Читать книгу Unter Käfern und Schlangen - Hermine Stampa-Rabe - Страница 25
Mein guardian angel (Schutzengel)
ОглавлениеUm 5.00 Uhr hält es mich nicht mehr in meinem Schlafsack. Und um 7.00 Uhr starte ich bei leichtem Wind und wolkenlosem Himmel. Aber als ich die Tür öffne, strömt mir eisig kalte Luft entgegen. Deshalb fische ich mir aus meinen Packtaschen meine Winter-Fahrrad-Garderobe. Was für ein Glück, dass ich mir auch Fahrradhandschuhe mit langen Fingern mitgebracht habe. Der kalte Wind bläst mir ins Gesicht.
Für heute habe ich mich auf einen steilen Daueraufstieg vorbereitet. Es geht hoch nach Silver City: 2.200 Höhenmeter. Ich bin müde, weil ich kaum geschlafen habe. Lust will einfach nicht aufkommen. Ich bin ca. 24 km gefahren, als von hinten ein Pick-up-Auto angefahren kommt, neben mir in meiner Geschwindigkeit fährt und ich gefragt werde, ob ich im Auto mit nach Silver City genommen werden möchte. Und ob ich möchte! Das Auto fährt vor mir rechts auf den Seitenstreifen. Ich hieve alles selbst einzeln hinten auf die Ladefläche. Der Fahrer bleibt im Führerhaus und schaut durch die Rückscheibe zu mir. Im Nu ist alles auf das Auto geladen und ich darf einsteigen und auf dem Nebensitz Platz nehmen.
Und wer sitzt am Steuer? Der nette und freundliche Mann, der mich gestern Abend im Rollstuhl beim Essen besuchte. Er strahlt, als er merkt, dass er mir damit eine Freude macht! Durch das Rückfenster sieht er, dass die rückwärtige Klappe auf der rechten Seite nicht richtig eingerastet ist. Ich steige gleich wieder aus dem Auto. Und er kommt hinterher. Und wie?
Sein Rollstuhl steht zusammengeklappt vorne im Führerhaus. Den lässt er mit dem rechten Arm fast hinunter auf die Erde gleiten. Mit den Fußklappen hakt er ihn am Führerhaus außen fest, klappt die Fußrasten richtig in die Mitte und lässt den Rollstuhl ganz hinunter. Dann klappt er ihn auseinander – alles von oben aus dem Führerhaus – und lässt ein weiches, dickes Kissen auf die Sitzfläche fallen. Und dann lässt er sich gekonnt und sicher mit seinem Oberkörper in den Rollstuhl gleiten. Dabei hält er sich mit der rechten Hand an einem Griff an der Innenfläche der offenen Tür fest und mit der linken Hand stützt er sich auf dem Beifahrersitz ab. Seine beiden Beine befinden sich dabei noch im Führerhaus. Die holt er sich mit der Hand hinunter. Und dann rollt er zur Rückfront seines Pick-up-Autos, zeigt mir, was da nicht stimmt und hilft mir dabei, alles richtig einrasten zu lassen. Hinterher bugsiert er sich und anschließend seinen Rollstuhl wieder hinauf in das Führerhaus.
Ich bin von ihm begeistert. Mit welcher Kraft und Energie er das alles vollbringt! Und dabei lächelt er immer. Schon gestern fiel mir seine positive Ausstrahlung auf. Wir unterhalten uns während der Fahrt. Seine Augen strahlen Sonnenschein und Intelligenz aus. Ich bewundere ihn sehr und frage ihn, was passiert sei, dass seine Beine nicht mehr ihren Dienst tun können. Da erzählt er mir, dass dieses vor 24 Jahren bei einem Auto-Unfall passiert ist. Aber er jammert nicht, sondern meistert sein Schicksal ausgezeichnet.
Auf diese Weise vergeht die Zeit wie im Fluge und wir sind oben in Silver City gelandet. Auf meinen Wunsch hin fährt er mich zur Bibliothek. Dort lasse ich mir von ihm seine Adresse geben und möchte mit ihm in schriftlichem Kontakt bleiben.
