden, legt der Kontext nahe, dass sie Teil der jüdischen e sind. Kommt aber die jüdische Rechtsordnung letztlich von Gott, so ist damit das umfassendere, von Theologen breit diskutierte Problem präsent, wie sich die lex vetus zur lex nova verhält.12
Tatsächlich lassen sich im Text Spuren der Auseinandersetzung mit diesem Problem finden, so zum Beispiel in der Rede der Simeonsöhne an Jesus (vv. 2793–2828), in der sie sagen:
„[…]
Si han uns bi der e besworn,
die wir begiengen hie bevorn,
und dir do was geneme,
e dan die toufe keme,
[…]“ (vv. 2805–2808)
In ihrer abschließenden Bekehrungsrede an ,die Juden‘ wird vor allem der kultische Aspekt der alten und der neuen e betont, indem die Simeonsöhne die Funktion der Beschneidung bi der alten e der der Taufe bi der nuwen gegenüberstellen.13
Die den Simeonsöhnen in den Mund gelegte relativ positive Einstellung zur alten e, nämlich dass sie Gott gefallen habe, bevor sie durch eine neue Ordnung abgelöst worden sei, findet sich auch im Schlussexkurs, der wörtliche Korrespondenzen zur Rede der Simeonsöhne aufweist. Zur Begründung, dass ,den Juden‘ eine Existenzberechtigung zukäme, heißt es:
Man sal sie han in drucke,
also daz man sie mide
und daz man sie doch lide
durch gezuc14 und durch geleite
der heiligen cristenheite
und durch des alden urhab
testamenti, daz got gab
irem vatere Moysi
uf dem berge Synai,
da er im schreib die zen gebot.
Sintmales irfulde got
die alden mit der nuwen e
und machte ir damite me
und volgete dem alden site
mit des vleisches ummesnite,
und mit der nuwen toufe
nu hat er braht zu houfe
die alden und die nuwen. (vv. 5246–5263)
Das Verhältnis der alten e, deren Gesetzeskomponente wiederum betont ist, zur neuen e wird hier als eines der Erfüllung und Zusammenführung interpretiert. Gleich im Anschluss an den zitierten Text wird ,den Juden‘ (vv. 5264–5293) vorgeworfen, sie richteten sich weder nach der alten noch nach der neuen e, sie müssten sich für eine entscheiden und, falls sie Juden bleiben wollten, von Wucherei und Zinsgeschäften Abstand nehmen, da ,ihr Buch‘ das verbiete.15Neues TestamentPaulusbriefeRm 11,26GörlitzBibl. der Oberlausitzischen Gesellschaft der WissenschaftenCod. A III.1.10 [G] Der Vorwurf, dass ,die Juden‘16 Moses nicht gefolgt seien, begegnet schon in der Scheltrede des Pilatus (vv. 1319–1370), die der im Nikodemusevangelium (cap. VII 3) entspricht. Abgesehen von dieser Quellenbezogenheit ist der Vorwurf aber die logische Konsequenz aus einer antijüdischen Grundhaltung bei gleichzeitiger Hochschätzung der alten e.17Speculum ecclesiae, dt.15. Predigt
Während das Evangelium Nicodemi für die alte e die Rolle Gottes als Gesetzgeber hervorhebt, stellt sich das Verhältnis der neuen e zum göttlichen Recht komplexer dar. Wie die Simeonsöhne erklären (vv. 2817–2821), hat Jesus bei seiner Taufe im Jordan dem Taufwasser die Qualität verliehen, den Tod abzuwaschen, der von Adames ubertrite / uf al die werlt geerbet was (vv. 2820f.). In den folgenden Versen führen sie aus, dass für die Erlösung der Menschheit von der Erbsünde die Taufe und der Kreuzestod Jesu auschlaggebend gewesen seien, der für die Sünden der Menschen gemartert worden sei (vv. 2822–2827). Die enge Verbindung von Kreuzestod, Erlösung und Taufe war schon in der Longinus-Szene präsent (vv. 1848–1855), da dort gesagt wird, dass mit dem aus der Seitenwunde fließenden Wasser und Blut zum Vorteil der Menschheit der Tod abgewaschen worden sei, der von Adames ubertrite / uf al die werlt was geerbet (vv. 1852f.).18 Indem der neue Bund, die neue e, mit der Taufe die Kraft hat, die Erbsünde aufzuheben, erweist er sich als Teil des Erlösungswerks, das im Evangelium Nicodemi als Rechtshandeln GottesHeilsgeschichte und Recht begriffen wird.
