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1. Urteilsarrest

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Jugendarrest setzt zunächst allgemein eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Tat eines jungen Menschen voraus. Bei Jugendlichen muss also die strafrechtliche Verantwortlichkeit nach § 3 S. 1 positiv festgestellt werden. Weitere Voraussetzungen sind, dass Jugendstrafe nicht geboten ist (§ 13 Abs. 1) und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird. Schädliche Neigungen und Schwere der Schuld schließen die Verhängung von Jugendarrest jedoch nicht aus, wie eine gesetzessystematische Interpretation beweist. Aus § 27 ergibt sich z.B., dass die in § 17 Abs. 2 genannten schädlichen Neigungen einen besonderen Umfang erreicht haben müssen. Entsprechend ist auch hinsichtlich der Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2) ein besonderer Schweregrad erforderlich. Diese Interpretation führt dazu, dass der Jugendarrest zukünftig wesentlich stärker als Alternative zur Jugendstrafe zu nutzen ist. Die sog. innere Reform durch die Praxis und ihre Anerkennung, Absicherung und vorsichtige Weiterentwicklung durch das 1. JGGÄndG müssten zu einer Verschiebung des gesamten Sanktionsspektrums führen. Ausdrückliches Ziel des 1. JGGÄndG ist die weitgehende Ersetzung der rückfallerhöhenden und entwicklungsgefährdenden stationären Sanktionen (vgl. auch die Bremer Längsschnittstudie Prein/Schumann 2003, S. 204 ff.) durch neue ambulante Maßnahmen. Bei den verbleibenden stationären Sanktionen ist eine Haftverkürzung anzustreben, so dass der Jugendarrest als der kürzere Freiheitsentzug möglichst an die Stelle der längeren Jugendstrafe treten sollte.

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Voraussetzung ist, dass die Verhängung von Jugendarrest notwendig (Böhm/Feuerhelm S. 210), als Reaktion auf das Tatunrecht und als Mittel, weitere Taten dieses jungen Menschen zu verhindern, erforderlich, aber auch ausreichend ist (Schaffstein/Beulke/Swoboda S. 160). Der BGH hat versucht, für die Verhängung von Jugendarrest tat- und täterorientierte Kriterien zu finden, und dabei in Anlehnung an Peters „Verfehlungen aus Unachtsamkeit, jugendlichem Kraftgefühl oder Übermut, aus typisch jugendlichen Neigungen und jugendlichem Vorwärtsstreben, jugendlicher Trotzhaltung, jugendlicher Abenteuerlust, mangelnder Selbstständigkeit sowie Gelegenheits- und Augenblicksverfehlungen“ genannt (BGHSt 18, 210). Angesichts des Ausbaus von Diversionsstrategien dürften diese Delikte heute fast ausnahmslos informell erledigt werden. Die Aufzählung wird jedenfalls nicht mehr dem veränderten Standort des Jugendarrestes in einem veränderten Sanktionsspektrum gerecht.

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Weitgehend überholt ist auch die Zielbeschreibung eines „kurzen und harten Zugriffs, der das Ehrgefühl anspricht und für die Zukunft eine eindringliche Warnung ist“, wobei der Jugendarrest „durch seine Einmaligkeit und seine Kürze wirken und durch diesen eindringlichen und fühlbaren Ordnungsruf den Jugendlichen davor schützen soll, auf dem erstmalig eingeschlagenen Weg fortzufahren“ (BGHSt 18, 209; vgl. auch die problematische, weil zu stark auf Formalgehorsam abstellende Entscheidung BVerfGE 32, 40).