In der Bibliothek lese und beantworte ich meine Emails. Das dauert ca. eine ganze Stunde. So ganz in Gedanken versunken, sehe ich zum Fenster. Bis vorhin schien die Sonne. Aber was sehe ich durch das Fenster? Draußen jagen Hagel- und Schneeschauer horizontal dahin. Ein Blizzard! Und ich muss in diesem eisigen Winterwetter eine Übernachtungsmöglichkeit suchen. Ein Schlafen auf dem Campingplatz ist hier oben völlig ausgeschlossen.
So mache ich mich auf die Suche nach einem Motel. Der Regen, der vor oder mit dem Hagel heruntergekommen ist, lässt Sturzbäche mit einer Breite von einem Meter am Straßenrand dahinströmen. Der Sturm ist mir zu stark. Ich schiebe mein Rad. Dieses Wetter entmutigt mich. Ein sehr starker Autoverkehr rauscht durch die Straßen. Wie ein Wink des Himmels sehe ich ein Lokal. Dort möchte ich mich hineinsetzen, um mich wieder aufzuwärmen. Deshalb bestelle ich mir einen ganz großen Becher mit heißer Trinkschokolade. Leider wird hier nach einer halben Stunde geschlossen. So muss ich notgedrungen an der (180 Ost) ein Motel suchen und finde es auch nach einiger Zeit.
Ich erhalte ein schönes, warmes und großes Zimmer. Meine Wäsche hängt bald zum Trocknen auf der Leine. Das Wetter hat sich beruhigt. Aber es bleibt eisig kalt. Die Sonne scheint. Im Supermarkt, der schräg gegenüber steht, kaufe ich noch für heute Abend ein. Das Frühstück ist schon im Preis des Motelzimmers mit inbegriffen.
Ach ja, ich vergaß ganz zu erzählen, dass ich mit meiner Telefonkarte jetzt telefonieren kann. Die nette und hilfsbereite Empfangsdame bringt es mir bei. Nun verbindet sie mich mit meinem Fahrradfahrer-Freund Ed aus Albuquerque, den ich unbedingt anrufen soll. Um diesen Anruf hat er heute in seinem Email gebeten.
Ed fragt nach meiner Reiseroute der nächsten Tage. Nachdem ich ihm die Orte und Straßen-Nummern gesagt habe, meint er, dass meine vorgeschriebene Tour durch lauter Geisterorte und über hohe Berge führt. Ich soll eine andere Strecke fahren. Und die will er jetzt der Empfangsdame diktieren. Ich soll ihr nun den Hörer geben und mir nachher von ihr die Route abholen. Er kann sich nicht mit mir treffen, weil er ca. 400 km entfernt im Norden wohnt. M.E. ist das auch nicht zumutbar. Aber er will mir immer vorher per Email schreiben, wohin ich fahren soll und mir somit eine leichtere und kürzere Strecke beschreiben.
Ich freue mich, dass ich diesen guten Freund habe.
Meine Wirtin übergibt mir einen Zettel, auf dem sie die Streckenführung festgehalten hat, die ihr Ed diktierte. Doch schaut sie mich sehr bedeutungsvoll an und erklärte mir:
„Dieser Weg, den sie morgen fahren sollen, ist aufgrund eines schweren Unfalls gesperrt. Durch den Straßenzustandsbericht kam vorhin die Nachricht, dass dort heute Vormittag zwölf Autos im Orkan aufeinander geprallt sind. Fragen sie morgen früh noch mal bei mir nach, ob die Strecke dann schon wieder für den Straßenverkehr freigegeben ist.“
Ich wandere zurück in mein gemütliches Zimmer und lege mich auf mein herrlich weiches, breites Bett und breite meine Arme und Beine wohlig aus. Das kann ich in meinem kleinen und schmalen Zelt nie. Ich lasse den Tag Revue passieren. Erst jetzt kommt mir zum Bewusstsein, dass ich ohne den Pick-up-Fahrer allein auf freier Strecke vom Blizzard überfallen worden wäre. Da wäre bestimmt ein großes Unglück geschehen. Glücklicherweise wurde mir Robert, so heißt er, zeitig genug als Schutzengel geschickt. Vielen Dank.
In meiner unvorhergesehenen freien Zeit schreibe und lese ich auf meinem Bett. Endlich kann ich mich gründlich ausruhen.