Bereits in dem das Werk einleitenden Lehrdialog werden Sündenfall und Erlösung in einen rechtlichen Zusammenhang gestellt, der dann im Verlauf des Werks vor allem in Exkursen und in der Bekehrungsrede Adrians weiter entfaltet wird.19 Den dem ,Schüler‘ in den Mund gelegten bohrenden Fragen, warum Gott den verbotenen Baum ins Paradies gesetzt und warum er den Menschen nicht so stark geschaffen habe, dass er der Versuchung widerstanden hätte (vv. 1–29), begegnet die autoritative Stimme des Textes letztlich mit einem Verweis auf Gottes Unergründlichkeit, auf die man mit Gottvertrauen reagieren müsse (vv. 291–300; 5351–5392).20 Klar ausgearbeitet werden aber die Mechanismen des Heilsgeschehens, die sich grob, wie folgt, skizzieren lassen: Gott hat den Sündenfall vorausgewusst (vv. 20f.). Da er den Menschen aus schwacher Materie geschaffen hat, trägt er eine Mitverantwortung an dessen Fall.21 Daraus erwächst ihm eine Verpflichtung, den Menschen zu erlösen:
Got der muste heilen
von gotlicher ehte
den menschen zu rehte,
wend er von mutwiller kur
also cranc und also mur
von nihte in22GörlitzBibl. der Oberlausitzischen Gesellschaft der WissenschaftenCod. A III.1.10 [G] hiez werden. (vv. 216–221)
Die Wortwahl legt nahe, dass es sich um eine Rechtsverpflichtung handelt,23 wobei deren Bezugspunkt nicht eine gesetzte Rechtsordnung ist, sondern das, was ,recht‘ im Sinne von ,richtig‘, ,angemessen‘ ist.24GörlitzBibl. der Oberlausitzischen Gesellschaft der WissenschaftenCod. A III.1.10 [G] Gott richtet sich nach diesem Prinzip und gehorcht damit einer inneren Notwendigkeit, die seinem Wesen entspricht. Das lässt sich ebenfalls aus der Wortwahl erschließen, denn das in der zitierten Textstelle verwendete Wort müezen drückt in erster Linie ein Sollen aus, keinen Zwang von außen.25
Der ursprüngliche Wille GottesHeilsgeschichte und Recht, das zu tun, was ,recht‘ ist, hat jedoch Konsequenzen, die sein weiteres Handeln bestimmen.26Anselm von CanterburyCur deus homo2,17 Denn Inkarnation und Passion sind, so ist es jedenfalls Adrian in seiner Bekehrungsrede in den Mund gelegt, eine Folge davon, dass Gott seiner Treuepflicht gegenüber den Menschen27 Folge leistet (vv. 4136–4159) und es den elichen ehten Gottes widersprochen hätte, dabei die Rechte der Hölle zu missachten. Voraussetzung für diese Argumentation ist die Vorstellung, dass der Teufel durch den Sündenfall ein Recht auf die Menschheit erworben hat und durch die Inkarnation getäuscht wird:28
Do koufte sie got der gute
uz mit sin selbes blute.29
Anders kund iz niht geschen,
daz het er selbe wol gesen,
do sie sich hete gevalt,
er enwolde dan begen gewalt
wider sinen elichen ehten
an den helleschen knehten. (vv. 4105–4112)30
Offenbar soll jedoch ausdrücklich vermieden werden, dass das Handeln Gottes prädestiniert erscheint. Gerade in Bezug auf Jesus wird im Evangelium Nicodemi betont, dass er vil fri und unbetwungen (v. 1753) den Tod gewählt habe, sodass nicht der Eindruck einer äußeren Notwendigkeit erweckt wird.31 Allerdings wird auch die spannungsvolle Situation, dass die Erlösung der Menschheit nur über ein irdisches (Unrechts)urteil32Heinrich von HeslerApokalypse12884–12898 erreicht werden kann, nicht ausgespart, indem in einem imaginierten Dialog die menschliche Natur Jesu der göttlichenRechtsordnungengöttliches vs. menschliches Recht ihr Leid klagt (vv. 2112–2165). Bereits vorher war zugespitzt der Gedanke formuliert worden (vv. 1658–1669), dass sich Jesus (als Mensch) vor dem Tod fürchte, den er doch (als Gott, so muss man ergänzen) selbst in die Welt gesetzt habe, der menscheit zu rachen, / die sin gebot zubrachen (vv. 1665f.).
