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VIII. Beschleunigungsgrundsatz
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Jeder Gerichtsprozess benötigt eine gewisse Dauer. Eine überlange Verfahrensdauer verstößt allerdings gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes, das in Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip und in Art. 6 EMRK verankert ist.[43] Der Beschleunigungsgrundsatz (= die Konzentrationsmaxime) verpflichtet die Gerichte, den Rechtsstreit in angemessener Zeit beizulegen. Dies gelingt nicht immer. Beim LG Würzburg wurde beispielsweise ein Prozess über einen Zeitraum von 17 Jahren geführt![44] Der „Telekom-Prozess“ hat mittlerweile eine ähnliche Länge. Welche Prozessdauer von den Parteien verfassungsrechtlich zu „erdulden“ ist, hängt vom Einzelfall ab. Nach Auffassung des BVerfG sind die Natur des Verfahrens, die Bedeutung der Sache für die Parteien, die Auswirkungen der Dauer auf die Parteien, die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Parteien zuzurechnende Verhalten (z.B. Verfahrensverzögerungen) sowie Verfahrensverzögerungen durch Dritte, vor allem von Sachverständigen, zu berücksichtigen.[45] Allgemeingültige Zeitvorgaben (1 Jahr, 2 Jahre, 4 Jahre, 7 Jahre[46]) gibt es jedenfalls nicht.
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Der Rechtsschutz gegen eine überlange Verfahrensdauer ist nun in §§ 198 ff. GVG geregelt. Unbedingt lesen! Aufgrund zahlreicher höchstrichterlicher Entscheidungen ist diese Materie hochaktuell!
Bis 2011 gab es gegen „gerichtliches Trödeln“ keinen gesetzlichen Rechtsbehelf. Manche Instanzgerichte halfen mit einer sog. Untätigkeitsbeschwerde analog §§ 567 ff. ZPO.[47] Auf Drängen des EGMR[48] hat sich der deutsche Gesetzgeber der Materie angenommen. Die rechtlichen Möglichkeiten sind nun zentral in den §§ 198 ff. GVG geregelt. Verzögerungsrüge und Entschädigungsanspruch bilden den Kern der Reform. Arbeitet ein Gericht aus Sicht einer Partei zu langsam, muss die Partei als erstes eine Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 GVG) vor dem erkennenden Gericht erheben, um auf die (zu lange) Verfahrensdauer hinzuweisen. Durch die formelle Rüge soll der Richter aufgerüttelt werden und Abhilfe schaffen. Tut er das nicht, kann die betroffene Partei in einem zweiten Schritt (frühestens 6 Monate später = § 198 Abs. 5 S. 1 GVG) klageweise einen verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch geltend machen. Er umfasst materielle sowie immaterielle Nachteile (§ 198 Abs. 1, 2 GVG), die durch die unangemessen lange Dauer eingetreten sind. Was ist unangemessen? Nach § 198 Abs. 1 S. 2 GVG richtet sich die Angemessenheit nach dem konkreten Einzelfall. Statistische Durchschnittswerte haben deshalb keine Bedeutung.[49] Ziel eines Prozesses ist es, eine materiell richtige Entscheidung zu finden. Denn die zügige Erledigung ist kein Selbstzweck; die richterliche Unabhängigkeit verlangt, dass dem Gericht je nach Komplexität ein ausreichender Bearbeitungszeitraum zur Verfügung steht.[50] Daher führt nur eine unvertretbare Verfahrensführung, die sachlich überhaupt nicht mehr zu rechtfertigen ist, zu einem Verstoß gegen § 198 GVG;[51] dazu gehören auch strukturelle Mängel (unzureichende Personalausstattung). Zuständig für die Entschädigungsklage ist das OLG bzw. der BGH (§ 201 GVG). Der Anspruch richtet sich gegen die Anstellungskörperschaft (Bund, Land) des untätigen Richters (§ 200 GVG). Die Verzögerungsnachteile müssen endgültig feststehen; die Schadenshöhe kann geschätzt werden (s. auch § 198 Abs. 2 S. 3 GVG).[52] Daneben sind u.U. Amtshaftungsansprüche aus § 839 BGB möglich.[53] Eine Untätigkeitsbeschwerde ist aufgrund der neuen Rechtslage nicht (mehr) statthaft.[54]
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In der ZPO sind zusätzlich verschiedene Vorschriften enthalten, die helfen sollen, den Prozess zu beschleunigen. Nach § 272 Abs. 1 ZPO ist der Prozess in einem einzigen mündlichen Verhandlungstermin, der möglichst früh angesetzt wird (§ 272 Abs. 3 ZPO), zu erledigen. Räumungsprozesse müssen seit 2013 vorrangig und besonders zügig behandelt werden (§ 272 Abs. 4 ZPO). Das Gericht ist nach § 273 Abs. 1, 2 ZPO gehalten, den Prozess effektiv vorzubereiten. Im Termin soll es von seiner materiellen Prozessleitung nach § 139 ZPO Gebrauch machen und durch gezielte Fragen das Verfahren vorantreiben. Die Parteien wiederum müssen ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel nach § 282 Abs. 1 ZPO rechtzeitig vorbringen. Bei einem Verstoß gegen die Prozessförderungspflicht kann das Vorbringen der Partei nach § 296 Abs. 1 ZPO präkludiert werden.
2. Teil Erkenntnisverfahren › B. Verfahrensgrundsätze › IX. Anspruch auf ein faires Verfahren