Читать книгу Rayan - Im Auge des Sturms - Indira Jackson - Страница 19
November 2005 - Alessia - Ein völlig neues Leben
ОглавлениеVier Monate lang hörte Taib nichts mehr von Leila und erst recht nicht von Rayan. Er nahm an, dass der Scheich seine Nachricht entweder nie bekommen hatte oder es ihm egal gewesen war.
Der Anwaltsgehilfe konnte nicht leugnen, dass ihn das enttäuschte, doch im Laufe der Wochen verdrängte er die Thematik immer mehr, bis er sie ganz vergaß.
Die Wunden auf seinem Rücken waren inzwischen komplett verheilt und wie Rayan prophezeit hatte, blieben nur ganz wenige helle Striemen zurück, die er als Zeugnisse der Ereignisse, die ihm widerfahren waren, sein Leben lang tragen würde.
Trotzdem bereitete es ihm mehr psychische Probleme, als er sich eingestehen wollte. Obwohl er nichts für die Vernarbungen konnte, fühlte er sich verstümmelt. Wo er früher durchaus einem Flirt nicht abgeneigt gewesen war, hielt er sich nun zurück.
Auch die Ereignisse selbst machten ihm noch fast jede Nacht zu schaffen. Er träumte von Sara, ihrem ungeborenen Kind und den Banditen, die ihn verschleppt und gequält hatten. Mitten in der Nacht wachte er schweißgebadet auf, tagsüber war er entsprechend müde und fühlte sich zerschlagen, als hätte er die halbe Nacht gekämpft.
Er hatte gleich am Tag nach seiner Rückkehr wieder seine Arbeit bei Raschid Aziz aufgenommen. Obwohl der ihn hatte heimschicken wollen, bestand Taib darauf, sich durch die Tätigkeit in der Kanzlei abzulenken.
Es war bereits Anfang November, als Raschid mit einem Umschlag das Büro betrat, den er soeben in der Post gehabt hatte und den er aufgeregt noch im Stehen an seinem Schreibtisch öffnete. Einige Minuten lang sichtete er die Unterlagen, dann setzte er sich mit offenem Mund hin und sagte eine Weile nichts mehr.
Taib, der das eigenartige Verhalten seines Chefs beobachtet hatte, fragte ihn stirnrunzelnd, was denn passiert sei? Woraufhin Raschid ihn anstarrte und erst einmal nach Worten rang: „Er hat es wirklich geschafft! Sieh‘ dir das an!“ Erwartungsvoll reichte er ihm den Umschlag.
Im ersten Moment konnte Taib nicht einordnen, was er da in Händen hielt. Dann las er den Namen, der auf allen Dokumenten aufgeführt war: „Taib Riad“ - Riad? Er erkannte natürlich seinen Vornamen, aber bis dato hatte er nie einen Familiennamen gehabt.
Vor allem an einer der Urkunden blieb sein Blick schließlich haften: Die Abschrift einer Geburtsurkunde – SEINER Geburtsurkunde?! Anders konnte es nicht sein. Das Alter kam auf jeden Fall hin, auch wenn er seinen genauen Geburtstermin nicht kannte. Und die Namen der Eltern! ER hatte Eltern? Natürlich war ihm klar, dass jemand ihn geboren haben musste, aber er hatte sich so lange auf der Straße als wertlose Missgeburt ohne jegliche Abstammung behaupten müssen, dass ihm der Gedanke völlig abstrakt vorkam.
Tränen traten Taib in die Augen – sollte das wirklich die Wahrheit sein?
Eilig und ein wenig verlegen wischte er sich das Gesicht ab und sah sich das nächste Dokument an: Es handelte sich um einen alten Polizeireport aus dem Jahr 1981, der vom Überfall auf eine Karawane berichtete. Die meisten Teilnehmer waren brutal ermordet und beraubt worden. Nur einige wenige Personen überlebten. Andere konnten nie gefunden werden, darunter ein zweijähriges Kind, dessen Eltern und Schwester unter den Opfern gewesen waren.
Man nahm an, dass die Banditen die verschwundenen Menschen verschleppt hatten, um sie auf irgendwelchen Märkten zu verkaufen.
Er betrachtete fasziniert das Datum auf der Geburtsurkunde: 06.06.1979!
Doch noch zwei weitere Dokumente waren in dem Umschlag: ein Reisepass, der auf seinen Namen ausgestellt war. Wie konnte das sein?
