Читать книгу Allgemeines Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsschutz - Holger Weidemann - Страница 31
3.6.3Bedeutung der Verwaltungsvorschriften im Außenverhältnis; Selbstbindung der Verwaltung
Оглавление60Zahlreiche Verwaltungsvorschriften wenden sich ihrem Inhalt nach nicht nur an Bedienstete (wie z. B. eine allgemeine Dienstanweisung), sondern betreffen tatsächlich auch das Verhältnis der Verwaltung zum Bürger. Insb. sind hier die gesetzesauslegenden Verwaltungsvorschriften, Ermessensrichtlinien und Subventionsrichtlinien zu nennen.
Verwaltungsvorschrift – Bindungswirkung (Übersicht)
Organisations- und Dienstvorschriften | Ermessenslenkende VwV | Norminterpretierende VwV | Normkonkretisierende VwV | |
Inhalt | Organisation und verwaltungsinterne Abläufe | Vorgaben zur einheitlichen Ausübung von Ermessensspielräumen | Auffassung der Verwaltung zur Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe | Ausfüllen unbestimmter Rechtsbegiffe bzw. offener Tatbestand aufgrund besonderer gesetzlicher Ermächtigung |
Wirkung | Keine Außenwirkung | Mittelbare Außenwirkung | Keine Außenwirkung | Unter bestimmten Voraussetzungen unmittelbare Außenwirkung |
Vertiefung | RdNr. 55, 60 | RdNr. 63 ff. | RdNr. 61 | RdNr. 62 |
61Gesetzesauslegende Verwaltungsvorschriften interpretieren unbestimmte Rechtsbegriffe, enthalten also Richtlinien zur Auslegung eines Tatbestandsmerkmals. Solche Verwaltungsvorschriften wirken sich zwar auf das Verhältnis zum Bürger aus, haben aber rechtlich für das Außenverhältnis gleichwohl keine Bedeutung, weil maßgebend allein das Gesetz ist. Entsteht Streit über die richtige Auslegung, muss das Verwaltungsgericht entscheiden. Gesetzesauslegende Verwaltungsvorschriften haben deshalb nur verwaltungsinterne Wirkung mit der Folge, dass es auf die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes, der in Anwendung der Verwaltungsvorschrift erlassen wurde, keinen Einfluss hat, ob die Verwaltungsvorschrift beachtet wurde oder nicht.
Beispiel:
Nach § 4a I TierSchG darf ein warmblütiges Tier nur geschlachtet werden, wenn es vor Beginn des Blutentzugs betäubt worden ist. Von diesem Grundsatz formuliert Abs. 2 Ausnahmen. Nach § 4a II Nr. 2 TierSchG darf die zuständige Behörde für ein Schlachten ohne Betäubung (Schächten) eine Ausnahmegenehmigung erteilen, wenn es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu entsprechen, wenn zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen. Nr. 2 der VwV des Landes Niedersachen108 bestimmt nun, dass als berechtigter Antragsteller nach § 4 II Nr. 2 TierSchG nur Religionsgemeinschaften (Gruppe von Menschen, die eine gemeinsame Glaubensüberzeugung haben) und Personen, die selbst Angehörige dieser Religionsgemeinschaft, infrage kommen. Dagegen haben Schafhalterinnen und Schafhalter, die z. B. für ihre Kundinnen und Kunden Schafe schächten möchten, jedoch nicht selbst Angehörige einer entsprechenden Religionsgemeinschaft sind, keinen Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 4a II Nr. 2 TierSchG.
Aus gesetzesauslegenden Verwaltungsvorschriften kann sich nach der Rechtsprechung des BVerwG109 keine anspruchsbegründende Selbstbindung der Verwaltung ergeben.
