Читать книгу Jugendgerichtsgesetz - Herbert Diemer - Страница 286

II. Grundlagen

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Das Jugendkriminalrecht unterliegt im Hinblick auf das in § 2 Abs. 1 verankerte Ziel, erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenzuwirken einer beständigen Überprüfung der Wirksamkeit seiner Reaktions- und Sanktionsmöglichkeiten. Der Gesetzgeber (BT-Drucks. 17/9389; BGBl I 2012, S. 1854) sieht in der bisher ausgeschlossenen Koppelung der Verhängung eines Jugendarrestes neben einer Bewährungsstrafe eine unter erzieherischen Gesichtspunkten sinnvolle Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten. § 16a versteht sich als Konkretisierung der allgemeinen Vorschrift des § 2 Abs. 1 mit dem Ziel, durch den Arrest „eine möglichst erfolgreiche Bewältigung der Bewährungszeit“ zu erreichen. Die Bezeichnung dieses Arrestes als Warnschuss-, Warn- oder Einstiegsarrest wird den unterschiedlichen, konkret benannten Voraussetzungen insgesamt nicht gerecht und sollte deswegen vermieden oder allenfalls als Koppelungsarrest bezeichnet werden.

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Rechtspolitisch war und ist der Jugendarrest neben Jugendstrafe heftig umstritten. Von der Wissenschaft weitgehend abgelehnt und von der Praxis auch nur in Teilen befürwortet, bestehen Zweifel an der Existenzberechtigung, zumal der Gesetzgeber die Erreichung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten wirkungsorientiert vornehmen wollte, d.h. auf kriminologischer und empirischer Grundlage. Nach dem sog. Sherman-Report, das ist ein Gutachten über die Effektivität aller vom US-Department of Justice finanzierten Präventionsprogramme, erweisen sich kombinierte stationär/ambulante Sanktionsprogramme (zwar Bewährung, aber zuvor kurzzeitiges Einsperren) als unwirksam (Sherman et al. „Preventing Crime. What Works, What Doesn‚t, What‚s Promising“, 1997; dazu Bannenberg/Rössner ZJJ 2003, 111 und Plewig ZJJ 2003, 108 und Breymann/Sonnen NStZ 2005, 669, 672). Hinzu kommt, dass der Jugendarrest die zweithöchste Rückfallquote nach der Jugendstrafe ohne Bewährung aufweist, höher als die Jugendstrafe mit Bewährung. Eine günstigere Präventivwirkung durch den Koppelungsarrest kann daher nicht erwartet werden.

Quellen: Jehle/Heinz/Sutterer 2003, 57; Jehle/Albrecht/Hohmann-Fricke/Tetal 2010, 61; 2013, 16; 2016, 62.

Jugendstrafe ohne Bewährung Jugendarrest Jugendstrafe mit Bewährung insgesamt
1994–1998 (4 J.) 77,8 % 70,0 % 59,6 % 45,3 %
2004–2007 (3 J.) 68,6 % 64,0 % 61,9 % 41,0 %
2004–2010 (6 J.) 80,4 % 75,5 % 74,8 % 51,8 %
2010-2013 64,5 % 63,7 % 61,4 %

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Angesichts der anhaltenden Diskussionen um den Koppelungsarrest (vgl. nur Kinzig/Schnierle JuS 2014, 210; Kreuzer ZRP 2012, 101 und Ostendorf ZIS 2012, 608 einerseits und Müller-Piepenkötter/Kubink ZRP 2008, 176; Werwigk/Hertneck/Rebmann ZRP 2003, 225 andererseits ist es sehr zu begrüßen, dass das Bundesministerium der Justiz schon im Mai 2013 eine Evaluationsstudie zum erst seit dem 7.3.2013 geltenden § 16a ausgeschrieben und an das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) in Kooperation mit der Universität Kassel vergeben hat. Zwar wird eine umfassende echte Wirkungsevaluation noch nicht erwartet werden können, doch lässt die Skizze der empirischen Studie (Hagl/Bartsch/Baier/Höynck/Pfeiffer ZJJ 2014, 263) wichtige Erkenntnisse zu Anwendungshäufigkeit und Unterschieden in der praktischen Anwendung, zur Einstellung von Praktikern und Praktikerinnen aus Justiz, Bewährungs- und Jugendgerichtshilfe erwarten, aber auch zu möglichen Veränderungen im Sanktionsspektrum (weniger Jugendstrafen und weniger Untersuchungshaft?). Letztlich geht es um die erhöhte Normakzeptanz der betroffenen Jugendlichen und Heranwachsenden und deren mögliche Verhaltensänderungen sowie schließlich um die Rückfallwahrscheinlichkeit.

