Читать книгу Li - Isabella Maria Kern - Страница 10
Li ist tot
ОглавлениеEndlich war Sonntagmorgen. Peter setzte sich im Bett auf. Was hatte er da nur geträumt? Li im weißen Kleid. Er musste lächeln. Dieses arme Kind würde bald wieder über eine Blumenwiese laufen und hoffentlich bald ihren Schmerz vergessen und normal weiterleben können. Peter sah auf die Uhr. Knapp nach neun. Jetzt konnte er Klara bestimmt schon anrufen. Er wählte. Doch niemand nahm das Gespräch an. Peter machte Frühstück. Das Wochenendfrühstück war das einzige Essen, das er genießen konnte. Er machte einen starken Espresso, schäumte sich Milch dazu auf, um einen schönen Cafelatte zu bekommen, presste frische Orangen aus, machte Spiegelei und röstete zwei Scheiben Speck. Dann holte er vom Bäcker frisches Korngebäck und kaufte eine Zeitung. Doch noch ehe er sich zu Tisch setzte, musste er alles abwaschen, denn er konnte es nicht ausstehen, wenn die Orangen- und Eierschalen herumlagen und der Milchschäumer in der Spüle stand, an dessen Metall sich dicke, gelbe, klebrige Milchränder bildeten. Feinsäuberlich wusch und trocknete er alles ab und räumte das Geschirr an seinen Platz. Erst dann konnte er sich zu Tisch setzten und genießen. Er hatte einen großen Hunger, weil er am Abend schon wieder vergessen hatte, Nahrung zu sich zu nehmen und das Geschirr war ihm ausnahmsweise egal. Sollten sich doch Ränder bilden!
Er drehte sich kurz um, lächelte den Milchschäumer an, setzte sich an den Tisch und schlug die Zeitung auf. Irgendetwas war mit ihm passiert, stellte er fest. Er hatte plötzlich nicht mehr den Zwang, alles sauber und ordentlich zu halten. Er wusste, dass es eine psychische Zwangsstörung gewesen war. Egal. Es gab Wichtigeres. Eine Stunde später rief er seine Schwester erneut ein. Es war jetzt zehn. Noch immer meldete sich niemand. Er wurde zunehmend ungeduldiger. Peter fluchte und schlug die Zeitung zu. Beim Blick zur Spüle überkam ihn ein Gefühl der Abneigung. Er hatte keine Lust abzuwaschen, sollte doch dieses blöde Geschirr noch etwas warten und der ganze Dreck eintrocknen! Wieder tippte er die Nummer seiner Schwester und diesmal meldete sie sich: „Hallo Peter. Ich wollte dich gerade anrufen.“
„Hallo. Und? Hat dein Mann etwas erreichen können?“
Klara wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Sie hasste diesen Anruf. Eigentlich hatte sie das Telefon schon vor einer Stunde gehört. Doch sie wollte das Gespräch noch ein wenig hinausschieben. Aber nun musste sie es ihm wohl oder übel erzählen.
„Hör mal, Peter. Magst du nicht bei uns vorbeikommen?“, versuchte sie ihn zu überreden. Von Angesicht zu Angesicht sprach es sich einfach leichter als am Telefon. Er stieg nicht darauf ein.
„Warum soll ich vorbeikommen? Du willst bestimmt den Tag mit Theo verbringen und nicht mit mir. Was ist mit Li? Sag schon“, drängte er ungehalten. Klara versuchte es noch einmal.
„Aber du könntest doch mit uns essen. Ich habe genug eingekauft für das Mittagessen.“ Peter kapierte nun, dass sie ihm auswich. Es entstand eine Pause.
„Sie sind zu spät gekommen?“, Peter ahnte Schreckliches.
„Ja, es tut mir leid.“
„Sie war ein Kind“, sagte er, „und Klara. Ich hatte wirklich nichts mit ihr, das musst du mir glauben. Ich weiß nicht einmal, was ich dort wollte. Ich bin noch nie in ein Puff gegangen, ehrlich. Ich hätte mich immer dafür geschämt. Keine Ahnung, warum es so gekommen ist.“ Er raufte sich die Haare mit der rechten Hand, mit der linken hielt er krampfhaft das Handy an sein Ohr.
„Ich glaube dir, Peter. Aber es gibt noch etwas.“ Sie hielt die Luft an. „Was?“, wollte er wissen.
„Li hat einen Brief geschrieben. Er steckt in einem Umschlag, darauf steht „Peter“. Ich habe der Polizei noch nichts von dir erzählt. Aber ich glaube, er gilt dir.“
Peter war irritiert. Was konnte Li ihm denn schon geschrieben haben?
„Das heißt, ich müsste mit der Polizei reden, um diesen Brief zu bekommen?“, folgerte er richtig.
„Ich habe mich aber nicht strafbar gemacht, oder? Mit Li habe ich nicht geschlafen und mit sonst auch keiner“, betonte er.
„Wenn du diesen Brief haben willst, musst du dir aber bestimmt ein paar unangenehme Fragen stellen lassen. Mehr kann ich nicht für dich tun. Theo hat gesagt, dass dir nichts passieren kann.“ Peter überlegte eine Weile.
„Und was soll ich jetzt tun? Wie geht es weiter?“, fragte er.
Klara spürte, wie sich ihr Herz öffnete. Sie hatte jahrelang keine gute Beziehung zu ihrem Bruder gehabt. Er war immer griesgrämig und redete nicht viel. Nun merkte sie, wie bedürftig er war und dass sie ihm helfen konnte, damit er sich besser fühlte. Sie wusste nicht einmal, ob er Freunde hatte, die ihm beistehen konnten.
„Komm doch einfach vorbei. Theo weiß, wo die Polizei den Brief hat und wo du dich melden kannst. Mach schon. Es ist nicht weit. Dann bist du auch nicht allein.“ Normalerweise hätte ihn so ein rührseliges Getue auf die Palme gebracht. Doch er merkte, dass er jetzt wirklich nicht allein sein wollte. Dankbar nahm er an.