Читать книгу Li - Isabella Maria Kern - Страница 6

Peter bittet Klara um Hilfe

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Es war schon Mittag, als sich Peter auf den Weg machte, um zu dem Freudenhaus zu gehen, das er in der Nacht besucht hatte. Eine Gasse davor blieb er stehen. Was machte er bloß hier? Er konnte doch nicht einfach hineinmarschieren, Li bei der Hand nehmen und sagen, dass er sie mitnehmen und zu ihrer Familie zurückbringen wollte. Die würden ihn umgehend ermorden, oder zumindest zusammenschlagen. Aber Li ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie war ein Kind. Jemand musste doch helfen!

Peter hatte sich noch nie wirklich um jemanden Sorgen gemacht. Seine Anteilnahme an anderer Menschen Probleme hielt sich in Grenzen. Er war eigentlich sein Leben lang ein egoistisches, penibles Arschloch gewesen. Warum jetzt?, fragte er sich. Doch er spürte instinktiv, dass er in diesem Fall rasch handeln musste. Er konnte mit dieser Verantwortung nicht weiterleben und im Moment war ihm alles andere egal.

Es war Samstagmittag. Er hatte keinen Hunger, keinen Durst. Seine Gedanken drehten sich nur um Li. Doch hier konnte er nichts tun. Er brauchte einen Plan.

„Ich… ich werde immer für dich da sein, wenn du mich brauchst“, hörte er plötzlich die Stimme seiner Schwester. Das hatte sie ihm am Morgen gesagt. Mit diesen Worten hatte sie ihn geweckt. Aber warum eigentlich nicht? Vielleicht hatte sie eine Idee. Klara öffnete ihm erstaunt die Wohnungstür.

„Hallo, Bruderherz,“ sagte sie und trat zur Seite, um ihn herein zu lassen. Peter versuchte ein Lächeln, es gelang ihm aber nicht. Außerdem entmutigte ihn das strahlende Gesicht seiner Schwester. So fröhlich würde er nie aussehen können.

„Hi.“ Peter zog seine Schuhe aus und ging in die Wohnung. Mit einem Ruck drehte er sich plötzlich um und sah zu seinen Schuhen zurück, die er unordentlich auf der Fußmatte stehen gelassen hatte. So etwas war ihm noch nie passiert. Seit er aus der Pubertät war, hatte er für Ordnung gesorgt. Es war ihm wichtig, dass Schuhe parallel an dem für sie vorgesehenen Platz standen. Dass Mäntel und Jacken sofort auf Bügel aufgehängt werden mussten. Staub war ihm sowieso ein Gräuel. Alles musste geordnet und gestapelt sein. Alles in Reih und Glied. Wehe es war nicht so, dann fühlte er sich frustriert und zornig. Als er aber nun auf seine Schuhe zurücksah, war es ihm plötzlich egal. Er machte mit der Hand eine wegwerfende Bewegung, und schloss die Tür hinter sich. Klara machte ein erstauntes Gesicht. Doch sie sagte nichts. Peter setzte sich an den Küchentisch. Die Schuhe beschäftigten ihn noch immer, aber er fühlte sich auf seltsame Weise erleichtert. Es drängte sich ihm sogar ein Lächeln in sein Gesicht. War doch im Grunde völlig egal, wie diese Schuhe standen. Klara fiel diese Veränderung auf. Vorsichtig tastete sie sich an ihren Bruder heran. Sie wusste, dass sie ihn mit Glacéhandschuhen anfassen musste, um etwas von ihm zu erfahren.

Ein einziger falscher Satz von ihr konnte ihn sofort wieder in die Flucht schlagen. Also ließ sie keine Bemerkung über seine Schuhe fallen. Peter saß unentschlossen da. Er wusste noch immer nicht, ob er ihr sein nächtliches Erlebnis erzählen sollte. Er sah sich um. „Wo ist Theo?“, fragte er.