Mit rache als Vergeltung von Unrecht ist ein weiteres Rechtsprinzip benannt, nach dem Gott handelt;33 zugleich wird über das Wort gebot seine Rolle als ,Gesetzgeber‘Rechtsordnungengöttliches Recht deutlich.34 Dass es geahndet wird, wenn die Menschen den von Gott erlassenen Regeln nicht folgen, ist für die ursprüngliche Normübertretung beim Sündenfall relevant, wird aber auch das Urteil beim Jüngsten GerichtJüngstes Gericht bestimmen, wenn ‚Klage‘ gegen die Menschen erhoben wird (rede gebende der clage, / die uf sie do wirt getan, vv. 3708f.) und nur die erlöst werden, die sich gottesfürchtig und gut verhalten haben (vv. 180–196; 3705–3712).35
Aus den verschiedenen Textstellen lässt sich erschließen, dass Gott Maßstab und Durchsetzer des rehten ist, nach dem er sich aber zugleich auch selbst ausrichtet. Dass Gott Inbegriff des rehten ist, wird im Evangelium Nicodemi nur auf der Figurenebene (von den Gesandten des Kaisers) in Bezug auf Jesus formuliert, der als des rehten ein reht gesprinc (v. 4273) bezeichnet wird.36 Außerdem eröffnet die Übersetzung von iusto illi (vgl. Mt 27,19Neues TestamentMatthäusevangelium Mt27,19) als den rehten in der Warnung der Procula an Pilatus (v. 922) die Lektüremöglichkeit, dass Jesus nicht nur der ,Gerechte‘, sondern auch der Inbegriff des ,Richtigen‘ und ,Wahrhaften‘ ist.37
Angesichts dieses umfassenden Rechtsbegriffs stellt sich die Frage, ob die hier zum Ausdruck kommenden Vorstellungen von reht überhaupt an juristische Rechtsbegriffe rückzubinden sind. Ohne postulieren zu wollen, dass sich hinter den einzelnen Aussagen ein kohärentes Konzept verbergen muss, kann man doch feststellen, dass die Vorstellung von Gott als Inbegriff des rehten dem Konzept der rectitudo ähnelt, wie es Anselm von CanterburyAnselm von Canterbury entwickelt hat, der rectitudo als Grundlage von veritas und iustitia ansieht.38 In welchem Verhältnis steht dann aber das ,Recht‘ Gottes zu dem der Menschen?39 Das Problem hat – nicht nur bei Anselm – auch eine sprachphilosophische Dimension: Inwiefern sind menschliche Gerechtigkeitsbegriffe überhaupt auf Gott übertragbar?40
Im Evangelium Nicodemi gibt es auf der sprachlichen Ebene zahlreiche Berührungspunkte zwischen der göttlichen und der menschlichen RechtssphäreRechtsordnungengöttliches vs. menschliches Recht, die von einzelnen Wörtern bis zu ganzen Versen reichen. Die Wiederholungen sind nicht nur ein Stilmittel, sondern lassen sich auch als Signale lesen, die dazu auffordern, verschiedene Stellen und so auch göttliches und menschliches Rechtshandeln miteinander zu vergleichen. Zum Beispiel ist der Frau des Pilatus bei der Warnung an ihren Mann das Argument in den Mund gelegt, dass es nicht seinen ehten zieme, den gerehten zu verurteilen (vv. 921f.). Als ehte wird auch der Maßstab Gottes für die rechtskonforme Erlösung der Menschen bzw. seine Verpflichtung gegenüber den helleschen knehten benannt (vv. 217f.; 4111f.). Während Gottes Handlungsmaßstab von innen kommt, kann sich die ehte bei Pilatus auch auf die ihm von außen verliehene Funktion des Richters beziehen. In beiden Fällen soll aber ein gerechter Zustand wiederhergestellt bzw. erhalten werden. Kategoriale Unterschiede im Sprechen über menschliches und göttliches Rechtshandeln sind nicht festzustellen.
