Читать книгу Li - Isabella Maria Kern - Страница 16
Beatrice im Wandschrank
ОглавлениеBeatrice lag auf ihrem Bett und weinte. Der Kopfpolster wies feuchte Flecken auf und neben dem Bett am Boden lagen mindestens ein halbes Dutzend benützter Taschentücher. Vergangene Nacht hatte die Türglocke mindestens fünfzig Mal geläutet. Anscheinend war das „La Nuit“ nun bekannter und interessanter als je zuvor. Es war paradox. Der Selbstmord einer Prostituierten wirkte wohl animierend auf manche Menschen. Neugierde? Perversion? Beatrice hielt sich die Ohren zu und fiel irgendwann erschöpft in einen unruhigen Schlaf.
Am Morgen schien die Sonne zum Fenster herein. Es war ganz still. Die anderen Mädchen hatten noch am Abend das Haus verlassen. Beatrice war allein. Sie hatte lange überlegt, wohin sie gehen sollte, doch in ihrer Verzweiflung wollte ihr nichts einfallen. Sie hatte sich noch nie in ihrem Leben ein Hotelzimmer genommen und besaß obendrein nicht viel „normale“, anständige Kleidung. Nur eine Jeans und den dunklen Rollkragenpullover, den ihr Mario vor Kurzem gekauft hatte. Alle anderen Sachen waren auffallend heiß, und vor allem sexy, sehr sexy. Beatrice erhob sich schwerfällig. Jeder Muskel tat ihr weh. Sie war verspannt, fühlte sich wie gerädert. Ein Blick in den Spiegel bestätigte ihr die tiefen Augenringe, die sie zu haben vermutete. Dann ging sie zum einzigen Stuhl im Raum, über dem achtlos die Jeans und der Pullover hingen. Sie zog sich an und ging zum Fenster. Unten standen ein paar Menschen, steckten die Köpfe zusammen und diskutierten heftig. Einer der Gruppe sah zu ihr hinauf, als sie den Vorhang zur Seite schob. Er stieß die anderen an, und schon sah die ganze Gruppe zu ihr hinauf. Beatrice riss heftig am Vorhang, der einen knackenden Laut von sich gab, vermutlich hatte der Stoff an einer Stelle etwas Schaden genommen, und sprang rückwärts vom Fenster weg. Wie ein verwundetes Tier rollte sie sich auf dem Bett zusammen und fing erneut an zu weinen.
Nach einer Weile, als die Tränen wieder versiegt waren, merkte sie, wie groß ihr Hunger war. Sie stand auf und ging zur Tür. Es kostete sie eine große Überwindung sie zu öffnen und den Raum zu verlassen, der ihr einen gewissen Schutz bot. Einen Moment blieb sie stehen und sah zu der offenen Tür hinaus. Neben ihr war Lis Zimmer, das von der Polizei mit gelben Bändern versiegelt worden war. Niemand durfte den Raum betreten und Beatrice wollte das auch gar nicht. Sie wollte das Blut auf keinen Fall ein zweites Mal sehen. Wie hatte sie sich nur so furchtbar umbringen können! Bei diesem Gedanken drang der Geruch des gestockten Blutes wieder in ihre Nase. Hätte sie doch dieses Schwein von Erwin nicht mehr zu ihr gelassen. Vielleicht wäre sie dann noch am Leben. Und vielleicht hätte ihnen dann dieser Peter geholfen. Es war ihre Schuld, ganz allein ihre Schuld! Sie hätte es verhindern können! Beatrice bekam eine Gänsehaut. Sie fühlte sich elend. Sie wollte nicht wissen was Erwin mit ihr angestellt hatte. Der war bestimmt auch untergetaucht, so wie Mario.
Sie hatten sie am Gewissen!
Beatrice stand nun am oberen Ende der Treppe und spähte vorsichtig hinunter ins Foyer. Von hier aus konnte man gut auf die Eingangstüre sehen. Eine breite, mit rotem Teppich ausgelegte Treppe führte zu dem langen Gang, in dem die Zimmer der Mädchen untergebracht waren. Das Geländer war aus aufwändig geschnitztem Holz und der Handlauf spiegelte fettig, von den geifernden Händen der keuchend und erwartungsvoll, emporsteigenden Freiern, poliert. Die Eingangshalle war bis oben offen und die rot-gold gestreifte Tapete war wohl mit ein Grund dafür, dass das Ambiente in einen alten Westernfilm gepasst hätte.