„Theo macht heute Überstunden. Er hat einen kniffeligen Fall an der Angel. Die Staatsanwaltschaft setzt ihm schwer zu. Nächste Woche ist eine wichtige Verhandlung. Er muss sich gut vorbereiten und ist wieder ins Büro gefahren. Ich möchte ihn am Nachmittag zu einem Spaziergang abholen. Vielleicht kann ich ihm auch helfen. Aber Theo hat viel mehr Erfahrung als ich. Schließlich bin ich erst seit zwei Jahren in dieser Branche.“

Theo betrieb gemeinsam mit einem Kollegen eine Anwaltskanzlei im ersten Wiener Gemeindebezirk. Seine Frau war auch ein Teil dieses Teams. Doch sie hatte von Anfang an nicht den Ehrgeiz, mehr als 40 Stunden im Büro zu sitzen. Klara verteidigte ihre Freizeit. Peter nickte. Gott sei Dank. Er konnte sich also seiner Schwester getrost anvertrauen. Sie waren allein. Klara spürte instinktiv, dass er etwas auf dem Herzen hatte. Abgesehen davon, hatte er sie noch nie einfach ohne Grund besucht. Ohne formelle Einladung zu einem Essen oder zu einer Familienfeier war er noch nie bei ihr erschienen. Sie musste es vorsichtig angehen.

„Magst du etwas trinken? Bier?“ Peter schüttelte den Kopf. Keinen Alkohol. „Ein Glas Wasser bitte.“

Auch das fand Klara seltsam. Er hatte sich verändert. Aber warum? Sie holte einen großen Krug Wasser und zwei Gläser aus der Küche und stellte alles auf dem Tisch ab. Er goss sich ein und trank gierig.

„Hast du schon etwas gegessen?“, fragte sie fürsorglich.

Peter schüttelte erneut den Kopf.

„Ich habe noch ein wenig Gemüsesuppe von gestern Abend. Magst du?“, bot sie ihm an. Ihm war bis jetzt nicht aufgefallen, dass er an diesem Tag noch nichts gegessen hatte. Er nickte. Klara stellte einen Teller Suppe in die Mikrowelle, nahm nach einer schier endlos erscheinenden Minute die Brühe heraus und setzte sich mit dem Essen zu ihm.

„Möchtest du mir etwas erzählen?“, Klara ging in die Offensive. Peter schlürfte die Suppe. Er dachte nach. Wo anfangen? Er sah Klara unverwandt an. Sie hatte eigentlich ein sehr liebes Gesicht. Ihre freundlichen blauen Augen gaben ihm Sicherheit. Ihre blonden Locken hatte sie mit einem Haarband nach hinten gebändigt. Sie hatte ihre Haare nie besonders gemocht. Lieber hätte sie glatte Haare gehabt, wie ihre Freundinnen. Doch je älter sie wurde, desto mehr schätzte sie ihre Naturlocken. Eigentlich sah sie aus wie ein Engel. Peter musste schmunzeln. Sie war nicht besonders schlank, aber auch nicht dick. Und sie war eine der wenigen Frauen die Peter kannte, die nicht ständig mit ihrer Figur haderten. Klara war rundum zufrieden. Liebevoll sah sie ihn an und wartete. „Hmhm.“ Peter nickte. Er hatte außer seiner Schwester ohnehin niemanden, dem er sein Herz ausschütten konnte, stellte er bitter fest. Also holte er tief Luft.

„Klara. Du bist die Einzige, der ich es erzählen kann.“ Wieder machte er eine Pause. Klara wartete geduldig. Nach etwa zehn Minuten war Klara in sein Geheimnis eingeweiht. Sie hatte die ganze Zeit geschwiegen. Peter hatte dreimal betont, dass er Li nicht berührt hatte. Es war ihm wichtig, dass Klara nicht dachte, er hätte sich an dem Mädchen vergriffen. Als er zu Ende gesprochen hatte, sah er Klara gespannt an. Nach Manie der Anwälte, formulierte Klara zuerst in ihrem Kopf die Worte, ehe sie sagte:

„Wir müssen uns etwas einfallen lassen.“

Peter war enttäuscht über diese Worte, denn er hatte ein Plädoyer seiner Anwaltsschwester erwartet. Aber diese schien im Moment nicht schlauer zu sein als er. Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander in der Küche. Dann wurde Klara die Tragweite seiner Geschichte erst so richtig bewusst.