Ein vergleichbarer Wortlaut muss jedoch nicht mit inhaltlichen Entsprechungen einhergehen. So wird in einem Exkurs erklärt, der Kreuzestod Christi sei ein Akt des Erbarmens vonseiten Gottes gewesen (vv. 1734–1740). Dieser Akt wird dann näher erläutert:
so schuldic wir doch waren
gewesen zu manigen iaren
und gevallen an daz unreht,
daz er for den schuldigen kneht
den unschuldigen son gab
an daz cruze und an daz grab
und zu der grozen arbeit,
daz was ein gotlich mildicheit. (vv. 1741–1748)
Die Formulierungen korrespondieren mit der Forderung des Pilatus in der Barrabas-Szene „[…] / Hat den schuldigen kneht, / lat den unschuldigen gen.“ (vv. 1300f.), alles andere wäre Unrecht (vv. 1298f.). Der inhaltliche Gegensatz zwischen den beiden Textstellen hebt das Exzeptionelle des Erlösungsgeschehens hervor, lässt aber auch das Paradox, dass die Erlösung durch irdisches Unrecht erreicht wird, deutlich zutage treten. Es ist charakteristisch für das Evangelium Nicodemi, dass der Widerstreit zwischen iustitia und misericordia nirgendwo ausdiskutiert wird.41 Stattdessen sagt der Erzähler im Auslegungsexkurs zu den Worten Jesu am Kreuz dezidiert in der Gegenüberstellung von Gottheit und Menschsein, dass Gottes (subjektives) RechtRechtsordnungenobjektives vs. subjektives Recht irbarmen sei, während den Menschen die Klage bliebe (vv. 2129f.).42
Aus diesem Auslegungsexkurs ist darüber hinaus aber auch zu erschließen, dass göttliches Rechtshandeln und menschliches (Un)RechtshandelnRechtsordnungengöttliches vs. menschliches Recht nicht nur terminologisch, sondern auch kausal in Verbindung stehen: Die Worte Jesu, warum Gott ihn verlassen habe, werden zunächst dahingehend interpretiert, dass Gott ihn der Welt zu urteile überlassen habe, die ihn zum Tode verurteile (vv. 2112–2119). In einer die Interpretation erläuternden hypothetischen Rede des Menschen Jesu an seine göttliche Natur wird die Möglichkeit der Welt zu einem solchen Urteil dann als Konsequenz der nach göttlichem Willen erfolgten ,Verurteilung‘ der Welt gedeutet (vv. 2148–2156), die hier wohl als Begnadigung zu verstehen ist.43 Hinter den Übereinstimmungen auf der Wortebene verbergen sich wiederum inhaltliche Gegensätze; zugleich wird jedoch eine Entsprechung auf der Ebene der rechtlichen Vorgänge nahegelegt: Gott und die Menschen fällen Urteile, wobei Gottes Urteil von Erbarmen geprägt sein kann, auf jeden Fall mit dem ihm eigenen Recht konform ist.
Solche Konvergenzen werden im Schlussteil des Textes inhaltlich unterfüttert, wenn nicht mehr das komplexe Erlösungsgeschehen, sondern die Bestrafung von Unrecht im Vordergrund steht. Die auf die Erzählung von der Verurteilung ,der Juden‘JudenVerurteilung ‚der Juden‘ durch Vespasian folgende Invektive gegen die Juden (vv. 4714–5392) nimmt zwar teilweise den Charakter einer selbstständigen Predigt gegen die KammerknechtschaftJudenKammerknechtschaft an,44 schließt aber klar an den vorhergehenden Text an45 und bildet ein Gegengewicht zum Lehrdialog zu Beginn des Textes. Ging es dort um die ,Notwendigkeit‘ der Erlösung, wird im Schlussteil aus der Erlösung die ,Notwendigkeit‘ zur Bestrafung ,der Juden‘ hergeleitet:
Set daz soldet ir bewarn,
wen daz gerihte uwer ist.
Hat uch geloset Jesus Crist
von den geisten bosen,
so soldet ir in ouch losen
von disen unreinen geisten,
die ime nie truwe leisten
und nimmer neheine wolden.