Beatrice schloss leise die Tür hinter sich, so als ob sie jemand hören könnte und schlich die Treppe hinunter, die unter ihren bloßen Füßen knarrte. Sie spürte den alten Teppich auf ihren blanken Fußsohlen. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass hier schon lange nicht mehr ordentlich geputzt worden war. Sie machte auf der Treppe kehrte und zog Schuhe an. Sie empfand Ekel für dieses Haus. Noch nie war dieses Gefühl so übermächtig gewesen. Wieder stand sie oben auf dem Treppenabsatz und zögerte. Der Aufenthaltsraum befand sich unten, gleich hinter der Bar. Alles kam ihr unheimlich vor. Viel zu ruhig. Nervös sah sie sich um, bevor sie eilig die Stufen hinunterlief, die Bar durchquerte und die Tür zu dem Aufenthaltsraum hastig öffnete und wieder hinter sich zuzog. Gierig nahm sie alles Essbare aus dem Kühlschrank heraus. Ein großer Laib Brot lag noch unberührt auf dem Tisch. Von einer Stange Salami schnitt sie eine dicke Scheibe ab und stopfte sie als Ganzes in den Mund. Der salzige Geschmack beruhigte sie ein wenig. Eine Scheibe Brot belegte sie mit Käse und nahm ein Gürkchen in die Hand, bei dem sie herzhaft abbiss.
Plötzlich hörte sie die Eingangstüre zuschlagen. Beatrices Herz blieb fast stehen. Leise stand sie auf und glitt fast lautlos in den hinteren Teil des Raumes, wo sich ein Kasten befand, in dem sie normalerweise die Kleidungsstücke aufbewahrten, die ihre Kunden vergessen hatten. Leise öffnete sie die Kastentür und kauerte sich hinein. Sie hörte Schritte. Jemand musste in der Bar sein.
„Beatrice!“
Es war eine Männerstimme, doch Beatrice erkannte sie nicht auf Anhieb. Die Kastentür dämpfte zusätzlich die Stimme aus dem Nebenraum. Noch einmal rief jemand.
„Beatrice! Melanie!“ Diesmal schrie er lauter.
Jetzt wusste sie, wem diese Stimme gehörte: sie kam von Erwin. Mario dieser Feigling musste ihn geschickt haben. Wieder rief er. „Melanie! Beatrice! Lucy?“
Er schrie noch lauter. Beatrice zitterte und hoffte, dass sich diese kleinen Muskelbewegungen nicht auf den Holzkorpus des Kastens übertragen und sie verraten würden. Dann öffnete er die Tür zum Aufenthaltsraum.
„Verdammt!“, fluchte er. Beatrice hielt den Atem an. Er schnaubte verächtlich und schlug die Tür wieder hinter sich zu. Sie hörte ihn die Treppe hinauflaufen. Sicher sah er jetzt in allen Zimmern nach. Beatrice bekam vor Angst kaum Luft.
Jedes Zimmer war leer. Die Mädchen hatten alle ihre Sachen mitgenommen. Sicher würde ihm auffallen, dass nur mehr ihre Habseligkeiten hier waren. Beatrice faltete die Hände:
„Lieber Gott! Falls es dich gibt, dann hilf mir, bitte! Lass ihn wieder verschwinden.“
Das Zittern hatte nun auch ihr Kiefer erreicht und sie hörte ihre Zähne unkontrollierbar aufeinander klappern, ohne sich dagegen wehren zu können. Erwin war in der Zwischenzeit in jedem Zimmer, außer dem von Li gewesen. Natürlich fiel ihm auf, dass alle Mädchen mitsamt ihren Sachen verschwunden waren. Nur in Beatrices Zimmer war alles beim Alten. Sie musste also noch irgendwo in der Nähe sein. Diese Schlampe! Wie konnte sie wagen, alle fortgehen zu lassen. Mario würde verdammt wütende sein. Er raste in das oberste Stockwerk. Beatrice hörte ihn schreien. Zweifellos hatte er jetzt bemerkt, dass die Mädchen nicht einfach so fortgegangen waren. Sie hatten alles was sie brauchen konnten mitgenommen. Sie hörte ihn wieder die Treppe herunterlaufen.
„Beatrice!“ hörte sie ihn brüllen. Sie hegte keinen Zweifel, dass sich jetzt ihr Zittern auf den ganzen Kasten übertrug.
„Bitte nicht!“ flüsterte sie.