„Mein Gott. Das arme Ding. Was sie mitmachen muss. Ich kann mir das gar nicht vorstellen!“, rief sie aus. Peter dachte über ihre Worte nach, dann sprangen seine Gedanken weiter zu Beatrice. „Diese Beatrice. Sie war ungefähr dreißig. Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass sie unglücklich in ihrem Job ist. Meinst du, dass sie auch einmal so wie Li angefangen hat, oder meinst du, sie hat es freiwillig getan? Vielleicht hat sich auch sie nur ihrem Schicksal gefügt.“

„Ich weiß nicht. Bis jetzt habe ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht. Ich dachte schon, dass es die meisten Frauen freiwillig tun. Das ist ihr Job. Im Fernsehen habe ich einmal ein Interview mit einer Prostituierten verfolgt, die sagte, dass es ihr Traumjob wäre und dass sie sie als Ärztin nicht so viel verdienen könnte“, meinte Klara. Peter graute. Er musste immer wieder an den dicken Kerl denken. Wie viele Betrunkene und stinkende Typen mussten diese Mädchen über sich ergehen lassen. Unhygienische Männer, die ihre schwitzenden Leiber an ihnen rieben. Peter lief es kalt über den Rücken. Es war demütigend.

Aber auch er war in der letzten Nacht bereit gewesen, eine Frau zu demütigen. Nur um sich an ihr abzureagieren. Peter schämte sich. Im Grunde suchte er Wärme und Zuneigung. Klara kramte plötzlich in einer Schublade. Sie holte eine kleine Schachtel hervor. In dieser hatte sie feinsäuberlich hunderte von Visitenkarten gesammelt. Im Laufe der Zeit, und vor allem während ihres Studiums hatte sie eine Menge Menschen kennengelernt, wo sie glaubte, dass sie deren Hilfe irgendwann einmal in Anspruch nehmen könnte. Es waren auch viele Geschäftsleute darunter, die sich erhofften einem Anwaltsehepaar teure Sachen verkaufen zu können. Klara wusste nicht genau wonach sie suchte, aber sie hatte das Gefühl, diese kleine Schachtel könnte ihnen helfen.

„Moment!“, rief sie und hielt inne. „Theo hat Kontakt zum Polizeipräsidenten. Der könnte doch jemanden vorbeischicken, um das Mädchen herauszuholen.“

„Und was geschieht dann mit ihr?“, wollte Peter wissen.

„Ich nehme an, dass sie in ihre Heimat zurückgeschickt wird,“ antwortete sie, wenig überzeugend.

„Wenn nicht?“, fragte Peter kleinlaut.

„Kann ich mir nicht vorstellen.“ Klara schüttelte energisch ihre blonden Locken. Peter dachte nach.

„Aber wenn du das Theo erzählst, dann weiß er genau, dass ich dort gewesen bin. Ich schäme mich dafür.“ Peter schob, trotzig wie ein Kind, die Unterlippe nach vorne. Klara überlegte.

„Das muss ich ihm ja gar nicht sagen.“

„Und woher weißt du dann, dass eine fünfzehnjährige Vietnamesin in diesem Puff arbeitet?“ Sein Blick hatte etwas Widerwärtiges. Klara zuckte abermals mit den Achseln.

„Ein Bekannter hat es mir erzählt? Theo ist nicht neugierig. Wenn ich sage, dass ich es ihm nicht erzählen kann, dann akzeptiert er so etwas für gewöhnlich.“

„Wenn sie sie aber verstecken?“

Peter fühlte sich krank vor Sorge. Er war nervös. Alles ging ihm zu langsam. Eigentlich hätte schon vor einer Stunde jemand Li retten sollen, meinte er. Jede Minute zählte.

„Am Montag wird Theo Kontakt mit der Polizei aufnehmen. Der Staatsanwalt wird auch Bescheid wissen wollen. Ich sage ihnen, dass ich einen anonymen Anruf bekommen habe, einverstanden?“ Peter schüttelte energisch den Kopf.

„Montag ist zu spät. Bitte ruf ihn gleich jetzt an.“ Klara runzelte die Stirn.

„Du bist sehr nervös. Sie ist doch bestimmt schon seit Wochen oder Monaten dort. Auf einen Tag mehr oder weniger wird es wohl nicht ankommen.“

„Doch!“ Peter dachte wieder an den ekelhaften Fettsack. Keiner durfte ihr mehr weh tun. Klara sah die Verzweiflung in Peters Augen. Sie griff zu ihrem Handy und wählte die Nummer ihres Mannes.

„Theo, hallo Schatz. Ich brauche deine Hilfe.“

Li

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