Iz wirt u al vorgolden
in disem libe unde dort,
gerechet ir niht gotes mort
unde trostet uch der habe,
die si u selben brechen abe. (vv. 4942–4954)
Adressiert sind die Adeligen, die sich zu Herren über andere machen, obwohl doch vor Gott alle Menschen gleich und wegen der Erbsünde erlösungsbedürftig seien (vv. 4856–4919).46Eike von RepgowSachsenspiegelLdr. III42 Aus der von den Herren beanspruchten Vorrangstellung leitet der Sprecher bestimmte Pflichten ab, die mit den Anforderungen des weltlichen SchwertsRechtsordnungenZweischwerterlehre korrespondieren (vv. 4920–4941). Entsprechend wird in den zitierten Versen damit argumentiert, dass ihre Gerichtsgewalt die Herren in die Lage versetze, für den Gottesmord Vergeltung zu üben. In einer infamen Gleichsetzung werden ,die Juden‘ als unreine Geister mit den Teufeln als böse Geister parallelisiert. Gleichzeitig wird den Herren – wie Jesus! – eine Erlösungsmacht zugesprochen. Im weiteren Verlauf der Argumentation werden sie jedoch eher mit Pilatus parallelisiert, wenn es heißt, sie dürften nicht zulassen, dass Jesus vor ihnen so schmählich behandelt würde, wenn sie es doch ändern könnten.47 Voraussetzung für diese Parallelisierung ist die Gleichsetzung der ,jetzt‘ lebenden Juden mit den am Passionsgeschehen beteiligten Juden.48 Sie wird im Rahmen der diskutierten Textstelle mit fortgesetztem gotteslästerlichem Verhalten begründet (die got schulden, die juden, / und noch hute schelden, vv. 4960f.),49StrafeKreuzigung die Kollektivschuld ergibt sich aber auch aus dem im Verlauf des Werkes immer wieder zitierten BlutrufJudenBlutruf (erstmals vv. 1528f.).50 Wenn verlangt wird, die Herren sollten Fehlverhalten ahnden, so entspricht dieses Rechtsprinzip dem des strafenden Gottes. Dass Gottes Verhalten als Vorbild dienen soll, wird in den abschließenden Versen des Textes ausdrücklich gesagt.51
Gottes Handeln soll aber nicht nur Vorbild für das weltliche Rechtshandeln sein, sondern das menschliche und das göttliche Urteil über ,die Juden‘JudenVerurteilung ‚der Juden‘ werden auch in einen chronologischen Zusammenhang gebracht: Die Verurteilung ,der Juden‘ durch Vespasian wird im Schlussteil als Ächtung interpretiert (vv. 5198–5201). Die nachfolgenden Herrscher hätten die Urteile der vorhergehenden gefestigt (vv. 5202–5211). ,Heute‘ seien die Verhältnisse so, dass nur Gott ,die Juden‘ von Acht und Bann befreien könne (daz sie nieman losen mac / von ahte noch von banne, / iz entu got selbe danne, vv. 5214–5216), und zwar dann, wenn der Jüngste TagJüngstes Gericht herannahe. Wer sich dann zum Christentum bekehre, werde mit uns bewahrt (vv. 5212–5225).52JudenBlutrufNeues TestamentLukasevangelium Lc14,23
Dass ,die Juden‘ auch unter Bann stehen, ergibt sich aus den vorangehenden Versen, nach denen jeder, der unredelichen lebet / und dem gelouben widerstrebet (vv. 5193f.), unter ,römischem Bann‘ und der Reichsacht stehe (vv. 5195–5197). Abgesehen davon, dass der Bann als römisch bezeichnet wird, werden keine kirchlichen Autoritäten genannt, und der Bann erscheint hier wie die Acht (die für ,die Juden‘ zusätzlich von Vespasian hergeleitet wird) als eine automatisch auf Fehlverhalten folgende Strafe. Dass der Bann das Seelenheil gefährdet, war bereits an früherer Stelle gesagt worden (vv. 5010–5020). Er wird hier mit einer Verfluchung durch Gott in Verbindung gebracht, die eintritt, wenn gotes reht unrihtet wird (v. 5023). Diese wider Gott gerichtete Verhaltensweise53Heinrich von HeslerErlösung ist in eine Reihe gestellt mit anderen, die auf derselben Ebene liegen: dass man sich denen zugesellt, die den Bann verdienen (v. 5021), dass gegen Gott gekämpft wird (v. 5024), dass die Gedanken nicht auf Gott gerichtet werden (v. 5025). Gottes reht könnte in diesem Zusammenhang subjektivRechtsordnungenobjektives vs. subjektives Recht zu verstehen sein, also das meinen, was Gott in angemessener Weise zukommt. Dazu gehört aber auch gerechtes Verhalten der Menschen, sodass Gottes reht objektiv auch auf eine irdische Rechtsordnung verweisen könnte, die nicht verletzt werden darf. Dass sich jemand, der sich gegen das ‚Rechte‘ wendet, zugleich gegen Gott richtet, klingt auch im Parallelismus der Beschimpfung des Pilatus durch die Römer an „O du gotes widerwarte, / verchviant des rehten, / […]“ (vv. 4348f.).