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Die bis zum 31.7.1994 gültige Nr. 1 RiJGG zu § 16 nannte als Zielgruppe gutgeartete Jugendliche mit nicht allzu schweren Straftaten. Gutgeartet steht im Kontrast zu „bösgeartet“, „entartet“ und „minderwertig“, wodurch gleichzeitig die nationalsozialistische Herkunft des Jugendarrestes durch die Verordnung zur Ergänzung des Jugendstrafrechts vom 4.10.1940 und durch das RJGG vom 6.11.1943 deutlich wird. Durch die nationalsozialistische Ideologie wurde der Erziehungsgedanke zur scharfen Disziplinierung vergröbert (Wolff Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1991, 41, 51 und Jugendliche vor Gericht im Dritten Reich, 1992, 127 ff.; vgl. Pieplow Die Einführung des Jugendarrestes in Deutschland – Kontnuität oder Zäsur?, ZJJ 2014, 108-113). Die Strategie der „kurzen, quälenden Einschüchterung“ (Gerken/Schumann (Hrsg.), Ein trojanisches Pferd im Rechtsstaat, 1988, S. 141) ist in der Bundesrepublik mit dem Jugendarrest weiterhin verfolgt worden. Der Gesetzgeber des 1. JGGÄndG stellt fest, dass dieses Konzept – gemessen an der hohen Rückfallquote von knapp 70 % gegenüber 58 % bei den Betreuungsweisungen (Schumann (Hrsg.), Jugendarrest und/oder Betreuungsweisung, 1985; Jehle/Heinz/Sutterer 123; Schumann Der Jugendarrest – Zuchtmittel für jeden Zweck? mit Kommentar des Autors nach 28 Jahren, ZJJ 2014, 142-151) – erzieherisch wenig wirksam ist. Gerade bei den besonders gefährdeten jungen Menschen verschlechtere sich ihr ohnehin negatives Selbstbild im Arrest nur noch weiter (BT-Drucks. 11/5829, 19 unter Hinweis auf Pfeiffer MschrKrim 1981, 28). Die veränderten §§ 16 und 90 sollen deswegen zusätzliche Benachteiligungen verhindern und anstelle bloßer Einschließung eine Hilfe zur Bewältigung von Schwierigkeiten durch Betreuung und Problemaufarbeitung ermöglichen; vgl. Thiel Jugendengagement im Jugendarrest, ZJJ 2014, 380-383. Zutreffend sieht der Gesetzgeber die Defizite weniger im erzieherischen, sondern viel stärker im sozialen Bereich. Auch deshalb sollte die historisch belastete Bezeichnung „Arrest“ durch „stationäres soziales Training“ ersetzt werden (so die von Ostendorf geleitete Fachkommission Jugendarrest/Stationäres soziales Training in ihren Mindeststandards zum Jugendarrestvollzug, ZRP 2010, 20 = FS 2009, 333 = ZJJ 2009, 275-278.

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Empirische Befunde zeigen, dass die sozialen Belastungsfaktoren bei den Arrestanten niedriges Bildungsniveau, Ausbildungsabbruch, Arbeitslosigkeit, Schulden, frühere Heim- bzw. Fürsorgeerziehung, Desintegrationslagen, Ausländerstatus und Suchtprobleme sind (Maelicke Ambulante Alternativen zum Jugendarrest und Jugendstrafvollzug, 1988; Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen (Hrsg.), Jugendarrest im Lande Bremen, 1989; Kobes/Pohlmann ZJJ 2003, 374). Nach der Untersuchung von Pfeiffer und Strobl DVJJ-J 1991, 44 haben diese Merkmale für die Verurteilung zu Jugendarrest eine wesentlich größere Bedeutung als die Schwere des Delikts oder die Zahl der Vorverurteilungen.