62In welchem Maße den normkonkretisierenden VwV eine eingeschränkte unmittelbare Außenwirkung zukommt, wurde in der Vergangenheit kontrovers in der Fachwelt diskutiert. Wenig strittig war aber, dass diesen VwV eine herausgehobene Bedeutung zukommt. Im Rahmen des technischen Sicherheitsrechts hat das BVerwG zunächst mit der Rechtsfigur des sog. „antizipierten Sachverständigengutachtens“ gearbeitet.110 Nunmehr neigt die Rechtsprechung111 dazu, unter bestimmten Voraussetzungen davon auszugehen, dass diesen VwV eine unmittelbare Außenwirkung zukommt. So beschränkt das Gericht den Anwendungsbereich auf das Umwelt- und Technikrecht. Zudem muss die normkonkretisierende VwV höherrangige Gebote und Wertungen beachten. Zudem muss diese VwV in besonderen Verfahren unter Mitwirkung von sachverständigen Kreisen ergehen. Auch darf sie den Erkenntnisfortschrift in Wissenschaft und Technik nicht außer Acht lassen.112
Bisher hat das Gericht es offengelassen, ob hinsichtlich der Verbindlichkeit ein Unterschied zwischen einer normkonkretisierenden VwV und einer VwV als antizipiertem Sachverständigengutachten besteht. Im Ergebnis dürfte kein großer Unterschied bestehen. Das Gericht sieht regelmäßig nur bei einem besonders gelagerten Ausnahmefall die Notwendigkeit zur Abweichung.113
63Anders ist es dort, wo die Behörde einen Ermessensspielraum hat und sich eigene Richtlinien für die Ausübung ihres Ermessens gegeben hat. Durch die Selbstbindung der Verwaltung wird praktisch die Außenwirkung begründet. Die Selbstbindung entsteht durch (1) die ständige Verwaltungspraxis und (2) den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 I GG). Die VwV sind dann Ausdruck der gleichmäßigen Verwaltungspraxis, die es verbietet, ohne sachlichen Grund114 von ihnen abzuweichen.115
Beispiel:
Die Stadt H will die Solarenergie fördern und verabschiedet eine Förderrichtlinie [keine Satzung]. Die Förderung beträgt maximal 5.000 € pro Antragsteller, sofern entsprechende Haushaltsmittel zur Verfügung stehen. In diesem Jahr wurden sieben Förderungsanträge gestellt. Es stehen ausreichende Fördermittel zur Verfügung. Die Stadt bewilligt sechs Anlagen und versagt dem letzten Antragssteller die Bewilligung mit dem Hinweis auf den Freiwilligkeitscharakter der Leistung und dem laufenden Streitverfahren über die Kanalausbaubeiträge. Diese Entscheidung ist fehlerhaft, da sie dem Gleichheitsgrundsatz widerspricht.
Dem Bürger ist es jedoch verwehrt, sich mit Erfolg auf eine Verletzung der VwV zu berufen. Er kann aber geltend machen, dass die Abweichung von der ansonsten angewandten VwV zu einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz führt. Damit führt nicht die VwV, sondern deren Anwendung zur Außenwirkung.
64Eine den Verwaltungsvorschriften entsprechende Verwaltungsübung braucht aber nicht unbedingt vorzuliegen. Eine Selbstbindung der Verwaltung wird nämlich bereits in dem Erlass einer Verwaltungsvorschrift gesehen mit der Folge, dass bereits im ersten Anwendungsfall nach der Verwaltungsvorschrift zu verfahren ist.
Beispiel:
Der Rat einer Stadt beschließt, bis zu 10.000 € Baukostenzuschuss im Einzelfall an Bauherrn zu zahlen, die alte Bausubstanz sanieren. Ziel ist es, ortsbildprägende Gebäude zu erhalten. Zugleich werden entsprechende Richtlinien für die Verwaltung verabschiedet und im Haushaltsplan Mittel bereitgestellt. Der erste Antragsteller, der die Voraussetzungen für einen Baukostenzuschuss erfüllt, hat aus Art. 3 GG i. V. mit der Verwaltungsvorschrift Anspruch darauf, dass er ihm gewährt wird.
65Wenn auch die Verwaltungsvorschriften allein keinen Rechtsnormcharakter haben, so sind sie doch wegen ihrer verwaltungsinternen Bindungswirkung sozusagen vorweggenommene Verwaltungsübung und unterstehen als solche dem Gleichheitssatz. Dieser verbietet es, von der vorweggenommenen Verwaltungspraxis – also hier von der Verwaltungsvorschrift – wegen der Gleichbehandlung aller abzuweichen. Es tritt daher eine Selbstbindung der Verwaltung nicht nur durch gleichmäßige Anwendung einer Verwaltungsvorschrift (= Verwaltungsübung), sondern – über Art. 3 GG – durch die Verwaltungsvorschrift selbst ein. Dadurch entsteht eine ähnliche Bindungswirkung wie bei Rechtsnormen. Die Selbstbindung des Ermessens durch Verwaltungsvorschriften geht jedoch nicht so weit, dass sie jegliche Ermessensausübung beseitigt, denn Verwaltungsvorschriften sind nicht stets verbindlich; von ihnen kann, sofern die besonderen Umstände des Einzelfalls dies rechtfertigen, abgewichen werden, ohne dass sie zuvor entsprechend geändert werden müssten. Weicht die tatsächliche Verwaltungspraxis dagegen von der vorhandenen VwV ab, so ist die geübte Verwaltungspraxis maßgeblich.116
Auch hat der Bürger keinen Anspruch auf Gleichbehandlung, wenn eine Verwaltungsentscheidung aufgrund einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis getroffen wurde oder aber die vorhandene VwV im Widerspruch zur Rechtsordnung steht. Es gibt keinen Anspruch auf Fehlerwiederholung („keine Gleichheit im Unrecht“).117
66
66aBeachte:
Im Gegensatz zu Rechtsverordnungen, die delegiertes Außenrecht darstellen, handelt es sich bei übergreifenden VwV um administratives Innenrecht.118