Ausgearbeitet ist der Gedanke von Gott als Geltungsgrund allen RechtsRechtsbegründung aber nicht. Vielmehr werden nach der Auflistung der gegen Gott gerichteten Verhaltensweisen flankierend aus dem weltlichen Recht Handlungsmaßstäbe für die Herren abgeleitet, die solche Verhaltensweisen vermeiden sollen. Aus der rhetorisch gestellten Frage, ob die Herren die Juden in Frieden leben lassen sollen, die das nicht täten, wenn sie die Übermacht hätten, ergibt sich, dass es um das Zusammenleben im irdischen Bereich geht (vv. 5028–5032). Vor allem solle man sich nicht mit den als unreine diet (v. 5033) bezeichneten Juden gemein machen. Zur Verdeutlichung verweist der Erzähler auf Analogien aus zwei verschiedenen Kontexten:
1 Wenn man kranke mit gesunden Pferden zusammen in einen Stall stelle, würden alle krank; genauso ansteckend sei der nit der Juden (vv. 5035–5041).54 Diese aus der Praxiserfahrung abgeleitete These wird durch den Hinweis auf Worte des Psalmisten David bestätigt und überhöht (vv. 5042–5049). Er habe gesagt: „Mit den heiligen wirdestu heilic / und wirdes in ebenteilic, / mit den vorkarten vorkart.“ (vv. 5045–5047)55Altes TestamentPs17[18],26 Aus einem weiteren Halbvers des zitierten Psalms („Mit den unschuldigen unschuldic“, v. 5049) wird dann umgekehrt abgeleitet, dass die Herren schuldig würden – mit entsprechenden Konsequenzen beim Jüngsten GerichtJüngstes Gericht, wenn sie, die als Vertreter Gottes fungieren sollten, ihn nicht verteidigten oder wenigstens die Feinde Gottes (,die Juden‘ und ihre Kinder) mieden (vv. 5050–5060).
2 Wenn einer einen Dieb verstecke, verdiene er dieselbe Strafe wie dieser; er sei genauso schuldig wie derjenige, der stiehlt (vv. 5061–5068).
Der zuletzt genannte Rechtsgrundsatz wird als ein alt erteilet reht (v. 5062) eingeführt, also als ein Prinzip, das durch wiederholte Urteile zur RechtsgewohnheitRechtsordnungengesetztes Recht vs. Gewohnheitsrecht56 geworden ist. Tatsächlich werden in verschiedenen deutschrechtlichen Quellen Täter und Begünstigter gleichgestellt.57FreidankBescheidenheit46,23f.Eike von RepgowSachsenspiegelLdr. II13,6Heinrich von HeslerApokalypse2961–2964 Der Vergleichsbereich des Strafrechts wird dann noch dazu genutzt, um auszuführen, dass, wenn Diebe und Räuber nicht versteckt, sondern konsequent bestraft würden,58Eike von RepgowSachsenspiegelLdr. II13,1Eike von RepgowSachsenspiegelLdr. II13,5 sie von ihren Verbrechen abließen (vv. 5069–5078).59FreidankBescheidenheit46,23f.FreidankBescheidenheit46,25–47,1FreidankBescheidenheit48,5–8 Das gelte analog auch für ,die Juden‘, deren Wucher als Diebstahl zu betrachten sei: Sie seien nur mutig, wenn man ihnen keinen Widerstand leiste (vv. 5079–5132).60
Die Anhäufung verschiedenster Argumente dafür, warum man ,die Juden‘ in drucke (v. 5246) halten solle, zeugt vom agitatorischen Charakter61 des Schlussteils des Evangelium Nicodemi.62 Die Kompilation der Argumente vermittelt aber auch den Eindruck, dass die verschiedenen Rechtszusammenhänge (bis auf die e der Juden und die der Christen) nicht in einem konkurrierenden Verhältnis zu sehen sind: Was ,richtig‘ ist, kann aus dem rechtlichen Prinzipien folgenden Heilsgeschehen ebenso begründet werden wie aus zeitgenössischen RechtsgewohnheitenJudenJudenrecht (und dessen Herleitung). Die Verantwortung für die Durchsetzung dessen, was der Erzähler im menschlichen Leben als ‚richtig‘ betrachtet, und die Ahndung bei Zuwiderhandeln sieht er in den Händen der irdischen Obrigkeit, die ihre Macht von Gott hat und ihn auf Erden vertritt, und er erwartet letztlich einen endgültigen Vollzug des ‚Richtigen‘ in der Gerichtsbarkeit Gottes am Jüngsten TagJüngstes Gericht.