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5 Externe Bezugsfelder von Diu urstende, Christi Hort und dem Evangelium Nicodemi

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Referenzen auf die zeitgenössische Erfahrungswirklichkeit beschränken sich in den Kerntexten nicht auf materielle Realien – das hat schon die Analyse damit verbundener Scripts gezeigt –, doch kann die Aktualisierung von Realien gegenüber einem Prätext ein Indiz für eine umfassendere kulturelle Aneignung sein, die auf dieser Basis für den modernen Interpreten eines mittelalterlichen Textes einigermaßen sicher greifbar wird. Referenzen auf immaterielle externe Bezugsfelder sind in den Kerntexten allerdings auch für Stellen zu vermuten, an denen solche Indizien nicht vorhanden sind. Sie dürften für Rezipienten der Texte zu deren Entstehungszeit erkennbar und unter Umständen in der Textkonzeption als sinnstiftende Elemente mit einkalkuliert gewesen sein.

Die Bestimmung und Rekonstruktion wesentlicher Bezugsfelder gestaltet sich jedoch schwierig: Schon bei Theoriemodellen, mit denen die Rezeption von Erzähltexten unter der Annahme eines ähnlichen kulturellen Umfeldes von Verfasser und Rezipient beschrieben werden soll, ergibt sich das Problem, welche Ausschnitte der Erfahrungswirklichkeit für die Interpretation eines Textes als relevant anzunehmen sind.1 Wie sich bei Texten aus einer dem Interpreten historisch fremd gewordenen Kultur die Probleme multiplizieren, ist vor allem in Überlegungen einer rezeptionsgeschichtlich ausgerichteten Hermeneutik diskutiert worden, wobei sich die Überlegungen von Hans Robert Jauß bis heute als besonders einflussreich erweisen.2 Zwar werden seine Thesen in der neueren Forschungsdiskussion überwiegend kritisch beurteilt,3 die fortwährende Auseinandersetzung damit zeigt aber zugleich, dass sein Verstehensmodell für historische Texte zentrale Punkte berührt. So scheint die Frage nach dem Erwartungshorizont von Rezipienten zur Entstehungszeit eines Textes nach wie vor berechtigt, auch wenn eine Rekonstruktion dieses Horizonts, wie sie Jauß für durchführbar hielt,4 heute als unmöglich angesehen wird, da schon kulturspezifische Wahrnehmungsmuster nicht einholbar sind.5 Über eine Kontextanalyse oder mithilfe von Methoden der Historischen Semantik kann jedoch wenigstens insoweit eine Annäherung an intersubjektive Wissensbestände erreicht werden, als Sinnmuster sichtbar werden, die sich einem modernen Rezipienten nicht unmittelbar erschließen:6 Das betrifft sowohl erzählerische Konventionen mit ihren Implikationen als auch die inhaltliche Positionierung von Texten in bestimmten Diskursfeldern.

Um dem letztgenannten Punkt näherzukommen, werden im Folgenden einige thematische Bereiche, die für die Kerntexte zentral sind, näher erkundet. Die Untersuchung von Kontexten erhebt dabei nicht den Anspruch, die Rezeptionsbedingungen rekonstruieren zu wollen, sondern soll den Blick für zeitgenössische Problemstellungen schärfen, die auch in den literarischen Texten verhandelt werden.7 In modifizierter Form kommt das Jauß’sche Modell von Frage und Antwort zur Anwendung, nach dem eine Rekonstruktion des historischen Erwartungshorizonts es dem Interpreten ermögliche, die „Fragen zu stellen, auf die der Text eine Antwort gab“.8 Zu Recht ist eingewandt worden, dass die Annahme, literarische Texte gäben Antworten, ihrem Wesen nicht gerecht werde.9 Doch hat sich damit die Rekonstruktion von Fragen, mit denen sich literarische Texte auseinandersetzen, noch nicht erledigt.10 Im Prinzip verfahren kulturwissenschaftliche Analysen ähnlich, wenn etwa herausgearbeitet wird, wie „die literarischen Entwürfe […] ›Verhandlungen‹ und reflexive Stellungnahmen unterschiedlichster Komplexität“ inszenieren.11 Solche reflexiven Stellungnahmen können auf der Diskursebene ansetzen, sie können sich aber auch – thematisch enger gefasst – auf eine Ebene beziehen, die hier behelfsmäßig mit ,Problemkreis‘ bezeichnet werden soll.12

Orientierung für die Auswahl der zu erschließenden kontextuellen Felder sind die in Kapitel 3 herausgearbeiteten thematischen Linien zu geriht, wârheit, reht und ê, wobei eine die Ergebnisse der Textanalyse aufnehmende Zuspitzung auf die Fragen nach der Verantwortung des Richters, der Bedeutung von Zeugenschaft und der göttlichen Legitimation des Rechts erfolgt. Da sich der kulturelle Kontext heute nur noch in Texten im engeren Sinne13 fassen lässt, werden zu Beginn der folgenden Abschnitte jeweils diskursive Schlüsseltexte untersucht, in denen sich Aspekte bündeln, die in der thematischen Analyse als relevant erkannt worden sind. Ausgehend von einer weiteren Kontextualisierung der in den Schlüsseltexten fassbaren Problemkreise wird der Blick – in einer bewusst zirkulären Bewegung – dann wieder auf die Kerntexte gelenkt, um deren Referenz auf diese Problemkreise genauer zu bestimmen. Dass es nicht um eine Abhängigkeit der Erzähltexte von den herangezogenen Schlüsseltexten geht, zeigt schon die Chronologie: Die GlosseBuch’sche GlosseJohannes von Buch des Johannes von BuchJohannes von BuchGlosse zum Sachsenspiegel-Landrecht ist zeitlich nach allen Kerntexten anzusiedeln, die Legenda aureaJacobus a (de) VoragineLegenda aurea undLegenda aureaJacobus a (de) Voragine der SchwabenspiegelSchwabenspiegel zumindest nach der Abfassung von Diu urstende. Gemeinsam ist den ausgewählten Texten aber eine gewisse Nähe zur überwiegend volkssprachigen ,Laienkultur‘,14 d.h., die Problemkreise werden darin in einer Sphäre greifbar, der auch die Kerntexte zuzuordnen sind.

Jesus und das Landrecht

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