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Der 2016 vorgelegte Abschlussbericht zur Evaluation des Jugendarrestes neben zur Bewährung ausgesetzter Jugendstrafe kommt zu dem Ergebnis, dass sich weder die Befürchtungen der Kritiker und Kritikerinnen des Koppelungsarrestes noch die Hoffnungen der Befürworterinnen erfüllt haben (Klatt/Ernst/Höynck u.a. 2016, 217 und ZJJ 2016, 354, 361). Der § 16a-Arrest wird zurückhaltend, aber regional sehr unterschiedlich genutzt. Bundesweit beträgt die Anzahl dieser Arreste pro 100000=16,7 mit Unterschieden in Rheinland-Pfalz 27,4, Bayern 25,4, Nordrhein-Westfalen 19,3 und andererseits Schleswig-Holstein 3,8, Bremen 4,4 und Brandenburg 6,6. Der Koppelungsarrest führt nicht zur Zurückdrängung freiheitsentziehender Sanktionen, Jugendstrafe mit Bewährung ohne Arrest und mit Arrest unterscheiden sich in der Zielgruppe kaum und eine Auseinandersetzung mit den konkreten Voraussetzungen findet in den schriftlichen Urteilsgründen regelmäßig nicht statt. In 44,6 % der Akten finden sich keine Angaben zu den Fallvariablen, im Übrigen spielt der Verdeutlichungsarrest (Nr. 1) mit 26,3 %, der Herausnahmearrest mit 3,8% (Nr. 2) und der Bewährungsvorbereitungsarrest (Nr. 3) mit 32,9 % eine Rolle. Angesichts einer sich nur leicht andeutenden Tendenz zu verbesserten Legalbewährungschancen bedarf es längerer Beobachtungszeiträume – ein Ergebnis, zu dem auch die Komplettauswertung zu allen bayerischen Jugendarrestanstalten im Zeitraum von April 2015 bis März 2016 (Endres/Lauchs 2018), ebenso wie das Augsburger Forschungsprojekt mit einer Aktenanalyse aller Verurteilungen zu § 16a im Zeitraum von März 2013 bis zum Dezember 2014 in Bayern kommt (Schmidt 2019).

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Erste praktische Entscheidungen in der Zeit vom März bis Juli 2013 zeigen Unterschiede in der Anwendungshäufigkeit in den einzelnen Bundesländern. Von den bundesweit knapp 70 Verurteilungen entfielen 28 auf Bayern, 24 auf Nordrhein-Westfahlen, 6 auf Rheinland-Pfalz, je 2 auf Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Sachsen-Anhalt. Weitere Angaben fehlten (FS 2013, 267; Gernbeck/Höffler/Verrel NK 2013, 307, 310). Im ersten Jahr der Geltung wurde der Koppelungsarrest über 700 Mal verhängt, ein Viertel davon in Bayern. Bei jährlich ca. 8 500 Jugendstrafen zur Bewährung dürften also etwa 5 % mit einem § 16a-Arrest verbunden werden (Dünkel RdJB 3/2014: „Angesichts der engen Anwendungsvoraussetzungen des § 16a eine exzessive Anwendungspraxis“).

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Für 2017 verzeichnet die Strafverfolgungsstatistik unter den 10 072 zu Arrest verurteilten 646 als Koppelungsarrest, darunter 242 in Bayern und 3 in Berlin sowie je einer in Hamburg und Bremen. Von 2013 bis 2017 entfielen mit 907 von bundesweit 2776 Verurteilungen rund ein Drittel auf Bayern, eine Tatsache, die für den kriminologischen Dienst des bayerischen Justizvollzugs der Anlass für die Komplettuntersuchung zu allen bayerischen Jugendarrestanstalten war. Im Ergebnis wird ein dringender Forschungsbedarf hinsichtlich der Wirksamkeit mit einer differenzierten Betrachtungsweise, für wen diese Sanktion unter welchen Bedingungen geeignet ist und für wen nicht. Jede im Jugendarrest angebotene Maßnahme sollte sich an den von Andrews und Bonta (The Psychology of Criminal Conduct, 2010) aufgestellten Wirksamkeitsprinzipien, Bedarfs-, Ansprechbarkeits- und Risikoprinzip orientieren, um zu überprüfen, inwieweit der Koppelungsarrest mit einer erhöhten Rückfallrate einhergeht. Damit der § 16a-Arrest (mit einer Rückfallquote von 54% im Zeitraum von 2 Jahren in Bayern und nicht nur dort zu einer Art „Vorstufe“ zum Jugendstrafvollzug wird, bedarf es einer Stärkung der Gebotenheitsprüfung und der entsprechenden Begründungsanforderungen (Schmidt NK 2019, 74, 90).

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