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Bei den Delikten lagen im Jahre 2012 Körperverletzungsdelikte und Diebstahl mit zusammen 56 % wie schon im Jahre 2006 Körperverletzungsdelikte mit rund 32% an erster Stelle (6 650 von 20 756; § 223 StGB (Körperverletzung) = 2 495, § 224 StGB (gefährliche Körperverletzung) = 4 096), gefolgt von Diebstahl und Unterschlagung (5 943) sowie von Betrug und Untreue (1 459). Erst danach folgen Raub und Erpressung mit 1 233 Jugendarresten. 1989 sah die Reihenfolge noch anders aus: Verbrechen waren mit 3,0 %, schwere Vergehen (schwerer Diebstahl, gefährliche Körperverletzung und Trunkenheit im Straßenverkehr mit Unfall) mit 33,5 % und alle anderen, leichteren Vergehen mit 63,5 % beteiligt (Pfeiffer/Strobl DVJJ-J 1991, 42). 51 % der 1989 Verurteilten waren Heranwachsende, 33 % 16 bis 17-Jährige und 16 % 14 bis 15-Jährige. 41 % der Jugendlichen und Heranwachsenden wiesen keine Vorverurteilungen auf (2006 = 40 %; vorverurteilt waren 42,8 % ohne und 17,2 % mit Freiheitsentzug – darunter 14,6 % schon einmal mit Jugendarrest). Bei einer Gegenüberstellung fällt auf, dass junge Ausländer, die wegen eines einfachen Diebstahls oder einer Unterschlagung angeklagt wurden und keine frühere Verurteilung aufwiesen, ein mehr als dreimal so großes Risiko haben, zu Dauerarrest verurteilt zu werden (Pfeiffer/Strobl DVJJ-J 1991, 43, für aktuellere Zahlen vgl. Schott ZJJ 2004, 388 f.). Bei Raubtaten ist dagegen das Risiko der jungen Ausländer ohne frühere Verurteilung sowohl beim Dauerarrest als auch bei der Jugendstrafe ohne Bewährung niedriger als bei jungen Deutschen. Bei allen statistischen Angaben ist zu unterscheiden zwischen der Verhängung des Arrestes und seiner Vollstreckung. Gerade bei jungen Ausländern wird Dauerarrest durch die Berücksichtigung von Untersuchungshaft oder Unterbringung gem. § 52 häufig nicht mehr vollstreckt (Herrlinger DVJJ-J 1991, 156). Im Jahre 2008 sind 92,5 % aller stationären Sanktionen durch Urteil verhängter Jugendarrest, zu gleichen Teilen als Dauer- und Freizeitarrest, wohingegen der Kurzarrest bedeutungslos bleibt (Heinz Sanktionensystem, S. 95 f.).

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Die Daten zur Deliktsschwere mit dem deutlichen Übergewicht leichter Straftaten zeigen, wie notwendig es ist, den Standort des Jugendarrestes im Rechtsfolgensystem neu zu bestimmen. Die Änderungen in den §§ 16 und 90 haben Konsequenzen für die Anordnungsvoraussetzungen, die sich eher negativ umschreiben lassen. Unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit ist Jugendarrest bei leichten Taten und erst recht bei Bagatellkriminalität nicht die angemessene Sanktionsform. Der Anwendungsbereich geht über den mittleren Schweregrad hinaus. Der neue Standort ist hart an der Grenze zur Jugendstrafe. Aus dieser Standortbestimmung ergibt sich eigentlich zugleich die Unzulässigkeit der Verbindung von Jugendarrest mit Jugendstrafe, deren Verhängung nach § 27 (BVerfG ZJJ 2005, 73; BayObLG NStZ- RR 1998, 377) bzw. Vollstreckung nach § 21 zur Bewährung ausgesetzt ist (jetzt aber §§ 8 Abs. 2 S. 2, 16a). Dagegen ist die Verbindung von Jugendarrest mit einer Betreuungsweisung zulässig (BT-Drucks. 11/5829, 38) und sinnvoll, wenn es darum geht, eine Jugendstrafe zu verhindern. Zu warnen ist aber vor vielfältig gemischten „Sanktions-Cocktails“ (Reinecke DVJJ-J 1994, 194 mit einem Beispiel aus der Berliner Praxis: Dauerarrest + sozialer Trainingskurs + Verkehrsunterricht + großer Erste-Hilfe-Kurs + Aufsicht und Leitung durch einen hauptamtlichen Bewährungshelfer gem. § 10). Zur Einschätzung von Koppelungsmöglichkeiten mit neuen ambulanten Maßnahmen, Dünkel/Geng/Kirstein NK 1999, 43.

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