Raschid sah ihm nun über die Schulter und räusperte sich verlegen. „Da hatte ich die Finger im Spiel, ich habe das Foto von deinem Zugangsausweis für die Eingangstüre zur Kanzlei genommen. Und deine Unterschrift von einem unserer Fälle kopiert … nicht ganz legal, ich weiß …“
Taib war blass geworden, der volle Umfang der Bedeutung dieser Daten und Unterlagen wurde ihm erst jetzt bewusst: Er war kein Straßenkind mehr, kein Heimatloser! Er hatte einen Namen, eine Familie – einen Stammbaum! Auch wenn seine Verwandten alle tot waren, es gab ihm ein ganz anderes Selbstwertgefühl. Einen Moment lang schien sich alles um ihn zu drehen – wie konnte dieses Wunder geschehen?
Plötzlich sprang er auf und nahm Raschid so fest in den Arm, dass dieser keine Luft mehr bekam und nach einigen Sekunden begann, zu protestieren. „Hey! Ist ja gut, du bringst mich um!“, doch er lachte dabei, weil er sich sehr zusammen mit Taib freute.
„Außerdem hast du das Beste ja noch gar nicht gesehen! Los schau dir den Rest der Papiere an“, forderte er seinen Schützling auf.
Der machte mit zitternden Fingern den Umschlag ganz leer. Da war ein Brief, der in englischer Sprache verfasst war. Zwar hatte er dank Raschid einigermaßen Englisch gelernt, doch war der Zusammenhang zu unglaublich, als dass er ihn auf Anhieb hätte erfassen können. Hilfesuchend wandte er sich an den Anwalt.
Schmunzelnd las ihm dieser die relevanten Zeilen vor: „… freuen wir uns, Ihnen mitzuteilen, dass wir Herrn Taib Riad ab Februar 2006 in unserer Institution aufnehmen werden … gezeichnet: Harvard University, Cambridge, Massachusetts“
Taib verstand noch immer nur Bahnhof.
Raschid hatte schließlich Mitleid mit ihm, offenbar waren die vielen guten Nachrichten auf einmal, doch zu viel für ihn: „Hör zu Junge: Du darfst studieren gehen! In Amerika! Jura – das war doch dein größter Traum, oder?“
„Aber wie soll das möglich sein? Ich bin doch hier noch nicht einmal auf eine ordentliche Schule gegangen? Und vor allem: Wie soll ich das schaffen? Ohne Vorbildung?!“
Wieder war Raschid ein wenig verlegen: „Naja hier mussten wir ebenfalls ein wenig improvisieren. Ehrlich gesagt hab ich mein altes Zeugnis genommen und ein wenig verschönert … die Daten verändert und so …Du bist jetzt also offiziell hier in Alessia auf die Schule gegangen. Und studierst außerdem bereits seit zwei Jahren …“, er zuckte ein wenig verlegen die Schulter. „Es ist schon erstaunlich, was man mit ein wenig Kreativität, vor allem aber mit viel Einfluss und sehr vermutlich auch mit einer großen Stange Geld erreichen kann …“
Auf einmal war Taib misstrauisch. „Was haben Sie eben gesagt? ‚Einfluss und viel Geld‘?! Wer sollte für mich etwas ausgeben wollen? Und vor allem: Was will derjenige dafür als Gegenleistung?“
Er sah einen Moment lang aus, als wolle er den gesamten Umschlag in den Mülleimer werfen.
Doch Raschid legte ihm die Hand auf die Schulter: „Jetzt beruhige dich erst einmal wieder! Niemand will etwas von dir. Eigentlich sollte ich dir noch nicht einmal verraten, dass nicht ich es war, der dieses Wunder vollbracht hat …“
Taib sah seinen Boss noch immer verwirrt an, bis ihm ein Verdacht kam, der ihm das Blut in die Wangen trieb: „Jetzt sagen Sie mir nicht, dass der Scheich damit zu tun hat …?!“
Als Raschid nickte, fragte Taib nochmals: „Aber er muss doch etwas dafür wollen?“
Doch der alte Anwalt versicherte ihm: „Das hab ich ihn auch gefragt, aber er hat mich versprechen lassen, seinen Namen komplett herauszuhalten. Kein Wort sollte ich dir verraten, dass er es war, der das Ganze eingefädelt hat ... Glaub mir! Anfangs war ich auch misstrauisch, aber mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass seine einzige Absicht war, dir zu helfen. Tut mir leid, anders kann ich dir das nicht erklären.“
„Ich muss mit ihm sprechen!“, rief Taib nun fast wütend aus. „Was fällt ihm ein, sich derart in meine Angelegenheiten zu mischen?“
Und er rannte aus dem Büro und ließ den verdutzten Anwalt einfach stehen.